Der Spiegel - ALE (2022-05-07)

(EriveltonMoraes) #1
REPORTER

58 DER SPIEGELNr. 19 / 7.5.2022

Ehepaar Beck, Fücks

dem Höhepunkt des RAF-Terrors mit den
RAF-Leuten reden wollte.«
Am nächsten Tag wird Frank-Walter Stein-
meier vom ukrainischen Präsidenten Selen-
skyj ausgeladen. Für ein paar Sekunden kann
man im Gesicht des Bundespräsidenten eine
Haltung der Deutschen aus den vergangenen
30 Jahren zerbröseln sehen. Die Selbstgewiss-
heit, alles richtig gemacht, immer auf der rich-
tigen Seite gestanden zu haben. Niemand
verkörpert das besser als Steinmeier, der Uhu
der deutschen Politik.
Marieluise Beck, Vorstandsmitglied des
Petersburger Dialogs, sitzt in einem Schön-
heitssalon in Berlin, als sie die russische See-
le der Deutschen seziert. Die Russen seien
extrem geschickt darin herauszufinden, wo-
nach wir uns sehnen.
»Der Kreml spielt sehr gut mit den Schuld-
gefühlen gegenüber Russland wegen der
unbestreitbar atemberaubenden Verbrechen
von Wehrmacht, Polizeibataillonen und SS«,
sagt sie am Telefon. »Dieser Krieg ist aber
gegen die Sowjetunion geführt worden. Unse-
re historische Verantwortung gegenüber der
Ukraine wiegt ebenso schwer wie die gegen-
über dem heutigen Russland. Die andere
Gruppe, mit der der Kreml spielt, sind die
Gierigen, die zu vielem bereit sind, wenn es
sich finanziell rechnet.«
Sie beschreibt ihr Leben, das in einem christ-
lichen Elternhaus begann. Sie habe in der Schu-
le wenig gelernt über den Holocaust und wenig
über den Hitler-Stalin-Pakt. Als Lehrerin in
Pforzheim fastete sie mit ihrem Kollegium öf-
fentlich gegen die Nato-Raketen und für den
Frieden. Sie zog für die Grünen Anfang der
Achtziger in den Bundestag, aber politisch er-
wacht sei sie erst in Bosnien. Sie erzählt von
Tuzla, Srebrenica, von den Massakern. Mitte
der Neunzigerjahre begann sie, am deutschen
Glaubenssatz »Keine Waffen in Krisengebiete«
zu zweifeln. Dann Tsche tschenien. Kosovo.
Maidan. Eine Reise, die Marieluise Beck irgend-
wann zum Feind der russischen Führung mach-


te. Das Zentrum Liberale Moderne, das sie mit
ihrem Mann Ralf Fücks gründete und das sie
im Petersburger Dialog vertritt, gehört zu den
drei Organisationen, die vom Moskauer Justiz-
ministerium als Gefahr für die Sicherheit Russ-
lands gelistet wurden.
Es ist eine fast spirituelle Lebensbeschrei-
bung, die Marieluise Beck liefert, kurz bevor
sie in den Osterurlaub aufbricht. Antje Voll-
mer, deren Biografie ähnlich schwebt, beklagte
in ihrer Charlottenburger Küche den Eifer
der Renegatin Beck, die allen Ketzerhüte
auf setzen wolle. Andere Dialog-Mitglieder
beschreiben Konzertgastspiele in der Sowjet-
union, Schachturniere in Moskau, die Kreuz-
züge ihrer Eltern, Erfahrungen mit dem DDR-
Journa lismus und in maoistischen Gruppen
der Bundesrepublik. Mitunter hat man das
Gefühl, es gehe mehr um ehemalige Lebens-
pläne als um Russland.
In Moskau werden alle deutschen Stiftun-
gen geschlossen, dann auch noch 40 deutsche
Diplomaten ausgewiesen. In Deutschland wird
der Rücktritt von Manuela Schwesig gefordert.
Die Sozialdemokraten wiederholen das Wort
»Zeitenwende« wie einen Zauberspruch. Der
amerikanische Historiker Timothy Snyder ruft
aus Yale, die Deutschen würden den Faschis-
mus finanzieren. Gerhard Schröder erzählt der
»New York Times«, dass er nicht auf die Knie

