Der Spiegel - ALE (2022-05-07)

(EriveltonMoraes) #1

74 DER SPIEGELNr. 19 / 7.5.2022


AUSLAND


Im ausgetrockneten Flussbett des Yamuna, der in besseren Zeiten mitten durch Indiens Hauptstadt Neu-Delhi fließt, suchen Inderinnen und
Inder im Schatten einer Brücke Zuflucht vor den Extremtemperaturen von mehr als 40 Grad Celsius. Noch nie seit Beginn der Wetter aufzeichnungen
vor 122 Jahren wurde eine so frühe Sommerhitze auf dem Subkontinent gemessen. Die Rekordhitze ist menschengemacht und hat jetzt
schon dramatische Folgen: Hitzetote, rasant steigender Stromverbrauch, zusammenbrechende Stromnetze, Kohleknappheit, Ernteeinbußen.


Ist Europa reformierbar?


ANALYSE Nach der EU-»Zukunftskonferenz« wird
sich zeigen, ob sich der Kontinent erneuern kann.

Kurz nach Beginn des Kriegs in der Ukraine hat Manfred Weber
einen »Kiew-Moment« ausgerufen. Man müsse die Zukunft
der EU jetzt »groß denken«, sagte der Chef der konservativen
EVP-Fraktion im Europaparlament. Am kommenden Montag
nehmen die Spitzen der europäischen Institutionen – Präsident
Emmanuel Macron für den Rat der EU, Kommissionschefin
Ursula von der Leyen und Parlamentspräsidentin Roberta
Metsola – den Abschlussbericht der »Konferenz zur Zukunft
Europas« entgegen. Würden die Vorschläge umgesetzt, wäre das
ein großer Schritt auf dem Weg zum europäischen Bundesstaat.
Das Parlament würde ein Budgetrecht erhalten und Gesetze
auf den Weg bringen können. Der EU wäre es erlaubt, in größe-
rem Umfang Schulden aufzunehmen. Es soll sogar wieder über
eine Verfassung verhandelt werden. Um die Vorschläge umzuset-
zen, müssten die EU-Verträge geändert werden. Das erfordert die

Zustimmung der Regierungen aller Mitgliedstaaten sowie eine Ra-
tifizierung durch die nationalen Parlamente, keine kleine Hürde.
Noch schwieriger wird die Abschaffung des Vetorechts. Dabei
wäre keine andere Reform wichtiger für die Handlungsfähigkeit
der EU. Einzelne Staaten könnten nicht mehr die gesamte Union
blockieren, um ihre Partikularinteressen durchzusetzen. Das
Problem: Die Abschaffung des Vetos kann nur einstimmig
erfolgen. Bessere Chancen hat die jetzt beschlossene Reform
des Wahlrechts. Künftig soll es im Europaparlament 28 zusätz-
liche Abgeordnete geben, die auf einer europaweiten Liste
gewählt werden können. Ein Bewohner Hamburgs etwa könnte
dann mit seiner Zweitstimme einem maltesischen Sozialdemo-
kraten zu einem Platz im Parlament verhelfen.
Damit wollen die Abgeordneten ihren Anspruch durchsetzen,
den Kommissionspräsidenten zu bestimmen. Die Männer und
Frauen, die ihre Parteien auf den europaweiten Listen anführen,
sollen deren Spitzenkandidaten sein. Wer die meisten Stimmen
bekommt, so die Idee, wird Kommissionschef oder -chefin. Nun
müssen die Regierungen entscheiden. Macron hat sich früh für
europaweite Wahllisten ausgesprochen. Auch die Bundesregie-
rung ist dafür. Bald wird sich zeigen, ob es einen Kiew-Moment
gibt oder nur das übliche Klein-Klein. Ralf Neukirch

Adnan Abidi / REUTERS
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