FOCUS - ALE (2022-05-07)

(EriveltonMoraes) #1
WAHLEN

Fotos:


Stefan Finger/laif, instagram/thomaskutschaty, EPA-EFE, Jochen Tack/dpa


Konzernen und sechs Fußball-Bundes-
ligisten. Wer hier regiert, ist eine Art Mini-
Bundeskanzler. Hendrik Josef Wüst, Jurist
und Hobby-Jäger aus Rhede, verheira-
tet, eine Tochter, ist noch recht neu in der
Rolle, er kam im Oktober als Nachfol-
ger des gescheiterten Armin Laschet ins
Amt. Bis dahin war er Verkehrsminister
im schwarz-gelben Kabinett; eine Rand-
figur der Landespolitik. Nun könnte er
zum Hoffnungsträger der ganzen CDU
aufsteigen. Sogar eine Kandidatur gegen
Scholz 2025 stünde ihm offen, wenn er die
Staatskanzlei verteidigt – sollte er verlie-
ren, könnte es mit der politischen Karriere
aber auch schnell vorbei sein. Kurzzeit-
Ministerpräsident oder Kanzler. Für ihn
ist jetzt alles drin.

Wüst kopiert den Merkel-Sound
Erst mal muss Wüst aber beweisen, dass
er sein eigenes Land durch schwierige
Zeiten führen kann. Zumindest die Rolle
des Landesvaters beherrscht er schon ein-
mal. Im dritten Stock des Einstein-Gym-
nasiums betritt der Regierungschef ein
Klassenzimmer, vor ihm sitzen 16 Jungen
und Mädchen, die vor Kurzem mit ihren
Familien aus der Ukraine geflohen sind.
Kameraleute drängen sich in den Raum,
die Kinder macht das sichtlich nervös.
Wüst versucht, die Situation zu entspan-
nen. „Ich habe gehört, dass ihr schon ganz
toll Deutsch könnt“, sagt er mit sanfter
Stimme, einen Übersetzer hat er nicht.
Er geht langsam reihum, beugt sich zu
einem 14-jährigen Mädchen vor. „Fühlst
du dich wohl hier, ist alles o.k.?“, will er
wissen. Sie antwortet schüchtern „Ja“ und
kritzelt etwas auf ihren Block. Dann muss
die Presse raus, Wüst bleibt noch zehn
Minuten allein mit den Kindern.
Später gibt Wüst im Physikraum neben-
an ein Statement ab, er steht kerzengerade
vor den Kameras und sagt, dass er einen
„Ort der Hoffnung“ erlebt habe. Einen
Ort, an dem „Kinder wieder Kinder sein“
können. In solchen Momenten wirkt er, als
habe er jedes Wort zu Hause vor dem Spie-
gel einstudiert. Aber kann man ihm das
verübeln? Sein Vorgänger Laschet ist mit
seiner impulsiven Art krachend geschei-
tert, für Wüst gilt es im Wahlkampf, Fehler
zu vermeiden. So tritt er überaus kontrol-
liert auf, manche sagen: aalglatt.
Wüst hat früher für die NRW-Zeitungs-
verlage gearbeitet, er weiß, wie die Me-
dienlogik funktioniert und wie er sich poli-
tisch Gehör verschafft. Kurz nach Kriegs-
ausbruch hielt er im Landtag eine Rede.
Er hätte sagen können, dass der Staat

die Herausforderungen durch den Flücht-
lingszustrom bewältigen wird. Stattdessen
sagte er: „Wir schaffen das.“
Der vielmals wiederholte Satz ist ihm
sicher nicht zufällig herausgerutscht. Wäh-
rend andere in der Union eine schnelle,
lückenlose Registrierung der Flüchtlinge
forderten und vor einer Wiederholung von
2015 warnten, stimmte Wüst empathische
Töne an – und stellte sich in eine Linie
mit Ex-Kanzlerin Angela Merkel. Manche
sagen, dass er sich damit als inhaltliches
Gegenmodell zu Merz positioniert hat. In
seiner ersten Regierungserklärung sagte
Wüst, dass für ihn „soziales Miteinander
und wirtschaftlicher Erfolg“ zusammen-
gehörten. Er stehe für eine pragmatische
Politik, „die Probleme angeht und löst“.
Viel konkreter wird er oft nicht, bleibt im
Floskelhaften. Nur bei wenigen Themen
wie bei der allgemeinen Impfpflicht wagt
er eigene, klare Positionen.

