Die Welt Kompakt - 05.11.2019

(Steven Felgate) #1
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Kultur und ihr Glaube. Die Berg-
landschaft und die Tempel, die
Situation, abgeschieden von den
Muslimen zu leben, all das erin-
nerte mich an meine eigene
Kindheit in Dersim. Ich bin in en-
gem Kontakt mit der Natur auf-
gewachsen, was auch eine wichti-
ge Rolle für meine Religion
spielt, in der Menschen im Ein-
klang mit der Natur leben und es
keine heilige Schrift gibt. Als
Kurdin und Alevitin weiß ich al-
so, wie es sich anfühlt, ausge-
grenzt zu werden. Ich erinnere
mich noch, wie ich als Siebenjäh-
rige einem muslimischen Nach-
barn an einem Feiertag eine Sup-
pe bringen wollte, die meine
Mutter gekocht hatte. Alle Nach-
barn machten das untereinander.
Doch er wies mich ab und sagte,
er nehme nichts zu essen von uns
an, da es unrein sei. Ich habe ge-
weint und es nicht verstanden.
Dieses Gefühl der Ablehnung, die
mir so grundlos erschien, werde
ich nie vergessen.


Wie kam es zu der Entschei-
dung, diesen Dokumentarfilm
über die Jesidinnen zu drehen
und ausgerechnet diese beiden
Schwestern auszusuchen?
Ich habe mich immer schon zu
den Jesiden hingezogen gefühlt,
da unsere alevitische Gemeinde
und die Jesiden ähnliche Wur-


zeln haben. Ich wollte ihnen eine
Stimme geben. Ich reiste im Mai
2014 in den autonomen kurdi-
schen Teil des Iraks, um mir ein
Bild von der Situation der Jesi-
den zu machen. Ich wollte die
Stimmen der Menschen hören,
die dort lebten. Ich filmte die
Landschaft und Menschen, habe
viele schöne und auch traurige
Szenen festgehalten. Drei Mona-
te, bevor ich dann zum zweiten
Mal hinfahren wollte, wurden
diese Menschen, die ich wieder-
sehen wollte, vom IS attackiert.
Es war ein Schock für mich. Da-
nach fuhr ich dann mit einem
deutschen Team nach Shingal,
um mit den Frauen und Mädchen
zu sprechen, die sich aus der Ge-
fangenschaft befreien konnten.

Sie sind kurz nach der Tyrannei
des IS in die Stadt gefahren, um
zu drehen? Hatten Sie nicht
Angst um Ihr Leben?
Bei den Dreharbeiten sind wir
von IS-Terroristen angegriffen
worden. Wir hatten großes
Glück. Eine Handgranate ver-
fehlte uns um vielleicht 30 Meter.
Dies war der Moment, in dem ich
verstanden habe, was Krieg ist.
Jemand will dich töten, obwohl
er nicht weiß, wer du bist. In den
Tagen danach bin ich nur noch
geduckt gelaufen, ich war nicht
mehr aufrecht. Durch dieses Er-

lebnis habe ich die Frauen, mit
denen ich sprach, noch besser
verstanden.
Als Sie dann dieses Jahr wieder
hinflogen, mussten sie zuvor ein
Sicherheitstraining bei der Bun-
deswehr machen.
Da ich 2019 im Auftrag des
ZDF in den Nordirak reiste, wur-
de ich dazu verpflichtet. Das
Training dauerte eine Woche
lang, mit dabei waren auch
Kriegsreporter. Wir waren eine
Woche lang mit Kommandanten
der Bundeswehr in einem künst-
lich aufgebauten Dorf mit Bun-
kern, haben Kriegsübungen ge-
macht und alles war authentisch
inszeniert. Am letzten Tag wur-
den wir für fünf Stunden als Gei-
seln genommen. Irgendwann
konnte ich nicht mehr und muss-
te die Übung abbrechen.

Sie haben im Irak mit Frauen
gesprochen, die unglaubliches
Leid erfahren haben. Wie ge-
lang es Ihnen, ihr Vertrauen zu
gewinnen?
Das ist schwer. Einige Frauen re-
den, aber sie können keine Gefüh-
le zeigen, nicht weinen. Manche
können auch gar nicht über ihre
Erlebnisse sprechen. In Dohuk
traf ich eine 14-Jährige, die in Ge-
fffangenschaft gewesen war. Ichangenschaft gewesen war. Ich
klebte ihr das Mikrofon an den
Körper. Sie zeigte keine Regung,

war völlig starr bei der Berührung,
wich nicht aus. Ich fragte mich die
ganze Zeit, was der Körper dieser
Frau erlebt haben musste. Sie
konnte dann auch nicht sprechen.
Sie öffnete den Mund, aber es ka-
men keine Worte heraus.

Ist es nicht unglaublich schwer,
das Schicksal dieser Menschen
mitzuerleben? Die Jesiden le-
ben weiterhin isoliert, bekom-
men kaum Hilfe von der inter-
nationalen Gemeinschaft, ob-
wohl der Völkermord als sol-
cher anerkannt wurde.
Ja. Und es macht mich sehr wü-
tend. Die Jesiden in Dohuk leben
heute noch immer in provisori-
schen Camps in Zelten, haben
kein Dach über dem Kopf. Die
Bedingungen sind unsäglich. Die
Leute dort können nichts tun, sie
können nicht mal Waren in den
umliegenden Regionen verkau-
fen, da ihre Nahrungsmittel in
der muslimischen Gemeinschaft
als unrein gelten. Es gibt keine
Perspektive, keine Aufgabe für
die Menschen. Die Situation der
Jesiden in den Flüchtlingslagern
wird immer elender. Als ich im
Jahr 2016 dort war und sie im
Camp besuchte, sind viele zu mir
gekommen und berichteten, wie
schlimm ihre Situation war. Drei
Jahre später redete keiner mehr
darüber, weil sie nicht damit

rechneten, dass ich ihnen helfen
konnte. Es ist unfassbar, dass die
300.000 Menschen in Flücht-
lingslagern mit ihren Kriegstrau-
mata seit 2014 immer noch im
Camp leben müssen. Fast jeder
möchte weg. Nach Europa, Aust-
ralien oder nach Kanada. In
Deutschland lebt die größte Dias-
poragemeinschaft der Jesiden.

Sie haben Ekhlas, die heute 19
Jahre alt ist, über viele Monate
begleitet und für ihren Film mit
vielen Frauen gesprochen. Was
hat Sie am meisten berührt?
Im Irak waren die Dreharbeiten
für uns alle sehr emotional.
Ekhlas war zu Hause, war viel
entspannter als in Deutschland.
Sie hat manchmal vergessen,
dass wir filmten oder überhaupt
da waren. Als wir in Lalisch im
Tempel der Jesiden waren, konn-
te sich auch endlich Makboule
entspannen. Die beiden Schwes-
tern haben sich erst im heiligen
Wasser gereinigt und konnten
dann über alles sprechen, was sie
erlebt hatten. Irgendwann be-
gann Makboule zu weinen. Eine
Stunde lang.

TDie 45-minütige Filmdoku-
mentation „Ich will Gerechtig-
keit!“ läuft am 5. November um
2 3.25 Uhr im TV-Sender 3sat in
der Reihe „Ab 18“.

DIE WELIE WELIE WELT KOMPAKTT KOMPAKT DIENSTAG, 5. NOVEMBER 2019 PANORAMA 31


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