Die Welt Kompakt - 05.11.2019

(Steven Felgate) #1

DIE WELIE WELIE WELTKOMPAKTTKOMPAKT DIENSTAG,5.NOVEMBER2019 FORUM 15


W


ie gewinnt man Wahlen
in der Mitte? Bill Clin-
tons damaliger Berater
James Carville brachte es
Anfang der 1990er-Jahre auf die berühm-
te Formel: „It’s the economy, stupid.“
Man könnte es übersetzen mit: Wahlen
werden im Geldbeutel entschieden.
Sprich: Es geht nicht um abstrakte Wer-
te und Ideen. Wer Mehrheiten erringen
will, muss dafür sorgen, dass die Men-
schen gute Jobs haben und genug Geld,
damit es ihren Familien gut geht.
Die geschwächten deutschen Volks-
parteien scheinen diese Grundregel
vergessen zu haben. Wirtschaftsboom,
Vollbeschäftigung und Steuersegen hal-
ten schon so lange an, dass sie inzwi-
schen als Normalzustand gelten. Geld-
fragen werden seltsam schulterzuckend
behandelt – und erstaunlich selten und
leise danach gefragt, was eine Entschei-
dung für den Wohlstand des Landes
bedeutet. Das berührt den Kern der
Demokratie, nämlich das Vertrauen des
Volkes in seine gewählten Vertreter. Der
Bürger vertraut sein nicht unerhebliches
Steuergeld dem Staat an – und verlässt
sich darauf, dass es verantwortungsvoll
verwendet wird.
In Deutschland fielen paradoxerweise
zuletzt drei große Einschnitte in die
Zeit der größten wirtschaftlichen Pros-
perität: die Energiewende, die Euro-
Rettung und die Flüchtlingskrise. Alle
drei Herausforderungen sind mit extrem
hohen Kosten verbunden. Und doch
setzte sich in allen drei Fällen ein „Kos-
te es, was es wolle“-Narrativ durch. Für
das angeblich Gute und Richtige müsse
alles getan werden – finanzielle Details
wurden sekundär. Die neuen Klimage-
setze gehören auch in diese Tradition,
speisen sie sich doch aus dem Geist der
Energiewende, der von Fridays for Futu-
re wieder wachgerufen wurde. Die ver-
gangenen Wochen haben gezeigt: Union
und SPD haben nichts gelernt aus ihren
Fehlern. Man spricht zwar über die
Kosten, lässt aber die Botschaft mit-
schwingen: Die Bedrohung ist akut, die
Aufgabe so wichtig – Geld darf in dieser
Frage keine allzu große Rolle spielen.
Die moralisch überhebliche Attitüde
im Umgang mit dem von den Bürgern
erwirtschafteten Wohlstand ist ein oft
übersehener Grund für die Abkehr vieler
Wähler von den Parteien der Mitte. Die
AfD hat die Klimafrage nun jüngst zu
ihrem Topthema gemacht. Und es zeich-
net sich bereits ab, dass die Partei kei-
neswegs versuchen wird, den Klimawan-
del zu leugnen. Sondern sich darauf
kaprizieren wird, offensiv nach den
Kosten zu fragen. Eine Strategie, die sie
im Laufe der anderen großen Krisen erst
groß hat werden lassen. Die Partei ent-


„It’s the economy, stupid!“


Euro, Flüchtlinge, Klima: Die drei großen Krisen


fielen und fallen paradoxerweise in ökonomisch


einmalig gute Zeiten. Die etablierten Parteien


stellten in dieser Zeit moralische über finanzielle


Fragen. Das Vertrauen der Bevölkerung erodiert


KLAUS GEIGER

LEITARTIKEL


Die Bundesbürger wollen wissen,


welche Alternativen es gibt. Es geht


um ihr Geld und um ihren Wohlstand


der Apokalyptik von Grünen und Fri-
days For Future, signalisiert die Bundes-
regierung: Wer nicht mit uns ist, ist
gegen uns. Das Klimapaket passierte im
Eiltempo das Kabinett. Die Anhörungen
von Experten wurden abgekürzt.
Euro, Migration, Energie/Klima –
diese Topoi haben die Bundesrepublik
tief gespalten. Wenn sich die Bürger in
der Rezession wieder verstärkt Sorgen
um ihren Geldbeutel machen werden,
droht dies das Land zu zerreißen. Diese
Sorgen bewegen alle Schichten der Be-
völkerung. Die mit ihnen verbundenen
Entscheidungen sind so komplex, dass
sie nur gelöst werden können mit Dis-
kussion, klugem Abwägen und Augen-
maß. Deshalb wären sie eine große
Chance für die Parteien der Mitte, für
die (nun ehemaligen) Volksparteien

