Handelsblatt - 01.11.2019

(Brent) #1

V


ielleicht handelt es sich bei den so-
genannten Cum-Ex-Geschäften um
einen der größten Steuerskandale
der Nachkriegsgeschichte. Ob es
sich um Steuerbetrug handelte,
müssen jetzt die Gerichte entscheiden. Im Sep-
tember 2019 startete der erste bundesweite Straf-
prozess am Landgericht Bonn. Die Ermittlungen
betreffen insgesamt mindestens 400 Beschuldig-
te in 56 Komplexen. Diese Woche sagte der Kron-
zeuge aus.
Der Steuerschaden für die Gesellschaft wird
auf zehn bis 30 Milliarden Euro geschätzt (euro-
paweit auf rund 55 Milliarden Euro), was einem
Steuerschaden pro Bundesbürger von etwa 125
bis 375 Euro entspricht. Insbesondere die Wirt-
schaftsethik fordert hier, dass die Wirtschaft der
Gesellschaft zu dienen habe und nicht umge-
kehrt.
Wieder einmal steht die Finanzbranche am
Pranger. Warum, wo sie doch einst so seriös war,
dass sie vielen als langweilig erschien? Wie viele
Anleger wurden durch die Finanzkrise geschä-
digt? Es wurden Produkte an Kunden verkauft,
deren Nutzen zweifelhaft war für die Bank, die
aber hohe Profite einbrachten. Das Vertrauen in
die Branche ist schwer erschüttert.


Finanzbranche erneut am Pranger
Dabei scheint sich dieses Geschäftsmodell zu-
mindest nicht langfristig auszuzahlen. Die Ban-
kenbranche wurde mit Steuergeldern gerettet
und ist von der Finanzkrise immer noch schwer
angeschlagen. Es gab hohe Strafzahlungen und
nach der Finanzkrise neue Skandale wie beim Li-
bor- und Goldfixing und den Derivateskandal mit
den Kommunen. Dann rutschte die Branche in
die Euro-Staatsschuldenkrise. Auch hier wurden
mit Steuergeldern Rettungsfonds für die maro-
den südeuropäischen Staaten aufgebaut, was den
Banken Totalausfälle bei den erworbenen Staats-
anleihen ersparte. Und nun kommt der Cum-Ex-
Skandal ans Licht, bei dem gerade Steuergelder
in die eigenen Kassen umgelenkt wurden. Was ist
das für ein Berufsethos? Was ist das für eine Un-
ternehmenskultur?
Bei den Cum-Ex-Geschäften verkaufte jemand
seine Aktien um den Dividendenstichtag mehr-
mals oder verkaufte Aktien, die er gar nicht be-
saß. In der Folge stellten die Banken den Erwer-
bern mehrmals eine Abgeltungsteuerbescheini-
gung aus, also auch für Steuern, die nicht gezahlt
wurden. Institutionelle Investoren, Privatanleger
und Banken teilten sich so scheinbar sorglos
über viele Jahre unberechtigt die doppelten Steu-
errückerstattungen. Aber auch den Wirtschafts-
prüfungsgesellschaften ist wie im Lux-Leak-Skan-
dal nichts negativ aufgefallen.
Dabei war der Steuerschaden offensichtlich,
sodass den Akteuren keine gute Gesinnung un-
terstellt werden kann. Ob die Akteure sich – wie
Kant es mit seinem kategorischen Imperativ for-
dert – gefragt haben, was passieren würde, wenn
das jeder so machen würde? Ein Mittelständler
könnte so gesehen auch versuchen, seine gekauf-
te Maschine zweimal abzusetzen, oder eine Pri-
vatperson bei der Pendlerpauschale doppelt kas-
sieren. Die Steuermoral wird untergraben. Der
Ehrliche fühlt sich als der Dumme.
So etwas kann die Bereitschaft, Steuern zu
zahlen, und die Hemmschwelle bei Steuerhinter-
ziehung verringern. Und es gibt auch noch die


