REPORTER
Nr. 19 / 7.5.2022DER SPIEGEL 57
Lothar de Maizière,
Ehrenvorsitzender des Petersburger Dialogs
Ihr Mann sieht sie an, nickt. Er erzählt
Anek doten vom trägen Gorbatschow und vom
drängelnden Kohl, wir reden über die Stadt-
rundfahrt in Sankt Petersburg, die sie 2016
machten. Im Fabergé-Museum kannte de Mai-
zière jedes Ei. Wenn man eine Frage nach der
Gegenwart stellt, zum Beispiel nach der Anne-
Will-Talkshow am Abend zuvor, in der Marie-
luise Beck, die mit ihm im Petersburger Dialog
sitzt, militärische Unterstützung für die
Ukraine forderte, schaut de Maizière einen
lange an. Dann sagt er: »Antibolschewismus
ist zu Antikommunismus geworden und der
zu Antirussismus.«
Er nuschelt die langen Wörter weg, so wie
er es immer getan hat. Damals, 2016 in Sankt
Petersburg, lief der kleine, feine Mann so
gebeugt über die riesige Gedenkstätte für die
Opfer der deutschen Belagerung Leningrads,
als trüge er ein Kreuz.
Seine alte Mitstreiterin Angela Merkel hat-
te ihm nicht persönlich gesagt, dass seine Zeit
vorbei war. Sie schickte ihren außenpoli-
tischen Berater Christoph Heusgen. Später,
als er erfuhr, dass es Pofalla war, der ihn
ersetzen würde, sagte de Maizière der Kanz-
lerin: »Pofalla? Der kann doch gar kein Rus-
sisch, Angela.«
Sie sagte: »Aber er hat mir eine Wahl ge-
wonnen.«
Am Nachmittag erklärt Ronald Pofalla in
seinem Berliner Turm, dass die Gräber von
Butscha die Vorstellung darüber, ob der Pe-
tersburger Dialog irgendwann einmal fort-
geführt werden könne, immer mehr erschwe-
ren. Auch er hat am Abend zuvor die Talk-
show mit Marieluise Beck gesehen. Er hat sie
und ihren Mann Ralf Fücks Anfang des Jahres
zu einem langen Abendessen getroffen. Es
ging bis Mitternacht, sie sahen viel klarer als
er, dass Russland angreifen würde, und for-
derten Waffen für die Ukraine. Ihm selbst
erschien das im Januar noch unvorstellbar.
»Aber das ist kein Grund, sich in den Staub
zu werfen«, sagt Pofalla. Er respektiere Angela
Merkel dafür, dass sie dem Druck nach öffent-
licher Selbstkritik nicht nachgebe. Er respek-
tiere auch Bundeskanzler Olaf Scholz für sei-
ne abwägende Art seit Beginn des Krieges.
»Der Dialog mit Russland war richtig und
dennoch mit Blick auf den jetzigen Krieg er-
folglos«, sagt er. »Nicht miteinander zu spre-
chen hätte ihn aber auch nicht verhindert.«
Pofalla hat Matthias Platzeck gebeten,
nicht als Chef des Deutsch-Russischen Fo-
rums zurückzutreten, als der ihn anrief. Er
habe ehrenamtliche zivilgesellschaftliche
Arbeit geleistet und müsse sich nicht entschul-
digen.
Ein paar Tage später taucht Matthias Platz-
eck in der Lobby des Hotels Adlon auf wie
ein Geist. Am Telefon hatte er vor einer Wo-
che erklärt, er sitze im Norden der Uckermark
und beobachte, wie die Militärmaschinen
tiefer fliegen. Corona und der Krieg hätten
ihn fast zu gleicher Zeit erwischt, sagte er.
Man hatte einen gebeugten Mann erwartet,
einen Flüchtenden, aber Platzeck sieht aus
wie immer. Federnd, lächelnd hüpft er durch
die Lobby. Er kommt von der Eröffnung der
Spargelsaison in Beelitz.
Was kann ich Ihnen bringen?, fragt die
Kellnerin.
