Der Spiegel - ALE (2022-05-07)

(EriveltonMoraes) #1
AUSLAND

Nr. 19 / 7.5.2022DER SPIEGEL 77

Gorsuch und Brett Kavanaugh ans Oberste
Bundesgericht, sondern drückte kurz vor
Ende seiner Amtszeit auch noch Amy Coney
Barrett durch, eine tiefgläubige Katholikin
und Mutter von sieben Kindern.
Insofern wäre es keine Überraschung,
wenn »Roe« nun wirklich fallen sollte. Das
Urteil aus dem Jahr 1973 wurde von der
feministischen Bewegung als Meilenstein
gefeiert, weil es Frauen selbst die Entschei-
dung über eine Schwangerschaft überließ.
Gleichzeitig war es eines der umstrittensten
in der Geschichte des Supreme Court. Noch
Ende der Fünfzigerjahre konnten sich Ame-
rikanerinnen in nur vier Bundesstaaten und
Washington, D. C. für einen Abbruch ent-
scheiden. Das Urteil »Roe v. Wade« zwang


selbst erzkonservative Staaten im Süden der
USA dazu, praktisch alle Restriktionen fallen
zu lassen. Später garantierte das Folgeurteil
»Planned Parenthood v. Casey«, dass Ab-
treibungen bis zu dem Zeitpunkt legal sind,
an dem der Fötus außerhalb des Mutterleibs
lebensfähig ist – also in der Regel bis in die


  1. Schwangerschaftswoche. Der Großteil der
    EU-Länder erlaubt lediglich einen Abbruch
    innerhalb der ersten drei Monate.
    Viele Konservative betrachteten »Roe«
    von Anfang an als politischen Aktivismus,
    der sich nur notdürftig mit rechtlichen Erwä-
    gungen tarnt. Aber auch linke Juristen hielten
    das Argument für zweifelhaft, dass sich aus
    dem Schutz der Privatsphäre, die der 14. Zu-
    satzartikel der US-Verfassung garantiert, ein


Recht auf Abtreibung ableiten lässt. Selbst
die Rechtsgelehrte Ruth Bader Ginsburg, die
später zur liberalen Ikone des Supreme Court
aufsteigen sollte, schrieb 1985 in einem Auf-
satz, »Roe« sei zu weit gegangen. Noch deut-
licher urteilte der Harvard-Professor Lau-
rence Tribe, einer der profiliertesten Verfas-
sungsrechtler der Vereinigten Staaten: »Zu
den sonderbarsten Seiten von Roe gehört,
dass es hinter einer Nebelwand von Worten
kein substanzielles juristisches Argument gibt,
auf dem die Entscheidung ruht.« Es ist ein
Gedanke, den Samuel Alito in seinem Ent-
wurf dankbar aufnahm: »Roe war von Anfang
an auf bestürzende Art und Weise falsch«,
schreibt er. »Es hat die Debatte über Abtrei-
bung in den USA nicht etwa befriedet, son-
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