Der Spiegel - ALE (2022-05-07)

(EriveltonMoraes) #1
WISSEN

Nr. 19 / 7.5.2022DER SPIEGEL 97

Philip Bethge n

Heat«-Anlage. Mit überschüssigem Ökostrom
wird dort das Wasser bis auf 130 Grad Celsius
erhitzt. Der dabei entstehende Dampf kann
vielfältig genutzt werden, etwa für das Fern-
wärmenetz.
»Wärmespeicher sind der Schlüssel zur
nachhaltigen Wärmeversorgung«, sagt Ziefle.
Auch die Abwärme von Müllverbrennungs-
anlagen und großen Datenzentren oder die
Hitze aus der Verfeuerung von Biomasse soll
auf diesem Weg Berlins Altbauwohnungen
und Mehrfamilienhäuser bald warm halten.
Vorteil: In vielen Wohn- und Gewerbegebäu-
den ist die Fernwärme längst etabliert.
Eines allerdings werden Anlagen wie die
Siemensstädter Thermoskanne nicht schaffen
können – die Versorgung der Industrie mit
sogenannter Prozesswärme.
Deutsche Unternehmen fürchten den Koh-
leausstieg oder ein Gasembargo auch deshalb
so sehr, weil ihnen genau diese Brennstoffe
jene hohen Temperaturen von mehreren Hun-
dert Grad Celsius liefern, die für viele indus-
trielle Prozesse notwendig sind, etwa die Her-
stellung von Stahl.
Lässt sich Strom in extreme Hitze verwan-
deln? Die Experten sind sich einig: Um In-
dustrieprozesse zu befeuern, muss ein Teil
des Ökostroms in chemische Energieträger
verwandelt werden. »Power-to-X« heißen
solche Technologien. Sie werden nicht nur
notwendig sein, um Prozesswärme zu erzeu-
gen, sondern auch, um klimafreundliche
Treibstoffe für Flugzeuge oder Lkw bereitzu-
stellen.
»Ohne chemische Energieträger werden
wir nicht auskommen«, sagt Thomas Kolb
vom Karlsruher Institut für Technologie. Der
Verfahrenstechniker forscht schon seit Jahren
daran, aus Stroh Benzin zu machen. Tech-
nisch sei es kein Problem, auch Elektrizität
in Gase oder flüssige Treibstoffe zu verwan-
deln, sagt der Forscher.
Wasserstoff etwa lässt sich per Elektrolyse
gewinnen. Der Stoff gilt vielen als Energie-
träger der Zukunft, erfordert allerdings neue
Anlagen und Prozesse. Kolb würde Wasser-
stoff deshalb lieber gleich zu Erdgas weiter-
verarbeiten. Methanisierung heißt das Ver-
fahren. Der Wasserstoff reagiert dabei mit
CO 2 , das beispielsweise in Zementwerken
oder Biogasanlagen anfällt. »Grünes Erdgas«
sei das Ergebnis, schwärmt Kolb. Der Vorteil:
»Die Industrie müsste ihre Anlagen gar nicht
erst umbauen.«
Die Umwandlung von Strom in chemische
Energieträger geht allerdings immer mit Ener-
gieverlusten einher, oft sind diese enorm.
Noch ist der Betrieb solcher Power-to-X-An-
lagen deswegen kaum wirtschaftlich. Welt-
weit ist die Elektrolyse mit weniger als
einem halben Gigawatt Leistung ein Nischen-
produkt.
Hohe Investitionen und ein Markthochlauf
in Rekordgeschwindigkeit wären notwendig.
»Für die Industrie allein ist das nicht zu finan-
zieren«, sagt Kolb. Der Wissenschaftler for-
dert deshalb eine »zielgerichtete Förderung«


durch die Politik. Sonst sei die Energiewende
für die Industrie nicht zu schaffen.
Noch skeptischer bewertet Harald Schwarz
von der TU Cottbus-Senftenberg den Ver-
such, die komplette Energieversorgung auf
Erneuerbare umzustellen. »Deutschland ist
schon heute nicht mehr in der Lage, sich selbst
mit Energie zu versorgen«, sagt Schwarz,
stattdessen werde zum Beispiel besonders
klimaschädlicher Kohlestrom aus Osteuropa
zugekauft.
Power-to-X sei die einzige Technologie,
die hierzulande gesicherte Leistung liefern
könne, sagt Schwarz. Deutschland sei einst
Vorreiter etwa bei der Entwicklung von Elek-
trolyseuren und Systemen zur CO 2 -Abschei-
dung an Kohlekraftwerken gewesen. »Beide
Technologien wurden leichtfertig aufgege-
ben«, klagt der Forscher, der auch den Bun-
destag in Energiefragen berät, »stattdessen
träumt sich die Politik die Welt seit 20 Jahren
schön.«
Batteriespeicher allein seien keine Lösung,
sagt der Experte. »Derzeit haben wir Strom-
speicher auf Basis von Pumpspeicherkraft-
werken, mit denen wir Deutschland für gan-
ze 30 bis 60 Minuten versorgen können«, sagt
Schwarz. Batteriespeicher in Gigawattstun-
dengröße bereitzustellen werde »Jahrzehnte«
dauern.
»Es ist völlig unstrittig, dass wir eine CO 2 -
ärmere Stromerzeugung brauchen«, sagt
Schwarz. Um für Deutschland Versorgungs-
sicherheit zu garantieren, seien jedoch noch
für lange Zeit Atomkraftwerke oder Kohle-
meiler mit CO 2 -Abscheidung nötig.

