Der Spiegel - ALE (2022-05-07)

(EriveltonMoraes) #1
WISSEN

Nr. 19 / 7.5.2022DER SPIEGEL 99

T


emperaturen von mehr 45 Grad
Celsius und laut Medienberich-
ten erste Todesopfer: Indien
und Pakistan leiden unter extremen
Temperaturen. »Diese Hitzewelle tes-
tet die Grenzen der menschlichen
Überlebensfähigkeit«, erklärte die
indische Klimaforscherin Chandni
Singh dem Sender CNN. Immerhin
sei Indien diesmal nicht unvorbereitet
getroffen worden: Die Sterblichkeit
durch Hitze sei dank besserer Vorher-
sagen inzwischen deutlich gefallen,
schrieb sie auf Twitter. Was also nüt-
zen Vorhersagen? Wie können die
Menschen sich vorbereiten?
Indien kämpft schon immer mit
Hitzewellen und Dürren. Trotzdem
zeigen Untersuchungen, dass diese
Phänomene dort in den jüngsten
Jahrzehnten häufiger auftraten und
länger dauerten als in der Vergangen-
heit. Vor allem seit Mitte der 1960er-
Jahre sind laut einer im Fachmagazin
»Science« veröffentlichten Studie die
Durchschnittstemperaturen kontinu-
ierlich gestiegen. Auch der zweite
Teilbericht des Weltklimarats vom
Februar bestätigte, dass die Wahr-
scheinlichkeit solcher extremer Hitze-
wellen künftig zunehmen werde.
Manche indischen Behörden ha-
ben reagiert – und damit vielleicht
Schlimmeres verhindert. So gibt es
mittlerweile Hitzeaktionspläne. Eine
der ersten Städte mit einem solchen
Plan war das westindische Ahmeda-
bad. Die Millionenstadt hat bereits
2013 eine Anleitung für den Hitze-
notstand aufgesetzt: Ist ein solches
Wetterereignis absehbar, müssen die
Behörden die Bevölkerung informie-
ren, Krankenhäuser und Rettungs-
stellen werden in besondere Alarm-
bereitschaft versetzt, öffentliche
Anzeige tafeln mit Temperaturdaten
angeschaltet und Trinkwasser an öf-
fentlichen Orten zugänglich gemacht.
Auch sogenannte Cooling-Center
gibt es in Ahmedabad. Das sind meist
durch Klimaanlagen gekühlte Räume,
in denen Menschen sich von der Hit-
ze erholen können. Wie viele solcher


Kühlzentren es in indischen Groß-
städten gibt und ob sie ausreichen,
ist nicht bekannt. Allen wird außer-
dem geraten, was von jeher gilt:
wenig Bewegung, die Sonne meiden,
viel Wasser trinken und leichte Klei-
dung tragen.
Der Hitzeplan von Ahmedabad ist
ein Vorbild für viele andere Städte in
Indien. Die Idee der Cooling-Center
haben die Inder von den USA über-
nommen. Dort gibt es schon seit Län-
gerem Listen mit Adressen solcher
kühlender Orte.
Wissenschaftler halten Hitze-
aktionspläne für einen guten Anfang.
»Solche Frühwarnsysteme und Hilfen
für die Bevölkerung sind notwendig,
aber langfristig bei Weitem nicht aus-
reichend«, sagt Andreas Matzarakis
vom Zentrum für Medizin-Meteoro-
logische Forschung des Deutschen
Wetterdienstes. »Es muss sich struk-
turell etwas ändern, sonst nützen sol-
che Sofortmaßnahmen wenig.«
Erschwerend kämen die ohnehin
oft prekären Lebensverhältnisse hin-
zu. »In Indien gibt es Millionen Men-
schen, die keinen Zugang zu saube-
rem Trinkwasser oder Strom haben
und bei denen solche Warnungen gar
nicht ankommen«, meint Elke Hertig
vom Zentrum für Klimaresilienz der
Universität Augsburg.

