Die Welt Kompakt - 05.11.2019

(Steven Felgate) #1

DIE WELIE WELIE WELT KOMPAKTT KOMPAKT DIENSTAG, 5. NOVEMBER 2019 WISSEN 27


auch andere klinische Zeichen
des Todes auftreten – ist der
Tod unumkehrbar eingetreten.
Leichenflecken entstehen bei-
spielsweise dadurch, dass das
Herz das Blut nicht mehr durch
den Körper pumpt, es dann si-
ckert langsam in das Gewebe.
An den Stellen, die nach unten
gerichtet sind – wenn der Tote
beispielsweise auf dem Rücken
liegt also am Rücken, im Na-
cken, an den rückseitigen Ar-
men und Beinen – werden Lei-
chenflecken sichtbar. Die Haut
fffärbt sich dort etwa 20 Minutenärbt sich dort etwa 20 Minuten
nach Eintritt des Todes bläu-
lich-rot.

Ein weiteres Todeszeichen ist
die Leichenstarre, vor der sich
viele Menschen gruseln. Es
passt einfach nicht zu unserer
VVVorstellung eines Menschen,orstellung eines Menschen,
dass der Körper nicht weich
und warm ist, sondern kalt
und starr wie eine Puppe. Wa-
rrrum wird der Körper steif?um wird der Körper steif?

Der Energieträger in den Mus-
kelzellen, das so genannte ATP,
ist nach dem Tod zunächst noch
vorhanden. Sinkt die Konzen-
tration des ATP, so versteifen
die Muskelfasern, meist passiert
das nach etwa zwei Stunden.
Nach einer gewissen Zeit er-
schlaffen die Muskeln in Folge
von chemischen Abbauprozes-
sen wieder. Das ist ein biologi-
scher Prozess, der schneller ab-
läuft, je wärmer es ist. Für uns
bedeutet das: Im Sommer lässt
die Leichenstarre schneller
nach als im Winter, wo sie unter
bestimmten Bedingungen Tage
lang feststellbar sein kann.

Gibt es noch weitere Todes-
merkmale?
Ja, nach dem Tod setzt früher
oder später die Fäulnis ein. Bak-
terien, die wir in unserem Darm
tragen, beginnen dann, den Kör-
per zu zersetzen. Das sieht man
meist zuerst an einer grünlichen
VVVerfärbung am rechten Unter-erfärbung am rechten Unter-
bauch, wo die Darmwand beson-
ders nah an der Bauchwand liegt.
Im Sommer kann das bereits
nach einem Tag sichtbar sein.

Im Fernsehen sieht man oft,
dass den Toten die Augenlider
geschlossen werden – passiert
es oft, dass Menschen mit of-
fffenen Augen sterben?enen Augen sterben?
Das kommt vor, früher hat man
in diesen Fällen den Toten gele-

U


nerklärliche Todes-
fffälle und Patienten-älle und Patienten-
geschichten haben
Kathrin Yen bereits
fffasziniert, als sie noch nicht ein-asziniert, als sie noch nicht ein-
mal für das Medizinstudium
eingeschrieben war. Seit knapp
2 0 Jahren obduziert die Profes-
sorin von der Rechtsmedizin
der Uniklinik Heidelberg nun
Leichen und sucht nach ihren
Todesursachen. Am Telefon er-
zählt sie, welchen Mythen sie im
AAAlltag immer wieder begegnet.lltag immer wieder begegnet.


