Neue Zürcher Zeitung - 01.11.2019

(Brent) #1

Freitag, 1. November 2019 WIRTSCHAFT 23


Was wäre, wenn unsere Lebenserwartung


auf 110 Jahre steigen würde? SEITE 25


Der Mafia-Jäger Raffaele Cantone glaubt, die organisierte


Krimin alität in Europa werde u nterschätztSEITE 27


Lieferdienst-Chaos auf New Yorks Strassen

Im Big Apple bewegen sich immer mehr Kuriere –das bel astet den Verkehr und stapaziert die Nerven


CHRISTOF LEISINGER, NEWYORK


«Das Internet verändert dieWelt.» Der
einst utopische Satz ist heuteRealität.
Nirgends zeigt sich das besser als beim
virtuellen Einkauf. Heute brauchen die
Konsumenten nach dem Blick auf den
Bildschirm eines elektronischen Geräts
nur mit dem Zeigefinger zu tippen – und
schon sind die bestelltenWaren unter-
wegs. Ein Lieferwagen bringt sie vorbei,
entweder schon bald oder dann morgen
oder übermorgen.Das scheint einfach
und bequem, spart Zeit und vielleicht
sogar Geld. Manche mögen sogar den-
ken, es sei umweltfreundlich.


RealwirtschaftlicherStress


Dass das so ist, ist umstritten. Schliess-
lich besteht das Internet im Grunde ge-
nommen aus vielen miteinander ver-
netztenRechenzentren, die gewaltige
Mengen Energie verschlingen.Kommt
es zu einer Bestellung, setzt sich schliess-
lich eine gewaltige Maschinerie in Gang,
die rein gar nichts mehr mit der harm-
los wirkenden Sterilität des auslösenden
Touch auf dem Smartphone, dem Tablet
oder dem Klickmit der Computermaus
zu tun hat. Im Gegenteil – eskommt zu
realwirtschaftlichem Stress.
In amerikanischen Städten zeigen
sich dieSymptome inzwischenTag für
Tag. Selbst in den beschaulicherenVor-
ortenNewYorks pa rkie ren oft meh-
rere Fahrzeuge von Lieferdiensten wie
UPS,FedEx, Amazon oder auch der
Post gleichzeitig in der zweitenReihe
und beeinträchtigen denVerkehr, in-
dem sie Buslinien,Velowege, Gehwege
oder Zebrastreifen blockieren.Tatsäch-
lich hat sich dieAnzahl täglicher Direkt-
lieferungen an Haushalte in NewYork
City von 2009 bis 2017 auf mehr als 1,1
Mio. Sendungen verdreifacht, und der
Trend zeigt weiternach oben. Schliess-
lich lassen sich die Preise einfach ver-
glei chen, und gerade für immer mehr
NewYorker scheint nichts bequemer
zu sein, als die bestellten Güter an der
Haustüreabzuholen, statt sich persön-
lich in einLadengeschäft zu bemühen.
Für Ältere und Gebrechliche mag
das ein Segen sein.Alles in allem hat die
Entwicklung jedochdazu geführt, dass
die Fahrzeuge der Lieferdienste immer
öfter und in immer grösserer Anzahl in


Stadtteilen anzutreffen sind, in denenes
früher kaum welche gab.Auch die Be-
schwerden darüber haben zugenommen.
Sei es,weil man sich an den «Dichtestress
der besonderenArt» noch nicht gewöhnt
hat oder weil die bestehendeVerkehrs-
infrastruktur tatsächlich nicht geeignet
ist,um damit fertig zu werden. In derTat
scheinen in einigen Stadtvierteln die all-
gegenwärtigen Kisten von Amazon und
anderen Lieferdiensten manchmal so-
gar auf denTrottoirs gestapelt und sor-
tiert zu werden. «Sie nutzen den öffent-
lichenRaum als privatesLager», klagen
Anwohner. Das sei nicht akzeptabel.
Manhattan ist ohnehin ein Sonder-
fall. Mit seiner Ansammlung von Hoch-
häusern ist der zentrale Stadtteil nicht
oder nurschlecht dafür eingerichtet für
die täglichePaketflut.Das zeigt sich an
verschiedenen Beispielen.Wie die «New

York Times» jüngst berichtete, trifft in
einerWohnanlage in Midtown die erste
Welle von etwa 100Päckchen täglich
etwa um 9 Uhr morgens ein, und die
Lieferungen lassen erst nachts nach. Ein
anderer grosserWohnkomplex habe ein
nahe gelegenes Einzelhandelsgeschäft
in ein externesPaketzentrum verwan-
delt, und in manchand erem Gebäude
müssten die angelieferten Kisten man-
gels Platz sogar in der Lobby gestapelt
werden.Das sind Schwierigkeiten, die
noch der Lösung harren.