Wege aus der Hitzehölle


KLIMA In Indien sind Millionen Menschen einer schweren Hitzewelle ausgeliefert.
Bisherige Schutzmaßnahmen reichten nicht aus, sagen
Wissenschaftler. Doch es gibt auch Mittel gegen den Temperaturkollaps.

Susanne Götze n

Die Einwohnerzahl des Landes
wächst derzeit um jährlich etwa ein
Prozent, bis 2050 werden in Indien
Prognosen zufolge 1,6 Milliarden
Menschen leben; schon in den kom-
menden Jahren könnte es das bevöl-
kerungsreichste Land der Erde sein.
Immer mehr Inder ziehen zudem in
die Stadt. Dort aber ist die Hitze be-
sonders unerträglich: Mit Beton ver-
siegelte Flächen heizen sich stark auf,
es gibt weniger Schatten spendende
Bäume oder Wasserstellen.
Auch auf dem Land ist die Not
groß. Dort gibt es keine ausreichende
medizinische Versorgung, der Zugang
zu einem Kühlzentrum ist ein ferner
Traum. »Da muss ganz grundsätzlich
etwas getan werden«, so Hertig. »Alle
Menschen brauchen Zugang zu
sauberem Trinkwasser und einen
Stromanschluss, damit wenigstens ein
Ventilator aufgestellt werden kann.«
Das Stromnetz in Indien ist in
einem schlechten Zustand. Wenn zu
viele Klimaanlagen oder andere
Kühlsysteme laufen, kommt es immer
wieder zu großflächigen Blackouts.
Eine massive Aufrüstung mit Klima-
anlagen könnte die Probleme ver-
schärfen: »Die geben Abwärme ab,
verbrauchen extrem viel Strom und
heizen die Umgebung sogar zusätz-
lich auf«, sagt die Wissenschaftlerin.
Um die Bevölkerung in den Städten
zu schützen, sollten diese umgebaut
werden, so die einhellige Einschätzung
der Anpassungsforscher. »Wir brau-
chen mehr ›Grün und Blau‹«, sagt
Andreas Matzarakis. Mehr Bäume
pflanzen, mehr Parks und Wasserflä-
chen anlegen, die für Abkühlung sor-
gen. Betonflächen hingegen müssten
»entsiegelt« werden, damit sich die
Stadt nicht so stark aufheizt.
Das gilt nicht nur für die wachsen-
den Megacitys, ist dort jedoch beson-
ders schwierig, weil um jeden Qua-
dratmeter Fläche gerungen wird.
»Manchmal hilft es schon, wenn die
Farbe der Straße heller gemacht wird,
damit Sonnenstrahlung reflektiert
wird, und die Häuser aus anderen Ma-
terialien gebaut werden«, sagt Hertig.
Das Wissen ist eigentlich da, dass Stahl
und Beton für das Klima der Stadt
extrem ungünstig sind und grüne Dä-
cher oder Häuserwände helfen wür-
den, die Temperaturen zu senken.
»Das Allerwichtigste ist, dass Poli-
tiker in Indien, aber auch in Deutsch-
land solche Maßnahmen endlich bei
der Städteplanung mitdenken«, so
Hertig. Das gelte für den Klimaschutz
genauso wie für den Schutz vor den
Folgen von Extremwetterereignissen
wie jenen, die Indien derzeit erlebt.

»Manchmal
hilft es schon,
wenn die
Farbe der
Straße heller
gemacht
wird.«
Elke Hertig,
Zentrum für Klima-
resilienz der
Universität Augsburg

in Grad Celsius

    

Überhitzt


Durchschnittliche Oberflächentemperatur* im April 2022

In Banda wurden
am . April
, Grad Celsius
Lufttemperatur
* tagsüber gemessen.
S◆Quellen: Nasa, India Meteorological Department

INDIEN

PAKISTAN
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