Die Welt Kompakt - 05.11.2019

(Steven Felgate) #1

DIE WELIE WELIE WELT KOMPAKTT KOMPAKT DIENSTAG, 5. NOVEMBER 2019 POLITIK 9


gerechtes-netz.eu

Die journalistische Arbeit anderer
zum Nulltarif nutzen und damit
europäisches und – wie aktuell
in Frankreich – nationales Recht
bewusst ignorieren:

NICHT OK GOOGLE


Kann sich keine


Demokratie leisten:


Pressefreiheit zum


Nulltarif.


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Verteidigungsminister Mark Es-
per kürzlich. „Ich meine, dass sie
sich herausbewegen aus dem
westlichen Orbit.“
Eine weitere Sorge, die Exper-
ten umtreibt: Die Türkei ist zum
Tummelplatz für islamistische
Extremisten geworden. Terror-
gruppen könnten versuchen, ei-
nen Angriff auf Incirlik zu star-
ten, um an die Bomben zu kom-
men. Lewis ist jedenfalls beunru-
higt vom allgemeinen Nieder-
gang der amerikanischen Sicher-
heitskultur im Umgang mit
Atomwaffen. Ein Beispiel seien
etwa die Friedensaktivisten in
Belgien, die sich vor einiger Zeit
Zugang zu einem Atomhangar
verschafft hätten, weil jemand
einfach die Tür offen stehen ließ.
„Wir haben immer wieder gese-
hen, dass das Personal, welches
die Waffen bewacht, oft Sicher-
heitsprotokolle missachtet“, sagt
Lewis. Und das sei in einem Ge-
fahrenumfeld wie in der Türkei
gravierender als anderswo. „Es
reicht, dass eine Terrorgruppe
einmal versucht, an die Waffen
zu kommen, wenn die Sicherheit
nicht gewährleistet ist, dann wer-
den sie erfolgreich sein.“
In einem jüngsten Artikel
schlägt auch Hans Kristensen,
Nuklearwaffenexperte der Fede-
ration of American Scientists,
Alarm. Er schreibt, die Frage wer-


de noch akuter dadurch, dass die
derzeit in der Türkei lagernden
Atomwaffen vom Typ B61 in den
kommenden Jahren durch mo-
dernere Lenkflugkörper vom Typ
B61-12 ersetzt werden sollen. Das
käme einer Neuverpflichtung der
USA gleich, weiterhin Kernwaf-
fen in der Türkei zu lagern. 60
Jahre nach dem Beginn der Sta-
tionierung von Nuklearwaffen im
Land sei es aber nun „an der Zeit,
sie nach Hause zu bringen“, so
Kristiansen.
Offiziell gibt die US-Regie-
rung sich zugeknöpft bei dem
Thema. Das schürte schon in der
Vergangenheit Gerüchte. Etwa
jenes, die Waffen seien nach
2016 weggeschafft worden und
befänden sich inzwischen in Ru-
mänien. Doch das ist offenbar
nicht der Fall, wie die von der
„Times“ berichteten Planspiele
für einen Abzug zeigen. Auch auf
der Webseite des in Incirlik sta-
tionierten „39th Operations
Support Squadron“ finden sich
Hinweise auf den Verbleib der
Nuklearwaffen am Standort.
Dort ist die Rede davon, das Ge-
schwader unterstütze die von
Incirlik aus operierenden türki-
schen, amerikanischen und ver-
bündeten Kräfte „im umfassen-
den Spektrum von Luftoperatio-
nen und bei Operationen nu-
klearer Abschreckung“.

