Der Spiegel - ALE (2022-05-07)

(EriveltonMoraes) #1
WISSEN

Nr. 19 / 7.5.2022DER SPIEGEL 95

zu einer Frage der nationalen Sicherheit er-
klärt worden.
Die Erneuerbaren müssten so schnell wie
möglich Importe von Öl und Gas aus Russland
ersetzen, sagte Habeck Anfang April bei der
Präsentation seines »Osterpakets«. Finanz-
minister Christian Lindner (FDP), in Energie-
fragen selten einig mit Habeck, nannte die
Erneuerbaren gar »Freiheitsenergien.«
Doch lässt sich eine Industrienation wie
Deutschland tatsächlich überwiegend mit
Wind- und Sonnenstrom versorgen? Und
wann könnte es so weit sein?
Noch streiten die Experten. »Es wird nie-
mals möglich sein, eine zuverlässige Strom-
versorgung ausschließlich mit der unplanbaren
Windenergie und Fotovoltaik aufzubauen«,
sagt der Energieexperte Harald Schwarz von
der Brandenburgischen Technischen Univer-
sität Cottbus-Senftenberg. Laut Schwarz droht
Deutschland schon sehr bald eine »Strom-
lücke«. »Bereits Ende 2023 werden uns 15 bis
20 Gigawatt gesicherter Leistung fehlen«, sagt
er. Es sei völlig ungewiss, wie dieser Bedarf
gedeckt werden könne.
Anderer Meinung ist Maximilian Fichtner
vom Helmholtz-Institut Ulm. »Das Problem
der Leistungsschwankungen der Erneuerba-
ren ist lösbar«, sagt er. Energiespeicher und
eine neue Architektur des Stromnetzes seien
dafür notwendig, außerdem eine gut durch-
geplante Verschränkung der Strom- und
Wärmeversorgung.
Auch Thorsten Lenck von der Berliner
Denkfabrik Agora Energiewende ist über-
zeugt, dass Deutschland sein 2030-Klimaziel
erreichen wird. »Mit kluger Industriepolitik
ist es zweifellos möglich, dass Wind und Son-
ne ausreichend Energie bereitstellen«, sagt
er. Zwar blieben weiterhin Kraftwerke not-
wendig, die kurzfristig anspringen, um den
Energiemarkt abzusichern, »doch auch diese
Leistung lässt sich mittelfristig aus regenera-
tiven Quellen wie etwa grünem Wasserstoff
erzeugen«.
Insgesamt werden hierzulande rund
3400 Terawattstunden Energie jährlich be-
nötigt. Diese gewaltige Menge zuverlässig aus
Wind, Sonnenschein, Wasserkraft und Bio-
masse zu gewinnen ist eine Herkulesaufgabe.
Die Versorgung mit Strom ist dabei im Ver-
gleich zur Wärmeversorgung noch das gerin-
gere Problem. Der Ökostromanteil liegt in
Deutschland derzeit bei 40 bis 50 Prozent.
Bis 2030 sollen es 80 Prozent sein. 2045
hofft die Ampelkoalition auf Windkraft-
und Solaranlagen mit 630 Gigawatt Leistung.
Laufen sie alle auf maximaler Kapazität, ent-
spricht das in etwa der Leistung von
600 Atommeilern.
Der gewaltige Kraftwerkspark hat vor al-
lem einen Sinn: Bei viel Sonne und starkem
Wind sollen die Anlagen einen Überschuss
an Energie produzieren, sodass große Strom-
mengen gespeichert werden können. Erzeu-
gung und Nutzung von Strom sollen entkop-
pelt werden. Durch die gebunkerte Energie
verlöre die Dunkelflaute ihren Schrecken.