»Ich bräuchte Alkohol, nehme aber einen
Cappuccino«, sagt Platzeck, er strahlt, und
für einen Moment scheint die ganze Zer-
knirschtheit nur behauptet.
Er war so überzeugt, dass der Krieg nicht
stattfinden würde, dass er eine Flasche Baro-
lo verwettet hätte. Er habe es live mitbekom-
men. Nachts um vier. Man kann sich gut vor-
stellen, wie das war. Bis zum Schluss hatte
Platzeck in der Öffentlichkeit sein Gesicht für
die russische Friedfertigkeit hingehalten. Er
wollte den Konflikt einfrieren, so hatte Plat-
zeck das einst genannt. Nachts um vier war
alles aufgetaut. Das Ungeheuer trat aus dem
Eis. Ein Mann tigerte im Morgengrauen durch
seine Wohnung. Der Deichgraf, der Landes-
vater, die einstige Hoffnung der deutschen
Sozialdemokratie.
Auch Matthias Platzeck will nicht zitiert
oder fotografiert werden. Er erwähnt ein
Schweigegelübde, bevor er wieder in der Tief-
garage des Adlon verschwindet wie im Unter-
grund. Er war gar nicht da.
»Er hatte 40 Grad Fieber. Ich habe ihm
gesagt, dass ich seinen Rückzug verstehe«,
sagt Antje Vollmer. »Es war trotzdem ein
Fehler.«
Olaf Scholz habe sie bei der Veranstaltung
zum 100. Geburtstag von Egon Bahr aus-
drücklich gebeten, gerade jetzt die Kontakte
nach Russland nicht abreißen zu lassen. Das
war im März.
»Es hilft nicht zu schweigen und nachzu-
denken. Du sollst öffentlich bereuen. Ich muss
mich aber nicht ändern, ich bin immer Pazi-
fistin gewesen. Das ist auch nicht der erste
Krieg, den ich zu verhindern versuchte«, sagt
Antje Vollmer.
Sie sitzt in ihrer Charlottenburger Küche,
trinkt Tee und bettet den Krieg und seine
Folgen in Deutschland ein, bis er nicht mehr
überraschend erscheint. Sie redet über Ibra-
him Rugova, der den Kosovokonflikt gewalt-
frei lösen wollte und von ganz Europa igno-
riert wurde. Sie erzählt, wie Joschka Fischer
und Gerhard Schröder kurz nach der Wahl
1998 mit hängenden Köpfen aus Washington
zurückkamen und anschließend in einen
Krieg zogen, der ihnen vielleicht nicht sinn-
voll, aber wegen des Drucks der USA unaus-
weichlich schien. Sie zitiert Böll, Bahr, Kis-
singer und den Dalai Lama. Es geht um die
RAF und al-Qaida. Irgendwann erreicht sie
auf dieser Zeitreise Putin. Die Rede 2001
vorm Bundestag und die 2007 auf der Münch-
ner Sicherheitskonferenz.
»Krieg ist immer das Versagen von Politik«,
sagt sie.
Angela Merkel habe ihr einmal gesagt, sie
misstraue Putin zutiefst. Da war sie auf dem
Weg nach Minsk. »Sie hatte sicher ihre Gründe,
aber ohne eine gewisse Vertrauensbasis und
ohne persönliches Risiko kann man so kompli-
zierte Verhältnisse nicht aufweichen«, sagt
Antje Vollmer. Sie lächelt.
»Ich bin heute fast so was wie die Seel-
sorgerin im Forum«, sagt sie. »Der Druck ist
mörderisch. Ich telefoniere mit denen, die
verzweifelt sind. Viele Angriffe zielen auf die
Demütigung derer, die sich weiter um Ent-
spannung gegenüber Russland bemühen, aber
mich beeindruckt das nicht. Ich habe die
Schlagzeilen der ›Bild‹ überlebt, als ich auf
Ich bin wütend über das, was ich gehört habe.
»
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Hannes Jung / DER SPIEGEL