Der Spiegel - ALE (2022-05-07)

(EriveltonMoraes) #1
SPORT

Nr. 19 / 7.5.2022DER SPIEGEL 87

A


ls Boris Becker ihn zum ersten Mal an-
rief, saß er gerade bei Da Fabio, seinem
Italiener in Mainz-Kastel, der schon
deshalb ein besonderer Ort für ihn ist, weil
er dort die Anschläge vom 11. September
2001 im Fernsehen live mitverfolgt hat.
»Ja, hallo, hier ist Becker.«
»Ja, hier ist Ezzedine«, sagte Khaled Ez-
zedine.
Es ist das Jahr 2019, Boris Becker steckt
schon mitten in seinem Insolvenzverfahren,
eine Tatsache, die andere Unternehmer ab-
geschreckt hätte, mit ihm Geschäfte zu ma-
chen. Aber Khaled Ezzedine, ausgebildeter
Pilot, ehemaliger Gastwirt, Immobilienbe-
sitzer und Autosammler aus Wiesbaden, er-
schien gerade das der ideale Moment, den
ehemaligen Tennisprofi als Partner zu gewin-
nen. Er ließ Beckers Manager wissen: »Es geht
um seinen Namen. Er kann Geld verdienen.«
Keine zwei Wochen später habe sich Becker
bei ihm gemeldet.
Was aus dem Anruf wurde, ist eine Ge-
schichte über den Unternehmer Ezzedine,
aber auch eine Geschichte über Becker. Sie
erzählt davon, wie der Tennisspieler nicht nur
eine ganze Nation, sondern immer wieder
auch Geschäftsleute in seinen Bann zog. Und
wie er letztlich viele enttäuschte – bis zu sei-
nem größten Absturz.
Khaled Ezzedine sitzt in seiner Firmen-
zentrale in Mainz-Kastel, in der auch sein
Oldtimer-Museum untergebracht ist, um ihn
herum Autos und ein Billardtisch, der aus der
Karosserie eines aufgeschnittenen Mercedes
gefertigt wurde. Es ist ein Tag im September
2021, Boris Becker ist damals noch ein freier
Mann. Ezzedine lässt das erste Telefonat mit
Becker als improvisiertes Theaterstück auf-
leben. Satz für Satz, seine ganz persönliche
Version.
Ezzedine erzählt, wie er sich bei Becker
zunächst für dessen Interesse bedankt und
ihm dann ausführlich seine Idee präsentiert
habe, die größte Tennisakademie Deutsch-
lands bauen zu wollen, mit 18 Außen- und
22 Hallenplätzen, einem überdachten Centre
Court, einem Vier-Sterne-plus-Hotel, einer
Fitnessanlage, einem Friseur, einem Internat,
einem Boris-Becker-Museum, einem Restau-
rant und einem Infinitypool, und wie er dann
sagte, dass er all das zusammen, die größte,
modernste, beste Tennisschule Deutschlands,
gern »Boris Becker International Tennis Aca-
demy« nennen würde.
Auf der anderen Seite sei es in diesem
Moment still geworden, erinnert sich Ezze-
dine, »komplette Ruhe«. »Kennen Sie den
Moment, wenn die Polizei vor der Tür steht
und man sich schlecht fühlt, obwohl man
nichts angestellt hat?« So sei ihm das vorge-
kommen, das Schweigen von Boris Becker.
»Hallo, Herr Becker, sind Sie noch da?«
»Jaja, ich bin noch da.«
»Herr Becker, hab’ ich Sie irgendwie be-
leidigt?«
»Nein.«
»Warum sind Sie jetzt so still geworden?«


Ezzedine macht eine Pause, bevor er den
Rest des Telefonats erzählt, das Finale, den
letzten Satz Beckers.
»Herr Ezzedine, auf den Anruf hab’ ich
seit 20 Jahren gewartet.«
Er denkt gern an dieses erste Telefonat
zurück, auch heute noch, drei Jahre danach.
Er kann die Geschichte des Beginns seiner
Partnerschaft mit Boris Becker immer wieder
erzählen und sich dabei jedes Mal an ein
neues Detail erinnern. Aber seit der vergan-
genen Woche, in der Becker von einem Lon-
doner Gericht zu einer Haftstrafe von zwei-
einhalb Jahren verurteilt wurde, muss er sich
fragen lassen, wie das alles noch zusammen-
passt, Boris Becker und er, ein Straftäter und
seine Akademie, die Kinder ausbilden soll.
Muss er sich lossagen von ihm?
»Interessiert Sie eine Geschichte von
mir?«, fragt Ezzedine.
Sie spielt auf Mallorca, im Restaurant einer
Tennisanlage. Er saß da beim Mittagessen,
als er eine Frau um Hilfe rufen hörte: »Mein
Mann stirbt, mein Mann stirbt, schnell!« Er
sei sofort hingerannt, erzählt Ezzedine, und
habe gefragt: »Was ist passiert?« Und die Frau
rief: »Mein Mann hat sich verschluckt, ein
Stück Fleisch, er kann’s nicht herunterschlu-
cken.«
Ezzedine hat einmal Medizin in den USA
studiert, das Studium nach wenigen Semes-
tern aber abgebrochen, weil er glaubte, als
Arzt nicht genug verdienen zu können. Aber
einer wie Khaled Ezzedine braucht kein
abgeschlossenes Hochschulstudium, um zu
wissen, was in einem Moment zu tun ist, der
brenzlich ist. »Ich habe ein Steakmesser vom
Tisch genommen«, sagt er, »und habe einen
Luftröhrenschnitt gemacht, dann zwei Stroh-
halme rein in den Hals. Der Mann war kom-
plett blau, wirklich blau, und in dem Moment,

