Der Spiegel - ALE (2022-05-07)

(EriveltonMoraes) #1
SPORT

Nr. 19 / 7.5.2022DER SPIEGEL 89

Stunden wachte er neben Becker, obwohl er
selbst gern geschlafen hätte. Als er Becker
viele Jahre später darauf ansprach, konnte
der sich nicht mehr so genau daran erinnern.
Becker kann gnadenlos sein. Er kann Men-
schen von einem Tag auf den anderen verges-
sen. Er hat sich von vielen Freunden und Ge-
schäftspartnern getrennt, abrupt und kompro-
misslos. Aber wenn er es wollte, wenn er Men-
schen brauchte, hat er es besser als andere
verstanden, das Gefühl von Nähe zu schaffen.
So wie bei Hans-Dieter Cleven, der eben-
falls große Erwartungen in Becker setzte. 1999
ging der Unternehmer, der Finanzchef der Me-
tro Group war und es als Vermögensverwalter
des Milliardärs Otto Beisheim selbst zu Reich-
tum brachte, auf den ehemaligen Tennisstar
zu, um Becker als Gesicht für seine Sportarti-
kelfirma Völkl zu gewinnen. »Mit ihm als Testi-
monial habe ich neue Perspektiven gesehen«,
wird Cleven später über diese Zeit sagen.
Cleven und Becker einigten sich auf eine
Zusammenarbeit, gründeten »Völkl Tennis«,
mit je 50 Prozent Anteilen. Cleven wollte aus
dem Sportler einen Geschäftsmann machen,
er lehrte Becker die Grundlagen des Unter-
nehmertums, »Betriebswirtschaftslehre à la
Cleven«, wie Becker es nannte. Es war aus-
sichtslos.
Becker machte viel, aber wenig richtig.
»Ich schaffe das nicht mehr allein, ich brauche
Hilfe«, habe er 2001 zu Cleven gesagt, erzähl-
te Becker in einem Interview. »Er und seine
Frau haben mich aufgenommen wie einen
Sohn.« Sie liehen ihm viel Geld. Doch statt
es zurückzuzahlen, brach Becker mit Cleven.
2017 stellte ein Schweizer Gericht fest, dass
Becker seinem ehemaligen Vertrauten fast


42  Millionen Franken schulde, Cleven mel-
dete die Summe beim Insolvenzverwalter in
Großbritannien an, sehr wahrscheinlich wird
er nur einen Bruchteil des Geldes zurückbe-
kommen. Die Marke Becker, auf die Cleven
gesetzt hatte, wurde für ihn zum Millionen-
grab.
Spätestens danach war klar, wie groß das
Risiko ist, mit Becker Geschäfte zu machen.
Aus seinen mehr als 50 Millionen Euro Preis-
geldern und Werbeeinkünften wurden rund
60 Millionen Euro Schulden, die ihm erst
vor dem Insolvenz- und später vor dem Lon-
doner Strafgericht zum Verhängnis gewor-
den sind.
Am Mittwoch dieser Woche sitzt Ezzedi-
ne in seinem Büro mit dem zum Billardtisch
umgebauten Mercedes. Er hat verschlissene
Tennisschuhe mitgebracht, die einst Becker
getragen und später signiert hat. Auf dem
weißen Leder kleben Reste der roten Asche
eines Sandplatzes, Ezzedine hat die Schuhe
vor Jahren ersteigert. »Wahnsinn, oder?«,
sagt er, er hat sich auch das Replikat des US-
Open-Pokals gesichert, den Becker 1989
gewann. Dann wickelt er die Schuhe wieder
in Folie und legt sie zurück in eine Tüte.

Sie sollen einmal in sein Boris-Becker-Mu-
seum kommen.
Zwei Jahre sind vergangen, seit Becker in
Hochheim zum Spatenstich der Akademie
erschien. Er schaufelte ein bisschen Erde,
dann gab er eine Pressekonferenz, sagte etwas
über die Priorität guter schulischer Ausbil-
dung, deren Befürworter er immer sei, und
war wieder weg.
Damals hieß es, die Akademie werde in
etwa einem Jahr eröffnet, seitdem gibt es im-
mer wieder Meldungen über Verzögerungen,
Materialmangel, Probleme bei Genehmigun-
gen. Jetzt sitzt ihr Namensgeber auch noch
in einem Londoner Gefängnis ein.
Ezzedine lässt sich davon nicht beirren.
Er habe sich inzwischen seinen eigenen
Bodenbelag patentieren lassen, sagt er, den
»ACE Court«, mit dem er nicht nur seine eige-
nen Plätze ausstatten, sondern auch Vereine
und Turnierausrichter beliefern will. Er wol-
le eigene Profiturniere ausrichten, die »Boris
Becker Open« im Sommer und im Winter die
»Boris Becker Snow«.
Ezzedine spricht über die Einzigartigkeit
seiner Akademie, zu der eine Tennishalle
gehört, die mit 22 Plätzen die größte der
Welt sein soll. Er sagt, er kenne inzwischen
300 Eltern, die ihn anbettelten, sein Projekt
endlich fertigzustellen, schneller zu bauen.
Im Herbst 2024 soll es so weit sein, spätestens
im Frühjahr 2025. Becker wäre dann wieder
ein freier Mann. Ezzedine will 170 Kindern
Internatsplätze anbieten können und 40 El-
tern Appartements.
Ihm gegenüber sitzt sein Geschäftspart-
ner Daniel Köhler, der die Hälfte der Anteile
an dem Projekt hält. Zusammen machen sie
sich seit Tagen Gedanken darüber, wie
sie am besten auf das Urteil gegen Becker
reagieren sollen, die Haftstrafe von zwei-
einhalb Jahren. Rechtskräftig ist das Urteil
noch nicht. Ezzedine und Köhler haben viel
telefoniert, sich mit Beckers Beratern bespro-
chen und an diesem Mittag am Frankfurter
Flughafen Beckers Anwalt getroffen. Beide
Seiten hätten sich Treue geschworen, sagt Ez-
zedine, keine Seite habe jetzt Interesse an
einer Trennung, eine Darstellung, die Beckers
Anwalt Christian-Oliver Moser später bestä-
tigt. »Die Menschen lieben es, wenn einer
loyal ist und verzeihen kann«, sagt Ezzedine.
»Und wenn man nicht auf jemanden eintritt,
der schon am Boden liegt.«
Er hat sich einen Satz einfallen lassen, mit
dem er zitiert werden will. Er handelt von Be-
cker und dessen ewiger Größe, seiner Unbesieg-
barkeit. Ezzedine will, dass der Satz aufge-
nommen wird, er kann ihn auswendig aufsa-
gen, und er will, dass er genau so veröffentlicht
wird. »Wer mit blutigen Füßen und 17 Jahren
Wimbledon gewinnt«, diktiert Khaled Ezze-
dine, »der sitzt diese Strafe auf der linken Po-
backe ab und kommt da gestärkt wieder raus.«
Er schaut in die Runde, um zu sehen, wel-
che Wirkung er damit erzielt.
»Kann man daraus nicht eine Überschrift
machen?« n

»Herr Ezzedine, auf den
Anruf hab’ ich seit
20 Jahren gewartet.«
Boris Becker

Angeklagter Becker, Partnerin Lilian de Carvalho Monteiro*: »Jaja, ich bin noch da«


* Vor dem Londoner Gerichtsgebäude am 29. April.

Victoria Jones / PA Wire / dpa
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