Ist die Idee der vorwiegend auf der Kraft
von Wind und Sonne gebauten Energiewen-
de also eine grüne Träumerei? Zentral sind
tatsächlich die Fragen, wie schnell der Umbau
des Energiesystems gelingen kann und ob
Politik und Gesellschaft genug Kraft aufbrin-
gen, um die Vision zu verwirklichen.
»Technisch ist die Energiewende möglich«,
sagt Thorsten Lenck von Agora Energiewen-
de. Auch wirtschaftlich lohne sich der Wandel.
Schon heute sei kein Strom so günstig wie der
aus Windkraftanlagen und Solarzellen, »jetzt
ist es allerdings wichtig, dass die Produktions-
kapazitäten und Lieferketten schnell genug
aufgebaut und die Anlagen zügig in Betrieb
genommen werden«.
Lenck und seine Kollegen haben einen
Plan ausgearbeitet, der genau beschreibt, wie
Deutschland bis 2045 klimaneutral werden
könnte. Viele Elemente finden sich in den
Plänen der Bundesregierung wieder.
Neben dem Ausbau der Erneuerbaren ist
es demnach notwendig, durch Effizienzstei-
gerungen Energie einzusparen, vor allem im
Wärmesektor. Autos, Heizungen und die In-
dustrie müssten elektrifiziert werden, das
spare automatisch Energie ein. Zudem brau-
che es eine Wasserstoffwirtschaft für be-
stimmte Industrieanwendungen und zur Ab-
sicherung des Energiemarkts, sagt Lenck.
Schließlich sei es wichtig, CO 2 aus unvermeid-
lichen Prozessschritten mit sogenannten CCS-
Technologien (Carbon Capture and Storage)
einzufangen und dauerhaft abzulagern.
Am Ende könnte es auch an jedem Einzel-
nen hängen, ob die Energiewende gelingt oder
nicht. Einen Joker nämlich haben die Visio-
näre des neuen deutschen Energiesystems
noch im Ärmel: die Macht des Schwarms.
Eine gewaltige E-Auto-Flotte baut sich der-
zeit in Deutschland auf. Gleichzeitig rüsten
viele Hausbesitzer ihre Eigenheime mit Bat-
terien auf, um den Solarstrom vom eigenen
Dach zu speichern. Der billige Eigenstrom
kann dann beispielsweise genutzt werden,
um die heimische Wärmepumpe zu speisen.
Die Technik soll Gas- und Ölheizungen er-
setzen.
Die Auto- und Smarthome-Akkus aber
könnten, schlau vernetzt, zu einer riesigen
Powerbank werden. Bidirektionales Laden
heißt der Trend, bei dem etwa Elektroautos
mit der Fähigkeit ausgestattet werden, Strom
nicht nur aus dem Netz zu ziehen, sondern
ihn auch zurückzugeben.
15 Millionen Elektroautos peilt die Ampel-
koalition bis 2030 an. Zum virtuellen Kraft-
werk verknüpft, wären sie in der Lage, zeit-
weise gewaltige Mengen Energie ins Netz
einzuspeisen – und dabei die Strompreise zu
dämpfen und Blackouts zu vermeiden.
»In den USA wird schon dafür Werbung
gemacht, dass man sein Haus tagelang mit
dem eigenen Auto versorgen kann«, sagt der
Batteriespezialist Fichtner. »Dieses bidirek-
tionale Laden wird ein Renner – und rechnen
könnte es sich für die Leute auch noch.«
Klimaschutzminister Habeck

»Mit kluger Industrie­
politik ist es zweifellos
möglich, dass Wind
und Sonne ausreichend
Energie bereitstellen.«
Thorsten Lenck, Agora Energiewende

Andreas Gora / ddp images
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