WISSEN
98 DER SPIEGELNr. 19 / 7.5.2022
E
s wird eng für Boeing. Der US-
Flugzeughersteller steht vor
einer neuen Krise mit seinem
Skandalflieger 737 Max, der sich nach
zwei Horrorcrashs vor Indonesien
und in Äthiopien mit 346 Toten als
Fehlkonstruktion erwiesen hat.
Zwar dürfen die Maschinen dieses
Typs nach nahezu zwei Jahren am
Boden, nach Software-Updates und
Pilotentrainings fast weltweit wieder
fliegen. Weitere Unfälle hat es nicht
gegeben. Nun aber könnte es passie-
ren, dass die US-Behörden der 737
Max 10, der bisher längsten Version
der Maschine für bis zu 230 Passagie-
re, kurz vor dem Abheben doch noch
die Marktzulassung verweigern –
weil Boeings neuestes Flugzeug den
veränderten Sicherheitsanforderun-
gen nicht genügt.
Mehr als 550 Exemplare dieser
Variante haben Airlines aus der gan-
zen Welt bestellt. Seit Monaten schin-
den Testpiloten erste Prototypen in
der Flugerprobung, die allem An-
schein nach erfolgreich verläuft. Und
doch ist die Zukunft des Modells un-
gewiss, denn US-Politiker und die
Prüfer der US-Flugaufsichtsbehörde
Altes Eisen
LUFTFAHRT Boeings 737-Max-Krise flammt wieder
auf: Das neueste Modell der Baureihe
ist nach modernen Kriterien wohl nicht sicher
genug, um zugelassen zu werden.
Marco Evers n
FAA wollen im Fall von Boeing, an-
ders als früher, nicht mehr großzü-
gig über Unzulänglichkeiten hinweg-
sehen.
Der US-Kongress hat 2020 nach
dem 737-Max-Fiasko ein Gesetz be-
schlossen, das unter anderem besagt:
Alle Flugzeugtypen, die ab Ende 2022
neu zugelassen werden, müssen über
zeitgemäße Sicherheitstechnik ver-
fügen. Sollte die 737 Max 10 bis dahin
nicht zertifiziert worden sein, droht
Boeing ein Desaster, denn sie erfüllt
diese Anforderung nicht: Die Max 10
ist im Kern nur eine mehrfach rund-
erneuerte Variante der ersten 737 aus
dem Jahr 1967. Auch heute noch ent-
spricht ihr Sicherheitskonzept eher
dem Stand von damals.
Ihr mangelt es vor allem an einem
modernen Warnsystem, das den Pi-
loten Fehlfunktionen anzeigt. Alle
übrigen Flugzeuge von Boeing und
alle aktuellen Maschinen von Airbus
betreiben schon seit Jahrzehnten mit
vielerlei Sensoren und Computern
fortlaufend präzise Selbstdiagnosen
und liefern die Informationen darü-
ber so, dass sie die Piloten unterstüt-
zen. Sollte etwa eine Pumpe ausfal-
len, erscheint eine entsprechende
Mitteilung auf einem Bildschirm im
Cockpit – oft mitsamt der Lösungs-
möglichkeiten für die Piloten, der ab-
zuarbeitenden Checkliste etwa. Das
System unterscheidet zwischen dring-
lichen und weniger dringlichen Auf-
gaben und hilft so der Crew, das Wich-
tigste zuerst in Angriff zu nehmen.
Die 737 hat das nicht – und auch
das ist einer der Gründe, weshalb
zwei nagelneue 737 Max 2018 und
2019 vor Indonesien und in Äthiopien
abgestürzt waren. Nach dem Ausfall
nur eines Messfühlers waren die Pi-
loten dieser Maschinen mit ihrem
Flugzeug massiv überfordert. Auf sie
prasselte eine Fülle teils falscher akus-
tischer, optischer und haptischer
Warnmeldungen ein. Sie bekamen
etwa Signale, dass sie gleichzeitig zu
schnell und zu langsam flögen, über-
dies zeigten viele ihrer Instrumente
unterschiedliche Messwerte an. Sich
inmitten einer Kakofonie wider-
sprüchlicher Alarme eine Übersicht
über die Notsituation zu verschaffen
ist für 737-Piloten eine unnötig
schwierige Aufgabe, die sich ihren
Kollegen in fortschrittlicheren Flug-
zeugen so nicht stellt.
