selbst als Ganzem, als Person. Doch man darf sich
dieses Ganze nicht als externen Beobachter vorstel-
len. Das Ganze, das ist das „ganze Biest“, das ich bin,
mein gesamter Organismus, aber auch zum Beispiel
meine Vergangenheit und meine gesellschaftlichen
Rollen, etwa als Hochschullehrer oder als Vater.
Ist die Ich-Figur vielleicht völlig entbehrlich? Der
Buddhismus sagt: Das Ich ist eine Illusion. Der
Strom von Gedanken und Empfindungen sei ein-
fach da und brauche kein Ich als Träger. Und wenn
man entsprechend tief meditiert, erfährt man die
Welt ohne Ich.
Natürlich gibt es pathologische Zustände, in denen
das Ich verschwindet. Aber der meditierende Mönch
kann ja auch zurückkehren, sonst wäre er einfach
weg. Vollstreckte Erleuchtung wäre kognitiver Suizid,
also in der Tat eine Form von Selbstauslöschung. Die
Vorstellung, dass man sein Selbst eliminieren könn-
te oder gar sollte, scheitert daran, dass es im Erfolgs-
fall in eine Geisteskrankheit mündet. Der Erleuch-
tete ist wahnsinnig.
Wenn es denn ein Ich gibt, dann gibt es glückli-
cherweise nicht nur eines davon auf Erden. Wir
erleben ja auch die Menschen um uns herum als
empfindsame, bewusstseinsbegabte Wesen, in
die wir uns einfühlen und eindenken. Dass wir ein
Ich unter vielen Ichs sind: Welche Rolle spielt das
für unser Menschsein?
Es spielt eine konstitutive Rolle. Der Großmeister der
Ich-Philosophie, Johann Gottlieb Fichte, hat es so
ausgedrückt: „Der Mensch ist nur unter den Men-
schen Mensch.“ Die Erfahrung von fremdem Be-
wusstsein ist viel ursprünglicher im menschlichen
Leben als die Erfahrung einer ichleeren Gegenstands-
welt. Die erste Erfahrung, die man wahrscheinlich
schon im Mutterleib macht, ist die eines anderen
Menschen, eines anderen Bewusstseins. Von dort aus
erst erschließen wir uns die Erfahrung einer realen
Gegenstandswelt. Fremdes Bewusstsein ist für uns
als Menschen das Bekannteste überhaupt.
Jetzt verraten Sie uns bitte noch, warum und in
welchem Sinne Sie Einhörner für real halten.
Nehmen wir den Film Das letzte Einhorn, in dem es
übrigens dem Titel zum Trotz sehr viele Einhörner
gibt. Niemand wird auf den Gedanken kommen, die-
s e Fi l m f i g u re n , d a e s j a b e k a n nt l ic h k e i ne E i n hör ne r
geben kann, als etwas anderes zu deuten, etwa als
schlecht verkleidete Ponys. Niemand kann Bibi
Blocksberg interpretieren, ohne zu glauben, dass es
in Bibi Blocksberg mindestens eine Hexe gibt, näm-
lich Bibi Blocksberg. Wir wissen also, dass es Elfen
und Trolle gibt, nämlich zum Beispiel in der Litera-
tur oder in der Mythologie oder beim Karneval. Der
Kontext ist hier entscheidend.
Und deshalb sagen Sie, dass es die Welt als Gan-
zes nicht gibt?
Genau. Die Welt als Ganzes, das wäre eine Liste von
allem, das existiert. Schreiben wir mal auf, was es
alles gibt: Harry Potter, die Bundeskanzlerin Merkel,
die Zahl sieben, Bauchschmerzen, die Vergangenheit,
Haarausfall ... Das ergäbe erstens eine unendliche
Liste, und zweitens haben viele der Gegenstände auf
dieser Liste nichts gemeinsam, außer dass sie zusam-
men auf dieser Liste stehen. Jetzt hat man zwei Mög-
lichkeiten: Entweder man reduziert willkürlich die
Gegenstände dieser Liste, sodass sie nur noch solche
Elemente enthält, die sich sinnvoll zusammenfügen.
Das nennt man dann ein Weltbild. Doch dieses Welt-
bild kann nie vollständig sein, kann nie das Ganze
beschreiben. Ich bevorzuge deshalb die zweite Mög-
lichkeit: Sie streichen nichts von der Liste und neh-
men hin, dass sie unendlich und in sich widersprüch-
lich ist. Dann erhalten Sie kein Weltbild. Das meine
ich, wenn ich sage, dass es die Welt nicht gibt. Es gibt
nichts Substanzielles, keinen Stempel, den alles, was
existiert, trägt. In gewisser Weise ist das die viel ra-
dikalere Variante des Buddhismus: Es gibt wirklich
all diese Dinge auf der unendlichen Liste, aber jeweils
in ihrem eigenen Zusammenhang, in ihrem Sinnfeld
- zum Beispiel eben im Sinnfeld eines Films, in dem
Einhörner vorkommen. Es gibt unendlich viele mit-
einander verschachtelte Sinnfelder. Die Welt selbst
können wir nicht begreifen, weil es kein allumfas-
sendes Sinnfeld gibt, zu dem sie gehört.
In dem Roman The Fifth Heart von Dan Simmons
schließt der Detektiv Sherlock Holmes aus un-
trüglichen Indizien, dass er kein echter Mensch
ist, sondern eine fiktive Figur sein muss. Mit sei-
nem Kummer vertraut er sich schließlich Mark
Twain an, der sich als Schriftsteller ja mit fiktiven
Figuren auskennt. Wie würden Sie Holmes trös-
ten, wenn Sie Mark Twain wären?
Ich würde ihm sagen: „Keine Sorge, du existierst.
Das ist die gute Botschaft. Die weniger gute Botschaft
ist: Du existierst nur relativ zur Interpretation deiner
Leser. Du hast also keine bestimmte Anzahl von Haa-
ren oder Füßen, außer ich stelle mir als Leser vor,
dass du soundso viele Haare und zwei Füße hast.
Und du wirst dich relativ zu diesen wechselnden In-
terpretationen deiner Leser verändern. Du bist also
ein schillerndes Ding.“ Ich weiß nicht, ob das Sher-
lock Holmes beruhigen würde. PH
INTERVIEW: THOMAS SAUM-ALDEHOFF
Ich würde
Sherlock
Holmes
sagen: Du
existierst,
aber du bist
ein schillern-
des Ding