heumaps0517

(Ben Green) #1

Neulich überkam es mich wieder.
Ich saß auf einer harten Bank in
der Turnhalle einer Grundschule und
starrte auf die Bühne, wo die Theaterauf-
führung einer fünften Klasse ihren lang-
samen Gang ging. Gern würde ich behaup-
ten, die Kinder hätten ihr Bestes gegeben,
aber so war es nicht. Mit den übertriebe-
nen Gesten, die Kindern oft beigebracht
werden, wenn sie auf der Bühne Gefühle
zeigen sollen, die sie nicht haben, und den
sperrigen Sätzen auf der Zunge, die ihnen
eine ambitionierte Lehrkraft vermutlich
eingebimst hatte, kamen mir die Schüler
eher vor wie einigermaßen gut geführte
Marionetten. Unruhig rückte ich auf der
Bank hin und her, beobachtete leicht ge-
reizt die Eltern, die unentwegt fotogra-
fierten und filmten und lautlos den Text
mitsprachen, und wartete auf eine Gele-
genheit, um unauffällig das Weite zu su-
chen.
Da passierte es: Hinter den Kulissen
hörte man Gitarrenakkorde, die Kinder
scharten sich zu einem kleinen Chor, und
auf einmal sangen sie allesamt laut und
fröhlich „Leaving on a jet plane“. Der Song
hatte nicht sehr viel mit dem Stück zu tun,
das Englisch der Kinder war unverständ-


lich und die Akkorde passten nicht – egal.
Singende Kinder und ein Lied über Ab-
schied und Trennung, das reicht schon,
um mir die Tränen in die Augen zu trei-
ben. Ich kann mir nicht helfen.
Und es wird immer schlimmer. Früher
überkam mich nur dann Rührung, wenn
meine eigenen Kinder im Spiel waren.
Wenn sie den Stern beim Krippenspiel,
die Zügel des weißen Ponys oder die Block-
f löte beim Vorspiel hielten, dann durfte
ich beobachten, wie ernst sie ihre Aufga-
be nahmen und wie hingebungsvoll sie
bei der Sache waren, konnte ihre stillen
Gesichter bewundern und die Schönheit
ihrer Konzentration – und schon wurden
die Augen feucht. Aber inzwischen reicht
offensichtlich schon eine Prise Begeiste-
rung in einer fremden Schulklasse, un-
termalt von G-Dur.
Was aber hat mich dort in der Turn-
halle so gerührt? Der vertraute Song wä-
re doch eher ein Grund zum freudigen
Mitsingen gewesen – noch ist die Mensch-
heit nicht verloren, solange Kinder mitei-
nander Lieder teilen, wenn es nicht gera-
de Militärmärsche oder Nationalhymnen
sind, sondern schöne alte Hippie-Lieder,
oder? Vielleicht liegt es an der Musik.

ÜBER RÜHRUNG


Die Schriftstellerin
Annette Pehnt
(u.a. Briefe an Charly,
Piper 2015) schreibt
jeden Monat in
PSYCHOLOGIE HEUTE
über ihre Alltags-
beobachtungen
http://www.annette-pehnt.de

PEHNTS ALLTAG

Free download pdf