VON PIA HEINEMANN

WELT:Frau Yen, für Sie sind
Tote etwas völlig Normales –
anders als für die meisten an-
deren Menschen. Ernten Sie
irritierte Blicke, wenn Sie neu-
en Bekannten von ihrem Beruf
erzählen?
KATHRIN YEN:Nein, im Gegen-
teil. Die Menschen haben ein
sehr großes Interesse am The-
ma Tod. Kürzlich habe ich einen
VVVortrag zu Thema gehalten, esortrag zu Thema gehalten, es
hat mich selbst etwas über-
rascht, wie voll der Hörsaal war.
Der Tod ist heute ein größeres
Tabu als noch vor einigen Jahr-
zehnten. Es wird nicht mehr in
der Familie gestorben, Alte und
Kranke werden in Kliniken und
Pflegeheime gebracht. Kaum je-
mand begleitet das Sterben ei-
nes Angehörigen noch zuhause.
Das Sterben passt nicht in unse-
re Zeit, in der Jugend, Makello-
sigkeit und Aktivität als Ideal-
bild des Menschen gelten. Aber
umso mehr Fragen haben die
Menschen zum Tod.


Zumal es ja auch beruhigend
sein kann, wenn man genau
weiß, was beim Sterben mit
dem Körper passiert. Was ist
fffür Sie als Rechtsmedizinerinür Sie als Rechtsmedizinerin
der Tod?
Er ist auf jeden Fall nicht nur
einfach das Ende des Lebens.
Der Tod ist in der überwiegen-
den Zahl der Fälle ein fließender
Übergang, ein Mensch ist nicht
von einem Moment auf den an-
deren tot. Das passiert nur,
wenn der Körper plötzlich mas-
siv verletzt wird. In der Regel
läuft das Sterben schleichend
aaab, es ist, wenn man es rein bio-b, es ist, wenn man es rein bio-
logisch betrachtet, ein mehr
oder weniger lange dauernder
Prozess. Als Rechtsmediziner
wollen wir jedoch oft herausfin-
den, wann genau ein Mensch ge-
storben ist. Dafür gibt es Me-
thoden, die jedoch nicht auf die
Minute genau sind, wie es in
Krimis manchmal gezeigt wird.
Dass der Tod eingetreten ist,
kann man anhand von drei typi-
schen, „sicheren“ Todesanzei-
chen erkennen.


Für Sie reicht es also nicht aus
zu wissen, dass ein Mensch
nicht mehr atmet und sein
Herz zu schlagen aufgehört
hat?
Nein. In diesem Fall könnte er
ja, im besten Falle erfolgreich,
reanimiert werden. Erst, wenn
sichere Todeszeichen vorliegen



  • Leichenflecken, Leichenstar-
    re, der Eintritt von Fäulnis oder


gentlich eine Münze oder etwas
ÄÄÄhnliches auf die Augen gelegt,hnliches auf die Augen gelegt,
damit sich die Lider schließen.
Viele Menschen sterben aber
auch mit geschlossenen Augen.
Sie sehen friedlich aus, wie
schlafend, oft selbst wenn sie
durch einen Unfall oder durch
einen gewaltsamen Akt ums Le-
ben gekommen sind.

WWWie erklären Sie sich das?ie erklären Sie sich das?
Zum einen erschlafft die gesam-
te Muskulatur mit dem Tod und
die Gesichtszüge entspannen
sich. Hirnforscher konnten aber
auch zeigen, dass das Gehirn in
den letzten Momenten, bevor es
seine Funktion einstellt, noch
einmal sehr aktiv ist. Es wird
zum Beispiel Dopamin ausge-
schüttet, das ist ein Botenstoff,
der auch für Glücksgefühle zu-
ständig ist. Außerdem gibt es im
Hippocampus eine erhöhte Ak-
tivität. Das ist die Hirnregion,
die essenziell für die Speiche-
rung von Erinnerungen ist.

Das hört sich so an, als ob die
Biologie uns das Sterben er-
leichtert. Lassen sich durch
diese physiologischen Prozes-
se auch Nahtoderfahrungen
erklären? Menschen, die reani-
miert wurden, berichten ja
manchmal, sie hätten ihr gan-
zes Leben noch einmal an sich
vorbeiziehen sehen...
Das könnte tatsächlich sein.
Zumindest scheinen viele
Menschen ganz zum Schluss
positive Empfindungen zu ha-
ben. Nach dem Stand der For-
schung und natürlich abhängig
vom todesursächlichen Ge-
schehen lässt sich auch vermu-
ten, dass viele Sterbende am
Ende keine Schmerzen mehr
haben, sie sind nicht mehr bei
Bewusstsein und bekommen
vom Tod wahrscheinlich gar
nichts mehr mit.