fallen werde. Antje Vollmer veröffentlicht zu-
sammen mit Konstantin Wecker und anderen
einen offenen Brief, in dem sie Olaf Scholz
bittet, keine Waffen an die Ukraine zu liefern.
Lawrow redet von Atomkrieg und Faschismus.
Deutsche Politiker und Journalisten denken
darüber nach, ob sie auf alten Fotos mit Putin
zu sehen sind und, wenn ja, ob sie lächeln.
Antje Vollmer unterzeichnet noch einen offe-
nen Brief gegen die Aufrüstung, diesmal unter-
schreiben auch Juli Zeh, Andreas Dresen und
Lars Eidinger. Ein paar Tage später folgt ein
offener Brief von Marieluise Beck, in dem sie
sich für Waffenlieferungen einsetzt. Unter-
zeichnet haben diesmal Herta Müller, Daniel
Kehlmann und Mathias Döpfner. Verschiede-
ne Ministerpräsidenten entschuldigen sich.
Angela Merkels Vermächtnis wird infrage ge-
stellt. Die Bundeskanzlerin aber schweigt. Da-
für ist Ronald Pofalla noch mal am Telefon,
kurz bevor er die Deutsche Bahn verlässt.
»Angela Merkel ist die Einzige, die mit
Putin unter vier Augen Tacheles geredet
hat. Sie hat sich da nichts vorzuwerfen«, sagt
Pofalla.
Aber was heißt das schon in den schnell
drehenden Zeiten. Pofalla, der in all unseren
Gesprächen zum Petersburger Dialog über
Gerhard Schröder geredet hat, lässt beim
Autorisieren seiner Zitate den Namen des Alt-
kanzlers am Ende streichen, als handelte es
sich um Lord Voldemort.
Jeder distanziert sich von jedem, gern auch
von sich selbst. Der linke Grüne Anton Hof-
reiter fordert die Lieferung schwerer Waffen.
Der ausgeladene Steinmeier lässt sich beim
Nato-Partner Slowakei mit kämpferischem
Blick zwischen Soldaten fotografieren. Olaf
Scholz, der bei seinem Soloauftritt bei Anne
Will noch wirkte wie ein Stein, brüllte auf einer
1.-Mai-Kundgebung plötzlich auf Pazifisten
ein. Sein Kopf war rot, sein Zeigefinger lang.
Am Ende fragt sich Vorstandsmitglied
Stefanie Schiffer, wie viel der Petersburger
Dialog zu der Unbeweglichkeit, der Unfrei-
heit, beigetragen habe, in der sich die deut-
sche Politik gerade befinde. Sie sitzt vor
einem Café im Berliner Westend auf dem
Bürgersteig, unter Pofalla ist sie in den Vor-
stand des Dialogs gekommen, bevor ihre
Organisation auf der schwarzen Liste des
russischen Justizministeriums auftauchte. Zu-
letzt bekam sie nicht mal mehr ein Visum.
»Vielleicht sollten wir aufhören. Ganz auf-
hören«, sagt sie.
Wir sitzen an diesem kalten Frühlingstag
im Westend wie in einem Tschechow-Stück
fest. Man glaubt zu spüren, wie die letzte Hoff-
nung verweht, die Adlige, Linke, Romantiker
und Geschäftemacher einmal mit Russland
verbanden. Die Geschichte eines Missver-
ständnisses. In der »New York Times« konn-
te man lesen, wie Gerhard Schröder einst
lachend mit einem Bier in Putins Sauna saß.
Richtig funktioniert hat der Petersburger
Dialog wahrscheinlich nur zwischen den bei-
den Männern, die ihn sich einst ausgedacht
haben. n

Der Kreml


spielt mit


den Gierigen.
Marieluise Beck,
Vorstand des
Petersburger Dialogs

»

«

Im Untergrund
Selten traf Alexander Osang bei einer
Recherche in Deutschland auf ein Klima,
in dem seine Gesprächspartner so vor-
sichtig agierten wie beim »Petersburger
Dialog«. Mit jedem Tag wurde die Lage
in der Ukraine furchtbarer, Sätze zum
deutsch-russischen Verhältnis schie-
nen über Nacht in einen neuen Kontext
zu geraten. Manche Mitglieder des Ver-
eins feilten an ihren Aussagen wie an
diplomatischen Noten, andere schienen
sich in den Untergrund zurückzuziehen.

Hannes Jung / DER SPIEGEL
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