Der Spiegel - ALE (2022-05-07)

(EriveltonMoraes) #1

AUSLAND


76 DER SPIEGELNr. 19 / 7.5.2022


W


as Amerika in den nächsten
Monaten bevorsteht, lässt
sich an diesem warmen Früh-
lingsabend in Washington schon er-
ahnen. Es ist laut vor dem Supreme
Court, sehr laut. Hunderte Aktivis-
tinnen und Aktivisten haben sich vor
dem obersten Gericht der USA ver-
sammelt, es sind vor allem junge
Frauen. Sie tragen Schilder, auf denen
»Keep abortion legal« steht oder »My
body, my choice«. Die Wut hat auch
ein Ziel, sie trägt den Namen des
konservativen Richters Samuel Alito.
Wenige Stunden zuvor war sein Ent-
wurf für ein Urteil an die Presse durch-
gesickert, dessen Tragweite – sollte es
Bestand haben – kaum zu ermessen
ist. »Wir glauben, dass Roe v. Wade
revidiert werden sollte«, schreibt
Alito – jenes Urteil also, das Amerika-
nerinnen seit fast 50 Jahren die freie
Entscheidung über einen Schwanger-
schaftsabbruch garantiert.
»Rage is fuel«, Wut ist unser An-
trieb, rufen die Frauen vor dem Su-
preme Court. Eine hat ein Schild mit-
gebracht, auf dem »Zerquetscht Alito
wie ein Moskito« steht. Es sind Sze-


Trumps giftiges Erbe


USA Über Jahre haben die Republikaner darauf hingearbeitet, den


Supreme Court zu kapern. Aber nun zerstört die Debatte


um das Abtreibungsrecht die Autorität des einflussreichsten Gerichts


der Welt – und motiviert gleichzeitig die Demokraten.


TX FL

AZ NM KS MO KY TN SC NC DC

CA NV CO NE IL IN WV VA MD DE

OR UT WY SD IA WI OH PA NJ CT

WA ID MT ND MN MI NY MA RI

ME

HI OK LA AR MS AL GA

AK VT NH

höchstwahrscheinlich wahrscheinlich
unwahrscheinlich

Recht auf Abtreibung


Welche US-Staaten Schwangerschaftsabbrüche
vermutlich einschränken werden, falls der Supreme Court
das Abtreibungsrecht kippt


S◆Quelle: Guttmacher Institute; Stand: 19. April


nen, die nicht so recht zu einem Ge-
richt passen, das immer großen Wert
darauf gelegt hatte, über der Politik
zu schweben. Im Supreme Court ge-
hörte es zum guten Ton, Freundschaf-
ten über alle ideologischen Gräben zu
pflegen. Über viele Jahrzehnte hätten
es die Richter für einen lächerlichen
Gedanken gehalten, Dokumente an
die Presse durchzustechen. Solche
Methoden überließ man gern den Da-
men und Herren drüben im Kongress,
die sich mit so viel Wonne in den poli-
tischen Barrikadenkampf stürzen.
Nun aber sind auch die Richter dort
angekommen – angetrieben von den
Republikanern, die es mit einer ge-
schickten und zum Teil ruchlosen Stra-
tegie geschafft haben, am Supreme
Court eine konservative Mehrheit zu
organisieren.
Allein Donald Trump hat drei Ju-
risten an den Obersten Gerichtshof
berufen. Viele seiner Anhänger sehen
das als den größten Erfolg seiner
Amtszeit an. Vielleicht stimmt das
sogar. Trumps Richter haben es in der
Hand, das Gesicht Amerikas grund-
legend zu verändern. Sollte »Roe«
kippen, bekämen republikanisch
regierte Bundesstaaten die Möglich-
keit, Abtreibungen drastisch einzu-
schränken oder ganz zu verbieten.
Schon jetzt haben 13 Staaten entspre-
chende Gesetze verabschiedet, die
sofort oder sehr schnell in Kraft treten
würden. Und es ist gut möglich, dass
die Abtreibungsdebatte erst der
Anfang ist. Der Supreme Court könn-
te auch das ohnehin schon laxe Waf-
fenrecht weiter entschärfen oder
»Affirmative Action« einschränken


  • jene Regelung also, die es amerika-
    nischen Universitäten erlaubt, unter
    anderem schwarzen Bewerbern bes-
    sere Chancen einzuräumen. Entspre-
    chende Fälle hat das Gericht bereits
    angenommen.
    Über Jahrzehnte hat die evange-
    likale Basis der Republikaner nichts
    mehr herbeigesehnt als eine konser-
    vative Mehrheit am Supreme Court,


die dafür sorgt, das verhasste »Roe«-
Urteil rückgängig zu machen. Inso-
fern sind die Evangelikalen ihrem
wichtigsten Ziel schon sehr nahe.
Trump, der noch als Unternehmer in
New York das Recht auf Abtreibung
verteidigt und eine Affäre mit einer
Pornodarstellerin unterhalten hatte,
machte sich als Präsident zum Für-
sprecher dieser Bewegung. Das wirk-
te immer so, als würde sich der Teufel
als Messdiener anbieten. Doch der
höllische Deal funktionierte: Die
Evangelikalen wählten den zweifach
geschiedenen Trump, im Gegenzug
berief der Präsident nicht nur die
beiden konservativen Juristen Neil

Bundesrichter Alito:
Möglich, dass die
Abtreibungsdebatte
nur der Anfang ist

Demonstrantinnen vor dem
Supreme Court in Washington

J. Scott Applewhite / AP

Kevin Dietsch / Getty Images
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