Jan Mallien, Frank Wiebe Frankfurt
A
ls die neue EZB-Präsidentin Christine
Lagarde am vergangenen Freitag ihren
ersten größeren Auftritt in Frankfurt
absolvierte, gewann sie schnell die
Sympathie der im Prachtbau der „Al-
ten Oper“ versammelten Banker. Deutsche-Bank-
Chef Christian Sewing sprach von der ermutigends-
ten Rede, die er seit Langem gehört habe. Der kalte
Krieg, der sich zwischen der Europäischen Zentral-
bank (EZB) und den deutschen Banken in den letz-
ten Amtswochen von Lagardes Vorgänger Mario
Draghi entwickelt hatte, scheint einer neuen Wärme
zu weichen. Die neue Herzlichkeit kann aber nicht
darüber hinwegtäuschen, wie schwierig Lagardes Job
an der Spitze der Notenbank ist: Die EZB ist intern
zerstritten, die Kritik in der Öffentlichkeit wird vor al-
lem in Deutschland immer beißender, und Zinsen
weit unter dem Nullpunkt plus erneut milliarden-
schwere Zukäufe von Staatspapieren vermitteln den
Eindruck, die Finanzwelt sei aus den Fugen geraten.
Lagarde weiß um ihre wenig komfortable Start-
position, deshalb hat sie eine Überprüfung der
Strategie der Notenbank in den kommenden Mo-
naten versprochen. Dann kommt wahrscheinlich
alles auf den Prüfstand: die Ziele, die Instrumente
und die Kommunikation der EZB.
An erster Stelle auf dieser Liste steht das Inflati-
onsziel: Seit Jahren versucht die EZB vergeblich,
die von ihr angestrebte Preissteigerungsrate von
unter, aber nahe zwei Prozent zu erreichen. Dafür
hat sie die Zinsen auf immer neue Rekordtiefs ge-
senkt und Wertpapiere im Wert von über zwei Bil-
lionen Euro gekauft. Genutzt hat das auf den ersten
Blick nur wenig. Trotz der historischen Beschlüsse
im September, als Mario Draghi und seine Kollegen
die Minuszinsen auf unbestimmte Zeit festschrie-
ben, lag die Inflation im Euro-Raum im Oktober bei
nur 0,7 Prozent, und die langfristigen Inflationser-
wartungen haben sich bei wenig ermutigenden 1,2
bis 1,25 Prozent stabilisiert.
Kritiker bemängeln deshalb, dass das Inflations-
ziel der Notenbank zu eng gesetzt ist, doch neue
Berechnungsmethoden und neue Inflationsdefini-
tionen haben ihre Tücken. Wichtigstes Ziel der EZB
ist die Bewahrung der Preisstabilität. Stabile Preise,
so das Argument, seien die beste Grundlage für
Wachstum und Wohlstand. Deshalb geht es bei der
Diskussion um das Inflationsziel um nichts weniger
als um das Selbstverständnis der Notenbank.
Die Kritiker des aktuellen Ziels verweisen vor al-
lem auf die steigenden Immobilienpreise. Eine
wichtige Frage lautet: Warum fließen die Kosten für
die eigene Wohnung nicht in die Messung der Infla-
tion ein? Schlagzeilen über rasant steigende Haus-
preise und Mieten suggerieren, dass die wahre In-
flation, wie sie der einzelne Bürger spürt, weit über
der offiziell gemessenen Preissteigerung liegt, an
der sich die EZB orientiert. So sind die Immobilien-
preise in Deutschland 2018 um über sechs Prozent
und im Euro-Raum um fast fünf Prozent gestiegen.
Unterschiedliche Berechnung
Anders als in der Euro-Zone fließen in den USA in
den Preisindex für den persönlichen Verbrauch
(PCE), den die US-Notenbank (Fed) in erster Linie
als Maßstab für ihre Geldpolitik nutzt, die Mietkos-
ten mit vier Prozent und die Kosten für das Woh-
nen in der eigenen Immobilie mit elf Prozent ein.
Im Euro-Raum berücksichtigen die Statistiker dage-
gen nur die Mieten, die mit einem Gewicht von et-
wa sechs Prozent in die Berechnung des Verbrau-
cherpreisindexes eingehen.
Daher läge es nahe, das amerikanische System
einzuführen, um auf diese Weise die Wohnkosten
in die Inflationsberechnung einzubinden. Die EZB
könnte so ihren Kritikern entgegenkommen und
zugleich eine etwas höhere Inflation ausweisen, die
näher an ihrem Wunschziel von knapp zwei Pro-
zent liegt, glaubt zum Beispiel Frederik Ducrozet
vom Schweizer Vermögensverwalter Pictet. „Die
EZB könnte ihre präferierten Inflationsindikatoren
überdenken“, meint der Volkswirt. „Eine Möglich-
keit wäre, die Kosten für selbst genutztes Wohnen
in dem Umfang einzubeziehen, dass sich dadurch
die Messung der Konsumausgaben verbessert.“
In Europa haben sich die Statistiker bewusst da-
gegen entschieden, die Kosten für das Wohnen in
der eigenen Immobilie in die Inflation einzube -
ziehen. Vor allem, weil es schwierig ist, die Kosten
für die selbst genutzte Immobilie zu bestimmen, da
es dafür keine Marktpreise gibt. In den USA behel-
fen sich die Statistiker damit, dass sie Haushalte be-
fragen, wie diese selbst ihre Kosten einschätzen.
Diese Methodik ist aber umstritten, unter anderem
weil die Wohneigentümer von den geschätzten
Kosten nicht unmittelbar betroffen sind und sich
die Frage stellt, wie aussagekräftig solche Schätzun-
gen sind.
Nach eigenen Berechnungen der EZB würde die
Inflation etwas höher ausfallen, wenn sie die Kos-
ten für das Wohnen in den eigenen Wänden einbe-
zieht und diese nach dem sogenannten Nettoer-
werbskonzept kalkuliert. Dabei fließen die Kauf-
preise neu gebauter Wohnungen und Häuser in die
Inflationsstatistik ein, nicht aber die Preise von
Wohnungen aus dem Bestand. Nach dieser Berech-
nungsmethode wäre die Inflation im Jahr 2016 um
0,2 bis 0,3 Prozent höher ausgefallen. Das Gewicht
der Wohnkosten würde dann im Euro-Raum bei 15
Prozent liegen, davon würden neun Prozent auf
neu gekaufte Wohnungen entfallen.
Nach dieser Methode würden Immobilienpreise
noch direkter einbezogen, wenn auch nur die für
neu entstandene Wohnungen und Häuser. Aber
auch hier stoßen die Geldpolitiker auf ein systema-
tisches Problem, weil Häuser und Wohnungen
auch Vermögenswerte sind. Menschen kaufen
Häuser nicht nur, um darin zu wohnen, sondern
auch, um wie bei Aktien oder Anleihen Wertsteige-
Die Tücken der
Inflation
Die neue EZB-Präsidentin Christine Lagarde will die Strategie
der Notenbank überprüfen. Kritiker bemängeln, das
Inflationsziel sei zu eng gesetzt. Sie fordern, dass die stark
steigenden Wohnkosten künftig eine größere Rolle spielen.
EZB-Präsidentin
Christine Lagarde:
Wenig komfortable
Startposition.
LUZphoto / fotogloria
Finanzen
& Börsen
MITTWOCH, 27. NOVEMBER 2019, NR. 229
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