88 PSYCHOLOGIE HEUTE 05/2017
Armut ist, wie Ungleichheit, ein Thema,
das sich seit den Hartz-IV-Reformen und
der Finanzkrise großer Popularität er-
freut. Dabei beherrschen Bilder wie das
von der sozialen Schere, die sich immer
weiter öffnet, oder das von den Armen,
die immer ärmer werden, große Teile der
öffentlichen Debatte. Georg Cremer, Ge-
neralsekretär des Deutschen Caritasver-
bands und außerplanmäßiger Professor
für Volkswirtschaftslehre, hat sich nun
des Themas angenommen.
Hier schreibt ein Kenner der Materie
und ein Wissenschaftler, der sich sowohl
den Armen als auch einer sachlichen Be-
richterstattung über sie verpf lichtet fühlt.
E r t u t d i e s i n e i n n e h m e n d e m To n , e l e g a n -
tem Stil und mit einem profunden Wissen.
Die zentrale Aussage des Buches ist: Ja,
Armut ist ein Problem in Deutschland,
aber auch: Ja, der deutsche Sozialstaat hat
erhebliche Anstrengungen und Erfolge bei
der Bekämpfung dieses Problems vorzu-
weisen. Das hört man selten. Besonders
die Erfolge der Armutsbekämpfung kom-
men im öffentlichen Diskurs kaum vor.
Dieser bevorzugt leider Skandalisierung
statt sachlicher Berichterstattung – mit
fatalen Folgen für die Armen, als deren
Anwalt die Skandalisierer auftreten. Wer
nämlich verlauten lässt – wie der in Talk-
shows omnipräsente Ulrich Schneider,
Hauptgeschäftsführer des Paritätischen
Wohlfahrtsverbands – die Armut in
Deutschland sei noch nie so groß gewesen
wie heute, hat sachlich unrecht und scha-
det der Armutsbekämpfung.
Das ist eine der größten Sorgen von
Cremer, dass nämlich eine von falschen
Steigerungsbehauptungen dominierte Ar-
mutsdebatte dazu führen könnte, die Ar-
mutsbekämpfung zu diskreditieren, und
sie so zu einem Schuss wird, der nach hin-
ten losgeht.
Denn die Sozialausgaben in Deutsch-
land steigen seit Jahren immer nur an –
unabhängig von allen Konjunkturlagen.
Der Autor behandelt alle einschlägigen
Topoi der öffentlichen Diskussion wie et-
wa Altersarmut, Bildungsarmut und
Langzeitarbeitslosigkeit und kommt zu
dem Ergebnis: Es ist schon viel erreicht,
aber es gibt auch noch viel zu verbessern.
Beides wird ausführlich dargestellt: das
Erreichte, das meist zu kurz kommt, und
das Verbesserungsbedürftige, das sich
meist in der Forderung erschöpft, es müs-
s e m e h r G e l d i n s S y s t e m. A u c h h i e r e r w e i s t
sich Cremer als Meister der Differenzie-
rung. Ja, es muss mehr Geld ins System,
meint er, aber mit zwei Vorbehalten: oh-
ne Skandalisierung und an den richtigen
Stellen.
Ohne Skandalisierung heißt: Die Er-
höhung des Regelbedarfs von Hartz-IV-
Empfängern um 80 Euro pro Monat hält
er für begründet. Sie würde aber dazu
führen, dass die Zahl der Anspruchsbe-
r e c h t i g t e n u m 8 0 0 0 0 0 z u n i m m t. D i e F o l -
gerung der Armutslobby wäre: Wie
schrecklich, noch nie gab es so viele Hartz-
IV-Empfänger, also Arme, wie heute. So
wird die verbesserte Hilfe, die Armut re-
duziert, in eine Zunahme von Armut um-
gedeutet. Die Skandalisierung verdreht
die Wirklichkeit.
Der zweite Vorbehalt, das Geld an den
richtigen Stellen einzusetzen, heißt: ziel-
gerichtet verteilen, damit es den wirklich
Armen hilft. Im Kapitel „Wie der Sozial-
staat sich selbst im Weg steht“ läuft der
Autor zur Hochform auf und führt den
Wider die Skandalisierung
Nützt die Armutsdebatte den Armen?
Georg Cremer: Armut
in Deutschland. Wer
ist arm? Was läuft
schief? Wie können
wir handeln? C. H.
Beck, München 2016,
271 S., € 16,95
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