Das Sterben selbst kann aller-
dings ein sehr langer Prozess
sein, oft ist er qualvoll – wenn-
gleich die moderne Medizin
gggute Mittel hat, um Schmer-ute Mittel hat, um Schmer-
zen zu lindern.
Gerade bei Menschen, die
sehr alt oder krank sind, ist das
Sterben tatsächlich ein Vorgang,
der langwierig sein kann. Die
Organe versagen langsam. Die
Leber oder die Nieren arbeiten
nicht mehr richtig, das Herz
pumpt nur noch schwach, die
Bauchspeicheldrüse funktio-

niert nicht mehr gut. Ein Organ
gibt die Funktion auf, dann fol-
gen die anderen. Wenn das Hirn
oder das Herz irreversibel auf-
gehört haben zu arbeiten, spre-
chen wir in der Medizin vom In-
dividualtod. Danach setzt das
intermediäre Leben ein.

WWWas soll das sein?as soll das sein?
Zugegeben, das ist eine etwas
irreführende Bezeichnung, der
Mensch ist dann bereits tot,
man könnte ihn nicht mehr ins
Leben zurückführen. Mediziner
bezeichnen den Zustand des in-
termediären Lebens als einen
Zustand, in dem der Organis-
mus im Ganzen nicht mehr
lebt, einzelne Organe oder Ge-
webe aber durchaus noch funk-
tionsfähig sind. Diese Phase ist
fffür die Transplantationsmedi-ür die Transplantationsmedi-
zin sehr wichtig. Ärzte halten,
wenn ein Organspendeausweis
vorliegt, den Kreislauf des Ver-
storbenen dann mit künstli-
chen Maßnahmen stabil. Nur so
können sie die Organe für po-
tenzielle Organ-Empfänger ret-
ten. Das intermediäre Leben
kann einige Stunden andauern,
vor allem Hornhaut und Knor-
pelgewebe sind auch ohne Sau-
erstoff sehr lange lebensfähig.
WWWenn aber das letzte Organ, dieenn aber das letzte Organ, die
letzte Zelle tot sind, dann spre-
chen Mediziner vom biologi-
schen Tod.

Eine Krankenschwester hat
mir erzählt, sie habe das Ge-
fffühl, die Toten bekämen kurzühl, die Toten bekämen kurz
nachdem ihr Hirn und Herz
die Funktion eingestellt hät-
ten, doch noch etwas mit. Sie
wwwürden es merken, wenn manürden es merken, wenn man
sie streichelt und mit ihnen
spricht. Ist das Esoterik?
Ich würde nicht ausschließen,
dass es noch bis zum Schluss
unbewusste Reaktionen gibt –
allerdings setzen diese einen le-
benden Organismus voraus.
Nach dem unwiderruflichen
Eintritt des Todes, äußerlich er-
kennbar am Auftreten der ers-
ten sicheren Todeszeichen,
kann ich mir nicht mehr vorstel-
len, dass man noch etwas mitbe-
kommt.

Stimmt es, dass die Fingernä-
gel nach dem Tod weiterwach-
sen?
Nein. Dass die Fingernägel
von Toten häufig länger ausse-
hen als bei Lebenden hängt da-
mit zusammen, dass sich bei be-
stimmten Umgebungsbedin-
gggungen die austrocknende Hautungen die austrocknende Haut
zurückzieht. Ein rein optischer
Effekt. Ein weiterer Irrglaube
ist, dass die Toten noch seufzen
können. Tatsächlich kann es
passieren, dass aus der Lunge
Luft entweicht, wenn der Leich-
nam bewegt wird. Aber das ist
ein rein passiver Prozess.