Cum-Cum-Geschäfte, bei denen Aktien von aus-
ländischen Anlegern am Dividendenstichtag
nach Deutschland verliehen werden, damit die
Kapitalertragsteuer abzugsfähig wird. Zwar wur-
de hier nicht doppelt kassiert, aber zumindest
die Steuer umgangen. Auch hier sind viele Ban-
ken involviert.
Dabei sind nicht alle Banker schlecht. Die
meisten Banker arbeiten seriös als Angestellte
mit normalen Gehältern und beraten zum Wohle
der Kunden oder vergeben nach sorgfältiger Prü-
fung Kredite an Unternehmen. Sie sind also nut-
zenstiftend für die Gesellschaft. Vielmehr sind
sie als Teil der Branche wie die Aktionäre die Op-
fer des Fehlverhaltens anderer. Das Problem liegt
wieder einmal im angelsächsisch geprägten In-
vestmentbanking. Hauptangeklagte des Prozes-
ses sind zwei britische Investmentbanker, die für
die Hypo-Vereinsbank (HVB) 400 Millionen Euro
Steuern hinterzogen haben sollen.
Im Aktienhandel gibt es nur wenig Möglichkei-
ten, Zusatzerträge zu generieren. Da müsste es
für die Mitarbeiter eigentlich ein Festgehalt ge-
ben. Stattdessen gibt es großzügige variable Ent-
lohnungssysteme, die zu perversen Anreizen, so-
genannten „Moral Hazards“, führen. Der Anreiz
für die Banker zu tricksen ist sehr hoch. Einer
der angeklagten Briten hat demnach zwischen
2006 und 2011 zwölf Millionen Euro verdient.
Diese „Boni“ waren auch einer der Hauptgründe
für die Finanzkrise. Auch dort muss man davon
ausgehen, dass viele wussten, dass die US-Immo-
bilienkredite schlecht waren, und trotzdem hat
man sie verkauft, um möglichst viel Boni zu kas-
sieren.
Hinterher mussten die Banken als Arbeitgeber
oder besser die Aktionäre als deren Eigentümer
die Strafen bezahlen. Die Investmentbanker wur-
den fast alle nicht behelligt und mussten nichts
zurückzahlen. Wir haben an der Hochschule für
Technik und Wirtschaft Saar nachgewiesen, dass
einseitige variable Entlohnungssysteme zu einer
sehr hohen Risikobereitschaft führen. So wird
man auch die hohen Bestände an risikoreichen
südeuropäischen Staatsanleihen bei deutschen
Banken in der Euro-Staatschuldenkrise erklären
können.
Staat hat lange ein Auge zugedrückt
Warum der Staat bei den Cum-Ex-Geschäften so
lange untätig war, ist schwer nachvollziehbar.
Gab es eine juristische Unsicherheit aufgrund
von Rechtsgutachten? Das ist schwer zu glauben,
wo doch Steuergelder doppelt erstattet wurden.
Rechtsgutachten schützen auch nicht vor Straf-
verfolgung. Rechtsgutachten sind keine Recht-
sprechung und werden bezahlt, woraus wie bei
den Ratings in der Finanzkrise Interessenkonflik-
te entstehen können. Es gilt aber bekannterma-
ßen, dass auch Unwissenheit nicht vor Strafe
schützt. Und wenn etwas nicht explizit verboten
ist, ist es auch noch lange nicht erlaubt, zumin-
dest wenn man wie bei der doppelten Erstattung
von Steuern eigentlich von einer Unrechtmäßig-
keit ausgehen muss.
Im Jahr 2012 trat eine Gesetzesänderung in
Kraft, die die Cum-Ex-Geschäfte explizit verhin-
dern sollte. 2013 bezeichnete dann die Bundesre-
gierung die Cum-Ex-Geschäft anlässlich einer
parlamentarischen Anfrage als „illegal“. Danach
folgte die Strafverfolgung mit zahlreichen Raz-
zien. Mangelnde staatliche Kontrolle darf aber