Vom Lautsprecher zum Kümmerer
Dabei klang er früher ganz anders. Als
Chef der Jungen Union in NRW und als
Generalsekretär der Landes-CDU pro-
filierte sich Wüst als Law-and-Order-
Politiker, rhetorisch mochte er es krawal-
lig. 2004 fragte er in der „Bild“-Zeitung,
warum Arbeitslose nicht „Hundekot,
Drogenspritzen und Glasscherben“ auf
Spielplätzen aufräumen sollten. Auf die
markigen Worte folgte der jähe Absturz.
2010 wurde bekannt, dass die NRW-
CDU Unternehmen Gespräche mit dem
damaligen Ministerpräsidenten Jürgen
Rüttgers gegen Sponsorengelder ange-
boten hatte. Wüst, damals Anfang 30,
übernahm die Verantwortung und trat
als Generalsekretär zurück.
Seitdem sei der Münsterländer ruhiger
geworden, sagen Beobachter, er habe sei-
nen Stil angepasst, suche mittlerweile
eher den Ausgleich als die Polarisierung.
Kritiker vermuten dahinter taktische
Motive. Doch selbst wenn Wüst nur eine
Rolle spielt, spielt er sie nicht schlecht. Bei
seinen Auftritten verzichtet er
meist auf harte Attacken gegen
den politischen Gegner und
bemüht stattdessen das Image
des Kümmerers, der Stadt und
Land im Blick hat.
Die Frage ist: Geht sein Kalkül
auf – oder herrscht doch eine
Wechselstimmung im Land,
die die CDU aus der Regierung
trägt?
Der Mann, der auf Letzteres
setzt, steigt an einem sonni-

Die größten Probleme


im größten Bundesland


Verkehr
Die CDU versprach 2017, die vielen Staus zu
reduzieren. Das hat nicht geklappt. 2021 gab
es laut ADAC 215 500 Staumeldungen auf Au-
tobahnen in NRW – Spitzenwert in Deutsch-
land. Allerdings hat die schwarz-gelbe Koali-
tion ihr Versprechen eingelöst, mehr Geld in
Schiene und Straße zu investieren.

Bildung
Etwa 5000 Lehrerstellen im Land sind unbe-
setzt; Wüst räumte Versäumnisse bei der Be-
soldung ein. Die SPD plant eine Personalof-
fensive, sie will Studienplätze ausbauen und
die Einstiegsgehälter angleichen.

Innere Sicherheit
Die schwarz-gelbe Landesregierung hat bei
der Bekämpfung der Clankriminalität in den
vergangenen Jahren Erfolge erzielt. Wüst will
die Null-Toleranz-Strategie fortsetzen.

Energiewende
NRW liegt beim Ausbau der Windkraft zurück.
Die CDU will an der Abstandsregelung fest-
halten, nach der Windräder nicht näher als
1000 Meter an Siedlungen gebaut werden
dürfen, SPD und Grüne wollen sie abschaffen.

Wohnen
Vor allem in den Großstädten sind die Mieten
stark angestiegen, in Köln und in Münster
legten die Preise seit 2018 um zehn Prozent
zu. Die CDU will die Wohnbau-
förderung weiter erhöhen, die
SPD verspricht 100 000 neue
Wohnungen.

Flüchtlinge
Mehr als 100 000 Menschen aus
der Ukraine sind seit Kriegsbeginn
in NRW angekommen. Damit sie
staatliche Hilfe erhalten können,
müssen die Kommunen sie zügig
registrieren. Doch dabei gibt es
organisatorische Probleme.

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LESERDEBATTE

Stauland Nr. 1:
Auf Straßen wie der A40
herrscht regel-
mäßig Verkehrschaos
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