Kritiker wie Lewis sagen, In-
cirlik sei der am schlechtesten
gesicherte Nuklearstandort der
Amerikaner weltweit. Doch was
für ein Signal würde ein Abzug
gerade jetzt setzen? „Weil die
USA so lange gewartet haben mit
dem Abzug, hat man sich selbst
in eine Ecke gedrängt, in der die
Wahl zwischen Nuklearsicher-
heit einerseits und einem Im-
Stich-Lassen der Türkei anderer-
seits unnötig zugespitzt und
dringlich geworden ist“, schreibt
Kristensen.
Andere Experten warnen des-
halb vor voreiligen Aktionen.
Bruno Tertrais, stellvertretender
Direktor der Fondation pour la
recherche stratégique in Paris
und Berater der Regierung, ist
skeptisch, ob es wirklich so
dringlich ist, die Atomwaffen zu
verlegen. Entsprechende Schre-
ckensszenarien gingen von der
Annahme aus, dass die Türken
oder eine andere fremde Macht
die Waffen an sich reißen könn-
ten, ohne das Feuer auf amerika-
nische Truppen zu eröffnen, weil
das eine Kriegserklärung gegen
die USA wäre, meint Tertrais.
„Selbst im außergewöhnlichen
Fall, dass es dazu kommt, ist die
Wahrscheinlichkeit extrem ge-
ring, dass Ankara sich die Waffen
zunutze machen könnte oder die
darin enthaltenen Materialien

extrahieren könnte“, erklärt Ter-
trais in einer E-Mail an WELT.
Schließlich würde das Zeit kosten
und die Amerikaner würden dem
nicht einfach zusehen. Tertrais
warnt hingegen vor den politi-
schen und strategischen Folgen
einer Verlegung.
„Ein unilateraler Abzug wäre
ein negatives Signal an die Tür-
kei, das die Beziehungen der Na-
to zu dem Land weiter ver-
schlechtern würde.“ Das könnte
als ein Zeichen empfunden wer-
den, dass Amerika die Türkei
aufgibt und der Türkei als Vor-
wand dienen, sich aus der Nato
und dem Atomwaffensperrver-
trag zurückzuziehen. „Das wäre
ein total kontraproduktives Sze-
nario“, glaubt Tertrais. Er hält es
fffür „außerordentlich unwahr-ür „außerordentlich unwahr-
scheinlich“, dass die Türkei in
solch einem Falle ein Staat blei-
ben würde, der auf die Entwick-
lung eigener Atomwaffen ver-
zichtet.
Tertrais warnt auch davor,
dass solch eine Entscheidung ei-
ne neue Debatte über amerikani-
sche Atomwaffen in einzelnen
europäischen Ländern auslösen
könnte, etwa in Deutschland,
Belgien, Italien und Großbritan-
nien. Ein Abzug aus der Türkei
könne dazu führen, das Konzept
der nuklearen Teilhabe insge-
samt infrage zu stellen, unter an-

derem wegen des anhaltenden
Unbehagens in der Bevölkerung
über die Stationierung von US-
Atomwaffen in ihrem Land.
Dazu kommt, dass die aus der
Türkei abgezogenen Waffen, etwa
ein Drittel der insgesamt in Euro-
pa stationierten US-Atombom-
ben, anderswo auf dem Kontinent
deponiert werden müssten, wenn
man die Abschreckungswirkung
erhalten will. Laut Lewis kämen
aus Sicherheitsgründen vor allem
die Standorte Lakenheath in
Großbritannien und Ramstein in
Rheinland-Pfalz in Betracht. In
Deutschland wäre das aber der-
zeit politisch wohl kaum durch-
setzbar.
Auch die US-Luftwaffenbasis
im norditalienischen Aviano sei
ausreichend gesichert, verfüge
aber nicht über genügend Platz,
um alle Bomben aus der Türkei
aufzunehmen. Solch einer Statio-
nierung zuzustimmen sei aber
für viele europäische Regierun-
gen keine Selbstverständlichkeit,
wie Tertrais anmerkt. Die Ameri-
kaner haben also im Grunde nur
schlechte Optionen. Entweder
nicht optimal gesicherte Atom-
waffen in der Türkei zu belassen
und das Risiko zu akzeptieren,
das damit verbunden ist. Oder
sie abzuziehen und damit unkal-
kulierbare politisch-strategische
Folgewirkungen auszulösen.
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