KOLUMNE
Soll man sich dem
Diktator entgegenstellen?
JAN FLEISCHHAUER Illustration von Sören Kunz
die Mehrheitsmeinung im Land. Nur weil in den Zeitungen
die Stimmen derer dominieren, die für ein entschiedenes
Eingreifen zugunsten der Ukraine sind, müssen die Leser
das nicht auch so sehen. Sich raushalten lag den Nach-
kriegsdeutschen immer schon näher, als sich einzumischen.
Allerdings macht die Tatsache, dass man die Mehrheits-
meinung vertritt, die Argumente ja noch nicht unbedingt
besser. Die Unterrepräsentation der Zögerlichen in deut-
schen Talkshows liegt möglicherweise auch
daran, dass in ihrer Argumentation ein gro-
ßes, schwarzes Loch klafft.
A
lle beteuern, wie sehr ihnen das
Schicksal des von Russland be-
drängten Landes am Herzen liege.
Natürlich dürfe die Ukraine den
Krieg nicht verlieren, lautet der letzte Satz
in dem Essay, mit dem der Philosoph Jürgen
Habermas am Wochenende so etwas wie die
Langversion des „Emma“-Aufrufs an Olaf
Scholz lieferte. Aber jeder weiß, dass es ohne
Panzer und Haubitzen schwer wird, eine
Invasionsarmee aufzuhalten.
So bleibt am Ende nur das Argument, dass
jede Nation in Kriegszeiten selbst sehen müs-
se, wo sie bleibe. Am brutalsten hat das Björn
Höcke ausgedrückt: „Der Krieg in der Ukrai-
ne ist schrecklich, aber es ist nicht unser Krieg.“ So will
man es außerhalb der AfD natürlich nicht sagen. Dabei
läuft es genau darauf hinaus.
Es heißt, man dürfe Putin nicht weiter provozieren,
sonst hole er die Atomwaffe raus, und ehe man es sich
versehe, sei man im Dritten Weltkrieg. Kurioserweise
sind die Leute, die so denken, nicht weit entfernt von
denjenigen, die Putin für einen Wiedergänger Hitlers
halten. Wenn man davon ausgeht, dass Putin sogar die
Atombombe zünden würde, um seine völkischen Ideen
in die Tat umzusetzen, was sollte ihn hindern, einfach
weiterzumachen, wenn er erst einmal die Ukraine unter-
jocht hat?
Mir ist eines aufgefallen: Im Team Vorsicht sind ganz
viele Leute, die politisch normalerweise eher meiner Welt-
sicht zuneigen. Umgekehrt findet man im Lager der Ukra-
ine-Unterstützer überdurchschnittlich viele Menschen, die
eher mit den Grünen sympathisieren. Das spiegelt sich
auch in den Umfragen wider. Am stärksten ist die Zustim-
mung zur Militärhilfe für die Ukraine bei den Anhängern
von Robert Habeck und Annalena Baerbock. 72 Prozent
befürworten dort die Lieferung schwerer Waffen, selbst
wenn das bedeuten sollte, dass Deutschland als Kriegs-
partei gilt.
Warum haben konservativ gesinnte Menschen mehr
Angst vor dem Atomkrieg als Grünen-Anhänger? Ich
dachte immer, es sei eine Charaktereigenschaft der Lin-
ken, wegen allem und jedem wie Espenlaub zu zittern.
Gerade die Atomangst war doch eine urlinke Erfindung.
Kann man sich darauf auch nicht mehr verlassen?
Schon altersmäßig sind viele, die jetzt zur „Besonnenheit“
mahnen, wie das neue Wort für Untätigkeit lautet,
von einem Atomkrieg weniger betroffen.
Alice Schwarzer wird dieses Jahr 80 Jahre
alt, Alexander Kluge ist gerade 90 gewor-
den, Habermas ist 92 Jahre alt, Martin Wal-
ser sogar schon 95. Ich weiß, der Tod kommt
immer verfrüht. Aber für einen 25- oder 30-
Jährigen kommt er doch deutlich verfrühter.
Vielleicht liegt der Schlüssel zur Erklä-
rung im Selbstbewusstsein eines bestimmten
intellektuellen Milieus. Ein Freund brachte
mich auf den Gedanken. Er meint, Leute wie
Walser oder Habermas können sich schlech-
terdings nicht vorstellen, dass in den Abend-
nachrichten vom Erstschlag die Rede ist und
sie sind nicht dabei. Sie sagen sich: Wenn
es einen Atomkrieg gibt, dann wird mir die
Atombombe als Erstem auf den Kopf fallen.
Diese Erklärung hat mir spontan einge-
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