WWWas ist mit Leichengift?as ist mit Leichengift?
Leichengift gibt es definitiv
nicht. Ich kann Ihnen versi-
chern: Leichen sind nicht giftig.
Natürlich sollte man nicht in
blutende Wunden greifen. Aber
Leichen sind im Grunde weni-
ger infektiös als Lebende. Sie

niesen und husten nicht und
können also Viren oder Bakte-
rien nicht aktiv verbreiten. Nie-
mand sollte Angst davor haben,
seine toten Angehörigen zu be-
rühren.

Haben sich die Gründe für das
Sterben in den vergangenen
Jahrzehnten in Deutschland
verändert?
Eigentlich nicht. Noch immer
sind Herz- und Lungenerkran-
kungen die Haupttodesursa-
chen. Noch immer sterben pro
Jahr rund 4000 Menschen
durch - vermeidbare - Verkehrs-
unfälle, die auf überhöhter Ge-
schwindigkeit, nicht angepass-
tem Verkehrsverhalten und Al-
kohol basieren. Die Zahl der Ar-
beitsunfälle hat abgenommen,
das liegt am besseren Arbeits-
schutz. Verändert hat sich aber
die Art der Fragestellungen, die
wir in der Rechtsmedizin prü-
fffen sollen. Früher wurde zumen sollen. Früher wurde zum
Beispiel nach einem Unfall ge-
fffragt, wie und woran der Toteragt, wie und woran der Tote
gestorben ist. Heute wird im-
mer häufiger auch gefragt, ob
der Notarzt noch etwas hätte
tun können.

Man glaubt also, der Arzt hät-
te vielleicht nicht gut genug
gearbeitet?
Der Verdacht steht heute jeden-
falls schneller im Raum als frü-
her, und das ist meist unbe-
gründet. Die Aufträge, bei de-
nen es um die Klärung mögli-
cher Behandlungsfehler geht,
haben stark zugenommen,
nicht aber die tatsächlich nach-
gewiesenen Behandlungsfehler.
Die moderne Medizin führt
auch dazu, dass Menschen ge-
rettet werden können, die ihre
Verletzungen oder Krankheiten
früher nicht überlebt hätten.
Dass man wirklich weiß, woran
die Menschen sterben, ist für
die Statistik und die daraus zu
ziehenden Schlussfolgerungen


  • auch im Hinblick auf Vorsor-
    gemaßnahmen und die medizi-
    nische Versorgung – enorm re-
    levant.


AAAber jeder Tote wird inber jeder Tote wird in
Deutschland doch von einem
AAArzt begutachtet, ohne einenrzt begutachtet, ohne einen
Totenschein kommt niemand
unter die Erde ...
Stimmt, aber die Leichenschau
wird viel zu häufig nicht fachge-
recht durchgeführt. Jeder Arzt,
ob Internist oder Augenarzt,
muss, wenn er angerufen wird,
einen Toten begutachten. Aber
leider sind viele Kollegen dazu
nicht ausreichend qualifiziert,
sie haben keine Erfahrung darin,
beispielsweise Angriffe gegen
den Hals zu identifizieren. Auch
kleine Einblutungen in den Au-
gen, die beim Ersticken auftre-
ten, werden häufig übersehen.
Ich glaube, dass Morde, aber
auch zahlreiche Unfälle und Sui-
zide in Deutschland nicht rich-
tig erkannt werden – mit allen
daraus entstehenden Konse-
quenzen. Eine Unfallversiche-
rung bezahlt zum Beispiel nur,
wenn ein Unfall auch korrekt
bescheinigt wurde.

Glücksgefühle


kurz vorm Ende


Was passiert, wenn ein Mensch stirbt?


Eine Rechtsmediziniren erklärt die


genauen Abläufe – und wie die Biologie


den Übergang erleichtert

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