Ebenfalls harter Tobak für mich sind näm-
lich Chorstücke, vor allem Kantaten jeg-
licher Art, aufgeführt in Kirchenräumen.
Egal wer sie komponiert hat oder spielt
- wenn der Schlusschoral erklingt und die
bewegten Harmonien sich in einem strah-
lenden Dur-Akkord lösen, fange ich an zu
schluchzen. Bei Moll erst recht. Dabei ha-
be ich doch gerade eine Vorahnung vom
Paradies bekommen! Dreißig Musiker
und ein Chor, lauter gestandene Erwach-
sene, die im richtigen Leben nichts mit-
einander zu tun haben, stehen im Altar-
raum und bauen mit den gleichen Stim-
men, mit denen sie sonst über Kollegen
lästern und Fahrscheine kaufen, eine Ar-
chitektur aus fein gesponnenem Klang.
Heule ich, weil der letzte Akkord gleich
verklungen sein wird? Weil sich die Fest-
lichkeit nicht halten kann und das Para-
dies eben nur als Andeutung zu ahnen ist,
schon verhallt, bevor es sich entfalten darf?
Oder weil es ein Wunder ist, dass Men-
schen überhaupt zusammen musizieren,
ohne dafür bezahlt zu werden? Sind es
Tränen der Dankbarkeit, des vorwegge-
nommenen Verlustes? Oder bin ich ein-
fach rettungslos sentimental?
Tränen beim Ententanz
Die größte Rührung meines Lebens über-
kam mich, als ich in einem Altersheim
ein Praktikum machte. Ich half hier und
dort, sah den Herrschaften voller Mitleid
beim mühsamen Geschäft des Altwerdens
zu, hakte gebrechliche Damen unter,
wischte Böden und tupfte beim Abendbrot
Butterreste aus Mundwinkeln. Das alles
war bedrückend, aber es gab auch ange-
nehme Begegnungen, pfiffige Ladys und
sehr großherzige Pf legerinnen, die für
Galgenhumor und bei Problemen für
schnelle und praktische Lösungen sorg-
ten. Wenn ich abends nach Hause fuhr,
war ich heilfroh um meine Jugend und
zugleich sehr erschöpft, aber nicht ge-
rührt.
Bis ich eines Tages in die Gruppenstun-
de des Seniorentanzes geriet. Hier konn-
te niemand auch nur einen Fuß heben.
Im geräumigen Seminarzimmer waren
die Tische an die Wand geschoben, Roll-
stühle standen im Kreis um eine rundliche
Animateurin in Sportjacke und blau
schimmernden Leggings. Sie zeigte den
Damen gerade, wie sie ihre Ellbogen heben
und mit den Köpfen schaukeln sollten.
Schüchtern setzte ich mich auf einen der
Tische und schaute zu, wie sie hier einen
Arm hielt, dort eine Schulter lockerte. Die
Tänzerinnen sahen angestrengt aus, als
kosteten die winzigen Bewegungen sie al-
le Kraft. Schnell wollte ich mich wieder
h i n a u s s t e h l e n , a b e r d i e L e h r e r i n r i e f m i c h
zurück: „Bleib doch! Wir freuen uns über
Publikum!“ Sie übten nämlich für eine
Aufführung, und dies war eine Art Ge-
neralprobe. Sie hob die Hand und drück-
te die Starttaste eines altmodischen Kas-
settenrecorders. Ich war auf alles gefasst.
Aber als dann der Ententanz losdröhnte
und die alten Damen, von der Hüfte ab-
wärts steif wie Statuen, sich lächelnd da-
zu im Takt wiegten und mit den Ellbogen
f latterten, dabei sogar noch stolz zu mir
herüberschauend, schaffte ich gerade noch
einen Applaus, bevor ich heulend aus dem
Raum lief.
Ich habe diesen Moment niemals ver-
gessen, und ganz klar ist er mir immer
noch nicht. Die bekannten Zutaten gab
es auch hier – Musik und eine Gruppe von
Menschen, die mit Freude etwas gemein-
sam tun. Zugleich fädelte sich in den Au-
g e n b l i c k e i n e A h n u n g d a v o n , w a s Ta n z e n
diesen Damen vielleicht früher bedeutet
hatte, schwingende Petticoats, gut geschei-
telte junge Tänzer, festlich polierte Tanz-
säle. Erinnerungen, gefangen im blecher-
nen Gejaule des Ententanzes und in Kör-
pern, die keiner mehr zum Tanzen auf-
forderte. Sie taten etwas unter ihrer
Würde, weil es nicht anders ging, und
blieben doch stolz bei der Sache, die sie
nicht mehr beherrschten. Dass sie so tap-
fer versuchten, gegen die Unmöglichkeit
anzutanzen, das könnte es gewesen sein.
Ich bin gegen die würdevolle Kunst der
Wehmut nicht gefeit. Und, das habe ich
gerade beschlossen, ich will es auch nicht
sein. Wo auch immer mir jemand zeigt,
d a s s e r d e m L e b e n e i ne For m a br i ng t , b e -
kommt er meine Tränen. Und
ILLUSTRATION: MAGDA WEL sei es auch nur der Ententanz. Irrtum und Preisänderungen vorbehalten. Abb.: © Staa
tsbibliothek zu Berlin, Nachlass Gerhart Hauptmann
Herausgegeben von Wulf Bertram
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... und heute gilt: Schneller, höher, weiter –
obwohl wir uns alle nach Entschleunigung,
Tiefe und Nähe sehnen. Der Arzt, Neuro-
wissenschaftler und Bestsellerautor Manfred
Spitzer blickt auf unterschiedliche (Fehl-)Ent-
wicklungen, die unser alltägliches Leben
betreffen. Er stellt die Fragen von morgen,
mit denen wir uns heute beschäftigen soll-
ten: Müssen wir lernen, Maschinen zu ver-
trauen, selbst wenn sie uns umbringen?
Ändern sich unsere Beziehungen durch digi-
tale Medien? Werden bald Roboter für uns
arbeiten und bald danach wir für sie?
Nehmen Sie sich die Zeit, dieses Buch zu
lesen – denn auch das zeigt Spitzer ein-
drucksvoll auf: Wer Bücher liest, lebt länger!
- 290 Seiten, 62 Abb., 10 Tab., kart.
¼ 19,99 (D) / ¼ 20,60 (A) | ISBN 978-3-7945-3243-8