nicht als Ausrede für die eigene moralische Ver-
antwortung genommen werden, ebenso wenig
Gesetzeslücken.
Ethisch muss man an den Folgen des eigenen
Handelns gemessen werden, soweit diese er-
kennbar waren. Es gibt keinen totalen Überwa-
chungsstaat – und wer will das? Ehrlichkeit muss
sich aber auch auszahlen und darf nicht als
Dummheit gelten, deshalb muss der Staat bei Re-
gelverstößen hart durchgreifen. Und wahrschein-
lich werden die Banken, die die falschen Beschei-
nigungen ausgestellt haben, die zu viel rückver-
gütete Steuer zurückzahlen müssen.
Anschließend werden die Finanzhäuser dann
versuchen, sich das Geld bei den Begünstigten
zurückzuholen, also bei den Anlegern und auch
bei den eigenen Mitarbeitern.
Vielleicht liegt hier auch in Einzelfällen Un-
treue vor. Falls die Bonner Richter zu dem
Schluss kommen, dass es sich um Steuerhinter-
ziehung handelte, müssen die Angeklagten mit
Freiheitsstrafen rechnen, da der Bundesgerichts-
hof entschieden hat, dass ab einer Steuerhinter-
ziehung von einer Million Euro keine Bewäh-
rungsstrafe mehr möglich ist.

Falsche Anreize gibt es immer noch
Schon die Finanzkrise offenbarte die unethische
Unternehmenskultur im angelsächsisch gepräg-
ten Investmentbanking. Dort findet man wenig
Loyalität, aber vielmehr die Gier, kurzfristig reich
zu werden, und dies zur Not auch auf Kosten
Dritter wie im Fall der Finanzkrise oder des ma-
laysischen Staatsfonds.
Das Verhalten der Banker hat sich nach der Fi-
nanzkrise nicht wesentlich geändert. 2013 waren
52 Prozent der befragten Wall-Street-Mitarbeiter
überzeugt, dass die Konkurrenz in „illegale oder
unethische“ Aktionen verstrickt sei. 29 Prozent
hielten unethische oder illegale Tricks für not-
wendig, „um erfolgreich zu sein“. Ein Viertel der
Befragten wären zu Insiderhandel bereit, „wenn
sie damit ungeschoren mindestens zehn Millio-
nen Dollar verdienen könnten“. Und 26 Prozent
sind der Meinung, „dass die Vergütungspläne
oder Bonusstrukturen ihrer Unternehmen An-
sporn seien, ethische Normen zu verraten oder
das Gesetz zu brechen“.
Das Schlimme ist, dass die Cum-Ex-Geschäfte
über viele Jahre Standard im Investmentbanking
vieler Banken waren. Alle haben sich daran be-
reichert, und niemand hat es hinterfragt, als Un-
moral zur Unternehmenskultur wurde. Man hört
dann oft als Rechtfertigung: „Alle machen es so“,
oder: „Wenn wir es nicht machen, macht es die
Konkurrenz“, oder: „Wenn der Staat dies zulässt,
ist er selber schuld.“ Dabei wäre es zumindest
die Aufgabe der Führungskräfte gewesen, trotz
Rechtsgutachten die Legitimität und Legalität
der Cum-Ex-Geschäfte zu hinterfragen. Waren es
dann die richtigen Führungskräfte? Die Füh-
rungskräfte haben aber selbst mit ihren Boni an
den Ex-Cum-Geschäften mitverdient. Moralöko-
nomisch haben so gesehen wieder einmal die fal-
schen Anreize das unethische Verhalten verur-
sacht. Hier bleiben Staat und Bankeigentümer in
der Verantwortung, einen besseren Handlungs-
rahmen zu schaffen.

Und ewig


lockt die Gier


Der Cum-Ex-Prozess zeigt, dass die Finanzbranche


wenig gelernt hat, sagt Christian A. Conrad.


Moralöko -
nomisch
haben wieder
einmal die
falschen
Anreize das
unethische
Verhalten
verursacht.
Hier bleiben
Staat und
Bankeigen -
tümer
gefordert.

Der Autor lehrt Volkswirtschaftslehre und
Wirtschaftsethik an der Hochschule für
Technik und Wirtschaft des Saarlandes.

HTW Saar [M]


Gastkommentar


(^64) WOCHENENDE 1./2./3. NOVEMBER 2019, NR. 211

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