wo die zwei Strohhalme drin waren, wurde
er wieder normal.« Er lächelt. »Soll ich mal
vormachen?«, fragt er.
Ezzedine kann viele Geschichten erzählen,
in denen er die Hauptperson ist, der einsame
Cowboy, der gegen alle gewinnt, auch wenn
man das manchmal schwer glauben kann.
Geboren wurde er 1970 in der Elfenbein-
küste, seine schwangere Mutter, die aus dem
Libanon stammt, war nicht rechtzeitig vor
der Geburt nach Deutschland zurückgeflogen,
wo sie wohnte. Seine Heimat, sagt Ezzedine,
sei Deutschland, dort fühle er sich zu Hause.
»Ich bin in Mainz-Kastel groß geworden«,
sagt er. »Vom Herzen und vom Kopf her bin
ich 100 Prozent deutsch.« Er muss das sagen,
auch wenn es für ihn eine Selbstverständlich-
keit ist; für andere war es das nämlich oft
nicht.
Als er noch zur Schule ging, in die siebte
Klasse, so erzählt er, fragte seine Lehrerin
einmal in die Runde, wer denn was werden
wolle. »Stuntman oder Pilot«, habe er stolz
gesagt. Groß rauskommen wollte er schließ-
lich schon immer. Die Lehrerin habe darauf-
hin auf ihn gezeigt, gerade so, als hätte er
etwas Verbotenes gesagt: »Du, du wirst
Würstchenverkäufer.« Das klang für ihn wie
eine Drohung. Da habe er zum ersten Mal
gemerkt, dass er etwas in sich habe, das ihn
stärker als alle anderen mache, dieses trotzi-
ge Gefühl: »Jetzt erst recht.«
Das Leben in Deutschland war anfangs
nicht leicht. Zwei Jahre vor seiner Geburt
waren seine Eltern als Arbeitsmigranten aus
dem Libanon nach Deutschland ausgewan-
dert. Sein Vater schleppte am Morgen zwei
Stunden lang Kohlensäcke in Häuser, danach
arbeitete er bei Nestlé am Fließband, seine
Mutter ging putzen. Der älteste Sohn sollte
Arzt werden und alles, was die Eltern erreicht
hatten, noch einmal übertreffen, »der erste
Ezzedine, aus dem etwas wird«.
Und so begann er das Medizinstudium in
den USA, das er dann abbrach, um sich nach
einem lukrativeren Job umzusehen, wurde
Pilot und flog, so erzählt er es, elf Jahre lang
für Gulf Air aus Bahrain, bis er sich auszahlen
ließ. Er zog mit dem Geld zurück nach Wies-
baden, kaufte sich Immobilien und eröffnete
ein Restaurant für deutsche Spezialitäten, das
er Pappelhaus nannte, der zwei Pappeln auf
dem Grundstück wegen.
Heute besitzt er angeblich 50 Immobilien,
die er vermietet, unter anderem an eine
Hotelkette, an ein Fitnessstudio und mehrere
Restaurants. Es klingt, als wäre ihm als Ge-
schäftsmann ziemlich viel gelungen.
Becker sei sein sportliches Idol gewesen,
sagt er. Er war 15, als Becker zum ersten Mal
Wimbledon gewann. Er sah ihn im Fernsehen
und wäre auch gern Tennisspieler geworden.
Aber Tennis sei damals zu teuer für ihn
gewesen. Das Geld seiner Eltern habe gerade

Geschäftspartner Becker, Ezzedine*

»Die Menschen lieben es,
wenn einer loyal
ist und verzeihen kann.«
Khaled Ezzedine

* Bei der Eröffnungsfeier für eine Halle der Boris Becker
International Tennis Academy in Hochheim am Main
im November 2021.

Rene Schulz / IMAGO
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