Spätestens in24 S tunden


Aber auch dieVerkehrsprobleme dürf-
ten sich noch verschärfen, da derWett-
bewerb unter den Lieferdiensten wei-
ter zunehmen wird.Immerhin ist Ama-
zon gerade dabei, die Infrastruktur auf-

zubauen, um seinen Prime-Kunden die
gewünschten Produkte spätestens einen
Tag nach Bestellung oder noch früher an
die Haustüre zu liefern.Das heisst, die
Konkurrenz muss nachziehen.Was das
strukturell bedeutet, lässt sich am Ge-
schäft mitLagerhäusern ablesen. Dort
sind derzeit vor allem jene gefragt,die in
der Nähe des Stadtzentrums liegen und
die auf modernstem Stand sind. Denn
sie eignen sich besonders gut dafür, be-
stellte Artikel so schnell wie möglich zu
den Kunden zu bringen und zum Um-
tauschvorgeseheneWarenwieder zu-
rückzunehmen.
Tatsächlich hat Amazon in jüngs-
ter Zeit eine entsprechende Anlage in
der Bronx und ein weiteres Gebäude
in Queens eröffnet. In Brooklyn denkt
der E-Commerce-Riese über die Miete
zusätzlicher Einrichtungen dieserArt

nach. Folglich ist dies eine interes-
sante Nische im Immobilienbereich,
von der spezialisierte Anbieter profi-
tieren können. DH Property Holdings
beispielsweise, ein Immobilienentwick-
lungsunternehmen mit Plänen für drei
Lagerhäuser in Brooklyn.

ZentraleLagerhäusergefr agt


Global gesehen geraten Firmen wie
zum Beispiel Prologis alleine schon auf-
grund der haussierendenAktie ins Blick-
feld. DasUnternehmenzählt mit einer
Marktkapitalisierung von 55 Mrd. $ zu
den wertvollstenLagerhaus-Spezialisten
weltweit und hat vor wenigenTagen an-
gekündigt, das eigenePortfoliomit der
Übernahme des Liberty PropertyTrust

für fast 13 Mrd. $ abzurunden. Der Deal
kommt zu einer Zeit,in der Industrie-
lager – einstrelative Nachkömmlinge in
der Immobilienwirtschaft – aufgrund des
zunehmenden E-Commerce zu den heis-
sesten Investitionen gehören.
Da die Verbraucher immer schnel-
lere Lieferungen für ein wachsendes
Sortiment von Artikeln verlangen, sind
modernste Umschlagplätze in der Nähe
wichtigerAbsatzgebiete für Einzelhänd-
ler wieAmazon,Target und viele andere
unerlässlich geworden.

Ein Kurier mitPaketen in NewYork.Inder Grossstadtwerden täglichüber eine Million Direktsendungen verschickt. REUTERS

Thomas Jordan in der Höhle des Löwen


Der Notenbankchef wehrt sich gegen die Kritikder Pensionskassen an den Negativzinsen


THOMAS FUSTER


Der Wind wirdrauer für die Schwei-
zerische Nationalbank (SNB).Vergan-
geneWoche gingen dieBanken aus
der Deckung und forderten über die
Schweizerische Bankiervereinigung
ein Ende der Negativzinsen, da dieses
Regime mehrKosten als Nutzen ver-
ursache. Mit dieserForderung sind die
Banken nicht allein.Auch bei denPen-
sionskassen wächst der Unmutgegen-
über der Geldpolitik. So führen die
Niedrigzinsen dazu, dass deren Kapital-
erträge schrumpfen und auf den«drit-
ten Beitragszahler»kein Verlass mehr
ist. Das erschwert es den Kassen, ihren
Verpflichtungen nachzukommen.