Ein moderneres Warnsystem in
der 737 zumindest ansatzweise nach-
zurüsten wäre womöglich technisch
machbar, aber es wäre langwierig und
exorbitant teuer: Es würde »mehr als
zehn Milliarden Dollar« kosten, gab
Boeing in Verhandlungen mit der
FAA schon 2014 an. Überdies würde
es zu einem Missstand führen, weil
Fluggesellschaften dann ältere und
neuere Maschinen des Typs 737 mit
unterschiedlichen Sicherheitsstan-
dards parallel betrieben. Das aber
würde die auf beiden Modellen ein-
gesetzten Flugzeugführer vollends
verwirren.
Bei der Zulassung der ersten 737
Max konnte Boeing die FAA noch
überzeugen, das althergebrachte
Warnsystem zu akzeptieren, schließ-
lich habe es sich über Jahrzehnte in
Hunderten Millionen Flugstunden
in der Praxis bewährt. Das stimmte
allerdings womöglich nicht ganz:
2005, 2008 und 2009 haben sich in
Griechenland, Russland und den Nie-
derlanden drei 737-Unglücke ereignet
mit insgesamt 218 Toten, die nach An-
sicht von Experten mit einem moder-
neren Warnsystem vielleicht nicht
passiert wären.
Boeing hat zurzeit ohnehin mit
Fundamentalproblemen zu kämpfen.
Der Langstreckenflieger 787 ist zwar
begehrt, kann aber wegen eklatanter
Fertigungsmängel seit Mitte 2021
nicht ausgeliefert werden. Und die
Zertifizierung von Boeings größter
Maschine, der 777X für mehr als 400
Passagiere, verschiebt sich unter dem
kritischen Auge der FAA immer wei-
ter in die Zukunft. Geplant war sie
für 2020, jetzt steht sie frühestens
2025 an.
Insofern wäre die mögliche Nicht-
zulassung der 737 Max 10 für den
Konzern eine Katastrophe: Sie würde
bedeuten, dass der Konzern kein
Konkurrenzprodukt zu den überaus
erfolgreichen Airbus-Modellen A321
LR und XLR anbieten könnte, die
selbst Langstreckenflüge in eher klei-
nen Schmalrumpf-Jets ermöglichen.
Der erbitterte Wettbewerb zwischen
den Herstellern, der über viele Jahre
zu Marktanteilen von etwa 50 : 50 ge-
führt hatte, würde sich dramatisch
verschieben – zum Vorteil von Air-
bus. Lobbyisten des US-Konzerns
versuchen derzeit, in Washington
doch noch politische Unterstützung
für eine Ausnahmeregelung zu fin-
den, die der 737 Max 10 trotz ihrer
Mängel eine Zukunft eröffnen würde.
Perspektivisch gibt es für Boeing
aber nur einen Ausweg: Das Unter-
nehmen muss ein Nachfolgemodell
für sein ehedem hochprofitables Er-
folgsprodukt 737 entwickeln. Das al-
lerdings kostet nicht nur viele Milliar-
den Dollar, sondern dauert auch vie-
le Jahre. Die Aussichten für Airbus
sind gut, seinen US-Erzkonkurrenten
weiter abzuhängen.
Ein zeit
gemäßer
Umbau der
Maschine
würde den
Konzern
»mehr als
zehn Mil
liarden Dol
lar« kosten.
Testflug einer Boeing
737 Max 10: Mehr-
fach runderneuert
Jeremy Dwyer-Lindgren / JDLMULTIMEDIA