Das Konzept geht jedoch nur auf, wenn
Speicher bereitstehen, die die von Skeptikern
spöttisch Zappelstrom genannte Ökoenergie
auch aufnehmen können. Energiespeicher
sind neben Windrädern und Solarzellen
deshalb der zweite zentrale Baustein der
Energiewende.
Bis 2040, so schätzt die Beraterfirma
McKinsey, werden weltweit bis zu 2500 Giga-
watt an langfristiger Speicherkapazität
installiert, 15-mal so viel wie heute. Vor allem
in den USA und China wächst der Markt; und
der Wettlauf um den effektivsten und billigs-
ten Energiespeicher hat längst begonnen.
Im Süden Hamburgs versucht sich bei-
spielsweise der Windradhersteller Siemens
Gamesa zusammen mit der Technischen Uni-
versität Hamburg seit 2019 an einem innova-
tiven Konzept. »Willkommen in der neuen
Steinzeit«, steht dort in Englisch auf einer
Betonfassade. Darunter prangt das Bild eines
Mammuts vor einem Gebirge. Was hier im
Testlauf Energie speichert, sind tatsächlich:
Steine.
Rund 1000 Tonnen vulkanischer Schotter
werden in der Anlage mit einer Art Riesen-
föhn auf eine Temperatur von bis zu 750 Grad
Celsius erhitzt. Für etwa eine Woche kann
die ETES-Anlage (Electric Thermal Energy

Storage) 130 Megawattstunden Hitze hams-
tern, die bei Bedarf über Dampfkessel und
Turbine wieder in Strom verwandelt wird.
Die Zukunft des Projekts ist allerdings un-
gewiss.
Andere Energiespeicher funktionieren, in-
dem Luft komprimiert und später wieder ent-
spannt wird. Firmen wie das schweizerisch-
amerikanische Start-up Energy Vault oder die
britische Firma Gravitricity arbeiten mit
Schwerkraft. Kräne heben bei diesen Kon-
zepten schwere Gewichte an. Wird Strom ge-
braucht, rasseln die Gewichte zurück zur
Erde, die Zugkraft treibt Generatoren an.
Selbst das Konzept der alten Nachtspei-
cherheizung erlebt eine Renaissance. In den
Anlagen der Firma Lumenion etwa nehmen
Stahlelemente Wärme auf, die über ein elek-
trisches Heizgerät produziert wird. Ein Start-
up aus dem texanischen Houston wiederum
möchte Fracking zur Energiespeicherung ein-
setzen: Quidnet plant, Wasser mit überschüs-
sigem Ökostrom unter enormem Druck in
Bohrlöcher zu pressen und dadurch Gestein
in der Tiefe aufzusprengen. Das Wasser füllt
die Risse, das Bohrloch wird unter Druck ver-
schlossen. Bei Öffnung des Speichers entlädt
sich die Spannung. Das Wasser schießt heraus
und treibt Turbinen an.
Solche Geobatterien könnten eine Alter-
native zu sogenannten Pumpspeicherkraft-
werken sein, die seit vielen Jahrzehnten welt-
weit für Netzstabilität sorgen. Wasser wird
dabei von einem Reservoir in ein höher ge-
legenes anderes gepumpt. Wird Strom ge-
braucht, rauscht das Wasser über Turbinen
zurück ins tiefere Becken. In Deutschland
puffern solche Kraftwerke derzeit mit insge-

»Ohne leistungsfähige
Batterien kann die Energie-
wende nicht gelingen.«
Maximilian Fichtner, Helmholtz-Institut Ulm









In einem gekoppelten
System wird die Energie
aus erneuerbaren
Quellen gewonnen.

 Die Energieversorgung wird
auch in Dunkelflauten durch
Energiespeicher sicher-
gestellt.

 Strom wird genutzt,
um synthetische Brenn-
stoffe herzustellen.

Zukunftstechnik


Der Energiebedarf in
Deutschland entsteht
in den Sektoren
Mobilität, Strom
und Wärme. Künftig
sollen alle drei zu
einem einzigen
Energiesystem
gekoppelt werden.

S◆Quelle: STMWI Bayern

Zukunftstechnik

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