gewesen. Statt den Populismus von
Linken, Grünen oder AfD in ihren ex-
tremen Antworten auf die Krisen zu
kopieren. Die Bundesbürger wollen
wissen, welche Alternative es gibt und
wie viel diese sie kostet. Sie haben das
Recht auf eine Begründung, warum ihr
Geld für Menschen in südeuropäischen
Staaten verwendet wird, nicht für Schu-
len in Deutschland. Warum es für die
Integration von Flüchtlingen verwendet
wird, nicht für Infrastruktur oder In-
novation. Warum damit der epochale
Umbau der Energieversorgung bezahlt
wird, nicht jener der Bundeswehr.
Es geht um klare Prioritäten – und
um Gerechtigkeit. Nicht nachvollziehbar
war, warum bei der EEG-Umlage sozial
schwache Mieter die Solardächer von
Gutverdienern subventionierten. Oder
warum künftig Menschen womöglich auf
ihren Sommerurlaub mit den Kindern
verzichten müssen, während Gutver-
diener höhere Ticketpreise locker zah-
len. Das aktuelle Klimapaket läuft de
facto auf eine Verbrauchsteuer hinaus –
und belastet Menschen mit niedrigem
Einkommen relativ stärker als Gutver-
diener. Wenn die Preise für jeden iden-
tisch steigen, dann ist die Teuerung
prozentual bei den Ärmsten am höchs-
ten. Wozu das führen kann, konnte
Deutschland an den Gelbwesten in
Frankreich sehen – die ursprünglich aus
Protest gegen zu hohe Öko-Abgaben auf
die Straße gegangen waren. Aber
Schwarz-Rot denkt kaum an Gelbwesten
und viel an streikende Schüler.
Die Krisen müssen gerecht und be-
zahlbar gelöst werden. Die Deutschen
müssen das Gefühl haben, dass die Bun-
desregierung verantwortungsvoll mit
dem Geld der Bürger umgeht. So, dass
sie und ihre Familien in eine gute Zu-
kunft blicken können. „It’s the economy,
stupid.“
[email protected]

ǑǑ


stand bekanntlich in Reaktion auf den
Umgang der etablierten Parteien mit der
Euro-Krise. Angela Merkel nannte die
Euro-Zone damals eine „Schicksals-
gemeinschaft“, die gemeinsame Wäh-
rung sei deshalb „alternativlos“. 120
Milliarden Euro sollten die Bürger da-
mals auf Basis dieser lapidaren Begrün-
dung für die Rettung der Währungs-
union riskieren. Viele Bundesbürger
aber wollten keine „Schicksalsgem-
einschaft“-Romantik, sondern ihren
Verstand benutzen und Für und Wider
abwägen – auch wegen der Kosten.
In der Flüchtlingskrise wiederholte
sich das Muster. Wieder war Gesinnung
wichtiger als die Geldfrage. Ein großer
Teil der Bürger fragte sich, was die
Ankunft von einer Million wenig ge-
bildeter Menschen für das Land bedeu-
tet, für Arbeitsplätze, Schulen, Infra-
struktur. Die Antworten der Regie-
rungsparteien auf diese Fragen empör-
ten viele Bürger, die mit ihren Steuern
den Wohlstand des Landes sichern
und/oder spitz rechnen müssen, um
ihren Familien ein gutes Leben zu er-
möglichen. Politiker sagten Dinge, die
unverschämt, im besten Fall frappie-
rend naiv waren. Der damalige SPD-
Justizminister Heiko Maas behauptete
ungeniert im Fernsehen, es werde we-
gen der Ausgaben für die Flüchtlinge
„an keiner anderen Stelle bei Sozial-
leistungen oder wo auch immer jeman-
dem etwas weggenommen“.
Das offensichtliche Faktum, dass man
Geld nur einmal ausgeben kann – und es
natürlich bei Bildung, Infrastruktur oder
Verteidigung fehlen würde, wenn man es
für Integration ausgibt – verschwieg der
Minister. Es ging um nicht weniger als
20 Milliarden Euro pro Jahr. In der Kli-
makrise kehrt die Argumentation zu-
rück: Ja, es kostet Geld. Aber wer will
schon nach den Kosten fragen, wenn es
gilt, das Richtige zu tun? Getrieben von