Warnung vor Zielkonflikten


ThomasJordan hat sich am Donnerstag
der Kritik gestellt und sich gewisser-
massen in die Höhle des Löwen bege-
ben. Er verteidigtedie Geldpolitikder
SNB an derJahrestagung von PK-Netz,


einerVereinigung von Arbeitnehmer-
vertretern in Gremien der beruflichen
Vorsorge. Die Vereinigung wirft den
Notenbanken vor, die Pensionskassen
in eine existenzielle Krise zu bringen.
Die Niedrigzinspolitik stelle die beruf-
licheVorsorge vor die grösste Heraus-
forderung seit ihrer Einführung imJahr


  1. DieTalfahrt derRenten berge da-
    bei auch sozialen Sprengstoff und gros-
    ses Konfliktpotenzial.
    Jordan stellte vor den Arbeitneh-
    mervertretern in Abrede, dass eine
    Aufhebung der Negativzinsen diePen-
    sionskassenspürbar entlasten würde.
    Ein solcher Schritt hätte seiner Mei-
    nung nach in erster Linie eine Erstar-
    kung desFrankens zurFolge. Es käme
    zu einer Abschwächung der Schwei-
    zer Wirtschaft undeine mAnstieg der
    Arbeitslosenquote. Ein solcherKon-
    junktureinbruch hätte darüber hinaus
    auch sinkende Aktienkurse zurFolge,
    was die Ertragsaussichten der Kassen
    kaum aufhellen würde. Bei höherer
    Arbeitslosigkeit, so dieWarnungJor-


dans, sänke zud em dieWertschöpfung
und somit das Beitragssubstrat.
Wenn die SNB schon nicht dieNega-
tivzinsen abschaffen will, wäre es ihr
nicht zumindest möglich, die mit die-
sen Zinsen verbundenen Erträge an
die Pensionskassen auszuschütten? Die
Forderung einer solchenKompensation
wird vor allem seitens der SP und der
Gewerkschaften wiederholt ins Spiel
gebracht.Wenig überraschend kann
Jordan auch dieser Idee wenigPositi-
ves abgewinnen. «JedeVerknüpfung
von Geldpolitik und Sozialpolitik birgt
die Gefahr von Zielkonflikten mit dem
eigentlichenAuftrag der SNB», sagte

Jordan. Ein solcherKonflikt ergebe sich
au ch bei einer solchen Zweckbindung.

Skandinavien alsVorbild


Der SNB-Präsident wehrt sich ferner
gegen dieForderung,die Pensionskassen
von den Negativzinsen auszuklammern.
Damit der Negativzins seine gewünschte
geldpolitischeWirkung entfaltenkönne,
müsse er möglichst flächendeckend auf
den Girokonten bei der SNB erhoben
werden. «EineAusnahmeregel für eine
so gewichtige Anlegerkategorie wie die
der Pensionskassen würde diesen Effekt
empfindlichschmälern», meinteJordan.
Ausserdem bestehe die Gefahr, dass
andere Akteure – etwa gemeinnützige
Stiftungen– umgehend ein Recht auf
Gleichbehandlung einfordern würden.
Dass dasSystem der beruflichenVor-
sorge aber vor grossen Herausforderun-
gen steht, ist offenkundig.WelchenRat
erteilt die SNB, damit dieVorsorge-
werke wieder ins Lotkommen?Wenn-
gleichJordan betonte, seine Institution

sei für die Geldpolitik zuständig, nicht
aber für die Sozialpolitik, lehnte er sich
für einen Notenbankerrelativ weit aus
dem Fenster. So wies er kritisch auf die
wachsende Umverteilung von jungen zu
älterenVersicherten hin – eine Umver-
teilung, die so nie gewollt gewesen sei
vomSystem.Wenn man die Probleme
der Anlagewelt und Demografie nicht
angehe, würden dieKosten steigen.
An welchenLändernkönnten sich
die Vorsorgewerke auf der Suche nach
einer Stabilisierung und Modernisierung
orientieren?Jordan verheimlichtenicht
seine Sympathie gegenüberAutoma-
tismen, wie sie beispielsweise inDäne-
mark und Schweden umgesetzt worden
sind.WährendDänemark dasRenten-
alter an die Lebenserwartung angebun-
den hat, verknüpft Schweden die Höhe
der ausbezahltenRenten direkt mit der
demografischen und wirtschaftlichen
Entwicklung. Die Beispiele illustrier-
ten, dass es möglich sei, in diesem poli-
tisch schwierigenFeld tragfähige Lösun-
gen zu finden.

Thomas Jordan
Chef der
Schweizerischen
NZZ Nationalbank
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