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100 DER SPIEGELNr. 19 / 7.5.2022
J
an Frodeno ist einer der fittesten Athleten
der Welt. Dreimal schon hat der deutsche
Ausdauersportler den Ironman-Triathlon
auf Hawaii gewonnen. Es ist ein brutaler
Wettbewerb: Die Teilnehmer müssen mehr
als drei Kilometer schwimmen, 180 Kilometer
durch die heiße Einöde radeln und im An-
schluss einen Marathon laufen.
Die aktuelle Ironman-WM am 7. Mai in
Utah lässt er ausfallen, wie einige andere Top-
Athleten auch. Stattdessen will der Vierzig-
jährige beim nächsten Ironman im Oktober
auf Hawaii antreten, stärker denn je. »Ich bin
im Spätherbst meiner Karriere«, sagt Frode-
no. Er experimentiert in der Vorbereitung mit
einer neuen Methode, um seine Leistung noch
einmal deutlich steigern zu können: Er verhält
sich ein wenig wie ein chronisch Kranker.
Seit zwei Jahrzehnten wird die Disziplin
von immer neuen Trends erfasst: GPS-
Tempomessung, Pulsmesser, Kompressions-
strümpfe, Zuckergels, carbonfaserverstärkte
Sohlen, Kraftmess-Pods an den Schuhen und
Elektrokardiogramm-Uhren verändern den
Ausdauersport. Letzter Schrei: die indirekte
Blutzuckermessung, Continuous Glucose Mo-
nitoring genannt, kurz CGM. Ursprünglich
wurde sie zur Behandlung von Diabetikern
entwickelt, die damit ihren Zuckerspiegel
überwachen. Nun versprechen sich viele Aus-
dauersportler davon einen Kraftschub.
Das Prinzip ist einfach: Die Sportlerinnen
und Sportler stechen sich einen Biosensor in
das Unterhautfettgewebe im Oberarm. Der
Sensor ist verbunden mit einem Mikrochip
auf der Haut, der den Gewebezuckerwert
misst und via Bluetooth überträgt. Sportuhr
oder Handy zeigen dann nicht nur Tempo
und Puls an, sondern warnen auch mit ge-
ringer Verzögerung, wenn der Zuckerspiegel
absinkt.
Diesen Moment fürchten alle Ausdauer-
sportler. Er hat viele Namen, keiner ist schön:
»Hungerast«, »der Mann mit dem Hammer«,
»gegen die Wand laufen«. Dann wollen die
Beine nicht mehr, der Körper schreit nach
einer Pause, die restliche Strecke wird zur
Qual.
Die Zuckermessgeräte sollen diesem Leis-
tungsloch den Schrecken nehmen und als
Frühwarnsystem dienen, so das Versprechen.
Auch Jan Frodeno testet diese Methode seit
über einem halben Jahr.
Tatsächlich stehen Athleten, die mit dem
kleinen CGM-Chip am Oberarm antreten,
öfter mal auf den Siegertreppchen. Verschaf-
fen die Zuckersensoren den Wettkämpfern
einen unfairen Vorteil? Zu diesem Fazit jeden-
falls kam der Radsport-Weltverband UCI mit
Sitz im schweizerischen Aigle im vergangenen
Juni, als er CGM-Chips kurzerhand verbot.
Phil Southerland ist Pionier in Sachen
CGM beim Ausdauersport und der Gründer
der Firma Supersapiens, eines wichtigen An-
bieters der Technik. Southerland, 40, wuchs
als Diabetiker auf, sein Alltag war von der
Krankheit geprägt. Um seinen Blutzucker-
spiegel zu messen, musste er sich immer wie-
der in die Finger stechen, einen Blutstropfen
abnehmen, ihn mit einem Messgerät analy-
sieren und den korrekten Schluss daraus zie-
hen: essen, Insulin spritzen, abwarten?
Nach seiner Geburt hatten ihm die Ärzte
eine Lebenserwartung von 25 Jahren ein-
geräumt. Southerland scherte sich nicht da-
rum, er wollte Radprofi werden. Im Alter von
24 Jahren meldete er sein Team, das nur aus
Diabetikern bestand, für eines der härtesten
Rennen der Welt an: das Race Across Ame-
rica, mit dem Fahrrad von Kalifornien zur
Ostküste der USA. 4800 Kilometer, Tag und
Nacht, nur unterbrochen von kurzen Schlaf-
pausen an Bord eines Begleitbusses.
2007 gewann sein Team, bestehend aus
acht Radfahrern mit Diabetes, das Rennen.
Und stellte einen neuen Rekord auf: fünf
Tage, 15 Stunden, 43 Minuten. Southerland
sagt, CGM sei seine Geheimwaffe gewesen.
»Am Anfang galten wir als die komischen
Typen mit den Sensoren im Arm«, erzählt er,
»heute benutzt die fast jeder.«
2020 brachte seine Firma Supersapiens
eine App auf den Markt, stellt die Daten-
analyse in der Cloud bereit und vermarktet
seitdem die Technologie als Sportartikel.
Die Pharmafirma Abbott liefert die Sensoren.
Noch sind sie in den USA nur für Diabeti-
ker zugelassen. In einigen europäischen Län-
dern dagegen können Sportler die Zucker-
Zucker im Tank
SPORTMEDIZIN Mit Sensoren und Analyse-Apps überwachen Diabetiker ihren Blutzuckerspiegel nahezu in
Echtzeit. Marathonläufer und Triathleten versprechen sich von der Methode einen dramatischen
Leistungsschub. Wie wirksam ist diese Hightech wirklich – und sollte sie als Techno-Doping verboten werden?
Ironman-Gewinner Frodeno auf Hawaii 2019: Unfairer Vorteil?
David Pintens / Belga / IMAGO