Handelsblatt - 27.11.2019

(Barré) #1

rungen damit zu erzielen. Das ist problematisch,


weil Vermögenspreise bei der Inflationsmessung


bewusst ausgespart werden. Ein Argument für die


Nichtberücksichtigung der Wohnkosten war auch,


dass steigende Immobilienpreise mit Verzögerung


auf die Mieten durchschlagen und damit, wenn


auch verzögert, in den Preissteigerungsraten auf-


tauchen. Bislang ist davon aber nicht viel zu se-


hen.


Zuletzt sind die Preise für Wohnen im deutschen


Verbraucherpreisindex im Oktober um lediglich


1,4 Prozent gestiegen. Damit stellt sich die Frage,


ob die höheren Immobilienpreise überhaupt auf


die Mietpreise durchschlagen. Denn die extrem


niedrigen Zinsen führen tendenziell dazu, dass die


Preise von Vermögenswerten wie Häusern, Anlei-


hen oder Aktien steigen und spiegelbildlich die da-


mit erzielbaren Renditen sinken.


Teils stark regulierte Märkte


Ein weiterer Faktor ist, dass in einigen Euro-Län-


dern Mieter vor allem in Sozialwohnungen leben,


deren Mieten nicht so stark steigen. Der Mietmarkt


ist in diesen Ländern sehr stark reguliert, und Miet-


steigerungen sind oft auch durch eine Indexierung


begrenzt. In Spanien etwa richten diese sich meist


nach der Inflationsrate. Auch in Frankreich und


Italien dürfen die Mietpreissteigerungen in der Re-


gel einen bestimmten Referenzindex nicht über-


schreiten. Zudem gibt es viele Mietverträge, die kei-


ne festen Steigerungen vorsehen. Zu Erhöhungen


kommt es dann nur bei Mieterwechseln.


Doch nicht nur Immobilienpreise und Mieten


spielen bei der Debatte um die Inflationsmessung


eine Rolle. Manche Ökonomen, etwa Daniel Gros


vom Centre for European Policy Studies (Ceps) in


Brüssel, plädieren dafür, statt der Verbraucherprei-


se den sogenannten GDP Deflator als Maßstab für


die Inflation zu nehmen. Dieser Index bildet ab,


was im Inland produziert wird, klammert also Im-


portpreise aus, die von Geldpolitikern ohnehin


nicht beeinflusst werden können.


Zuletzt lag die Inflation der Verbraucherpreise


der Euro-Zone im zweiten Quartal 2019 bei 1,4 Pro-


zent, der GDP Deflator aber bei 1,7 Prozent und da-


mit näher am Ziel von knapp zwei Prozent. Es gibt


Berechnungen, etwa der Banque de France, die zu


einer höheren Diskrepanz kommen. Aber sie bezie-


hen sich auf den Verbraucherpreisindex der USA,


der für die Fed zweitrangig ist. In jedem Fall zeigen


beide Beispiele: Die Veränderung der Messmetho-


de hätte keinen dramatischen Effekt, käme aber zu


einer etwas höher ausgewiesenen Inflation.


Eine weitere Frage ist, ob das Inflationsziel von


zwei Prozent noch angemessen ist. Denkbar wäre


eine Absenkung, um der EZB den selbst erzeugten


Zwang zu nehmen, mit immer massiveren Mitteln


die zu niedrige Inflation zu bekämpfen. Ein niedri-


geres Ziel könnte aber auch so wirken, als habe die


EZB kapituliert – das würde möglicherweise die In-


flationserwartungen und damit die Inflation selbst


noch weiter unter Druck bringen.


In den USA werden auch höhere Inflationsziele


diskutiert – oder Phasen höherer Inflation, die eine


zuvor zu niedrige Inflation ausgleichen sollen. Au-


ßerdem wird das Modell diskutiert, statt eines


Punktziels eine Inflationsspanne zu definieren. Das


könnte der EZB erlauben, an zwei Prozent als lang-


fristigem Mittelwert festzuhalten, aber mehr Ge-


duld als bisher zu zeigen.


Interessant ist in dem Zusammenhang auch, wie


die Notenbank ursprünglich die zwei Prozent be-


gründet hat. Einen Prozentpunkt sollte der Ab-


stand zur Nulllinie betragen, um ein Abrutschen in


die Deflation, also eine Phase fallender Preise, zu


verhindern. Der zweite Prozentpunkt kam ins


Spiel, weil vor rund 20 Jahren der Eindruck be-


stand, dass die Statistik Qualitätsveränderungen


bei Gütern zu wenig berücksichtigt und damit die


Inflation tendenziell zu hoch ausweist.


Qualitätsverbesserungen beeinflussen indirekt


den Preis. Wenn ein Verbraucher für einen festen


Betrag einen technisch höherwertigen Laptop be-


kommt als in der Vergangenheit, entspricht dies ei-


gentlich einer Preissenkung. In der Vergangenheit


wurden solche Qualitätsänderungen in der Statistik


kaum erfasst, daher gab es den Sicherheitspuffer.


Inzwischen versuchen die Statistiker, Qualitäts-
verbesserungen stärker einzubeziehen. Dadurch
stellt sich die Frage, ob der Sicherheitspuffer von
zwei Prozent inzwischen zu hoch ist.
Dirk Schumacher, Ökonom von der französi-
schen Investmentbank Natixis, hält eine „signifi-
kante“ Änderung des Inflationsziels für „unwahr-
scheinlich“. Dagegen spricht aus seiner Sicht, dass
die Meinungen darüber im Rat der EZB zu weit aus-
einandergehen. Die Verfechter einer strafferen
Geldpolitik seien eher für ein niedrigeres Inflati-
onsziel – die Verfechter eines lockeren Kurses hin-
gegen eher für einen höheren Wert.
Ähnlich argumentiert auch Pictet-Ökonom Fre-
derik Ducrozet. Er hält eine Debatte über die prä-
ferierten Inflationsindikatoren der EZB für wahr-
scheinlicher. Allerdings verweist er auch darauf,
dass nicht die EZB für mögliche Änderungen des
Verbraucherpreisindexes verantwortlich ist, son-
dern das europäische Statistikamt Eurostat. Jede
Änderung sei mit technischen Schwierigkeiten ver-
bunden. Daher würde sie einige Zeit brauchen.
Möglich sei aber, dass die EZB zumindest eine Dis-
kussion darüber anstößt.

Euro-Raum Deutschland
+8

+6

+4

+2

±

-2

-4

+6,6 %


Steigende Preise
Hauspreisindex (2015 = 100), Prozentuale Veränderung zum Vorjahr in %

HANDELSBLATT

2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018


Quelle: Eurostat

+4,7 %


Die EZB


könnte ihre


präferierten


Inflations -


indikatoren


überdenken.


Frederik Ducrozet
Pictet


 




  



Finanzen & Börsen


MITTWOCH, 27. NOVEMBER 2019, NR. 229


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