KOMMENTAR


J


eden Freitag streiken Schü-
ler auch hierzulande wegen
der Klimakrise. Zu Tausen-
den gehen sie bei Fridays for
Future auf die Straße und greifen
die Regierung lautstark wegen der
aus ihrer Sicht verfehlten Klima-
politik an.
Es ist erstaunlich, dass sich der
jugendliche Protest auf diesen
Bereich beschränkt. Mindestens
genauso stark wie die Folgen der
Klimakrise dürfte die Generation
Greta von der finanziellen Last
getroffen werden, die ihr von der
großen Koalition in den letzten
Jahren aufgebürdet wird. Nach der
Rente mit 63, Mütterrente oder der
Angleichung der Ostrente soll jetzt
die Grundrente kommen. Alle
haben eins gemeinsam: Stets einigt
sich die Bundesregierung auf Pro-
jekte, die kurzfristig die ältere
WWWählerschaft besänftigen sollen,ählerschaft besänftigen sollen,
um sich in einigen Jahren als sozi-
alpolitischer Sprengstoff zu ent-
puppen. Die Großzügigkeiten ge-
hen über die eigentlich erworbenen
Rentenansprüche hinaus. Die große
Koalition verteilt Geschenke und
verschärft das demografische Pro-
blem noch weiter. Die Zeche zahlen
wieder einmal die Jungen. Knapp
zzzwei Milliarden Euro pro Jahr sollwei Milliarden Euro pro Jahr soll
die Grundrente wohl in dem Sze-
nario kosten, auf das sich Union
und SPD zubewegen. Das wäre
zzzwar weniger als der Vorschlag vonwar weniger als der Vorschlag von
Arbeitsminister Hubertus Heil
(SPD), der zwischen fünf und sie-
ben Milliarden gekostet hätte. Aber
immerhin zehnmal so viel, wie im
Koalitionsvertrag ursprünglich
vereinbart wurde.
Besonders bitter ist, dass die
Grundrente nicht einmal denjeni-
gen hilft, die sie wirklich bräuch-
ten. Am stärksten von Altersarmut
bedroht sind Langzeitarbeitslose,
Selbstständige, die nicht vorsorgen,
und Erwerbsgeminderte. Von der
Grundrente profitiert keine dieser
Gruppen. Denn diese setzt als
Kriterium 35 Arbeitsjahre an. Ohne
eine strenge Bedürftigkeitsprüfung
wwwürden stattdessen vor allem Frau-ürden stattdessen vor allem Frau-
en profitieren, die lange in Teilzeit
gearbeitet haben. Zumeist konnte
sich diese Gruppe ebenjenes Ar-
beitsverhältnis leisten, weil ihre
Ehemänner gut verdienten.
Der Aufschrei der Jungen müss-
te laut sein. Doch es regt sich kein
Protest. Für die meisten scheint
die Rente noch zu weit weg. So
macht es die Jugend der Politik
leicht, sie immer wieder zu überge-
hen. Wenn nicht schleunigst ein
Umdenken stattfindet, wird das
nächste Rentengeschenk nicht
lange auf sich warten lassen. Dabei
müsste es die Jugend längst besser
wissen. Denn die Fridays-for-Futu-
re-Proteste haben bewiesen, dass
eine geschlossene Generation
durchaus Einfluss auf die Regieren-
den haben kann.

MORITZ SEYFFARTH

Rettet eure


Rente!

Free download pdf