Süddeutsche Zeitung - 08.11.2019

(lily) #1
von herbert fromme

Köln – Weil die Zinsen so niedrig sind, müs-
sen sich die Lebensversicherer bald kom-
plett aus dem Verkauf der staatlich geför-
derten Riester-Verträge verabschieden.
Das befürchten Manager wichtiger Versi-
cherungskonzerne. Grund ist die erwarte-
te Senkung des Garantiezinses in der Le-
bensversicherung, die sich bei der staat-
lich geförderten privaten Altersvorsorge
besonders negativ auswirkt.
Zwar stagniert der Absatz von Riester-
Versicherungen ohnehin. Von den 16,5 Mil-
lionen Riester-Verträgen, die noch in Kraft
sind, entfallen zurzeit 10,8 Millionen auf
Lebensversicherer, die übrigen auf Bank-
sparverträge, Wohn-Riester und Invest-
mentfonds. 2012 hatten die Versicherer
200 000 Policen mehr im Bestand. Aber
ein völliger Rückzug aus diesem Geschäfts-
feld wäre eine schwere Niederlage für die
Versicherer. Angesichts der Debatte über
eine neue staatlich organisierte Zusatzver-
sorgung, die vor allem von Grünen und Tei-
len der CDU gefordert wird, würde das ihre
Position deutlich schwächen.
Kürzlich hatte Karl-Josef Laumann,
Chef der Christlich-Demokratischen Ar-
beitnehmerschaft, ein Standard-Anlage-
produkt für die Altersvorsorge vorgeschla-
gen, dessen Kosten auf 0,2 Prozent der An-
lagesumme im Jahr beschränkt sein sol-
len. Das Konzept ähnelt der Deutschland-
Rente, die ebenfalls staatlich organisiert
sein soll. Diese hatte die Landesregierung
des schwarz-grün regierten Hessen ins Ge-
spräch gebracht.
Anlass für die Sorge in der Versiche-
rungsbranche vor einem Totalausstieg aus
Riester ist die anstehende Überprüfung

der höchstens erlaubten Garantieverzin-
sung, die ein Lebensversicherer seinen
Kunden versprechen darf.
Dieser Satz wird vom Finanzministeri-
um festgelegt. Derzeit beträgt er 0,9 Pro-
zent. Wenn ein Lebensversicherer heute ei-
nen neuen Vertrag verkauft, darf er seinen
Kunden bis zu 0,9 Prozent Verzinsung ga-
rantieren – für die gesamte Laufzeit des
Vertrages, auch wenn sie 30 oder 40 Jahre
beträgt. Wenn er eine höhere Rendite er-
zielt, darf der Versicherer dem Kunden
mehr gutschreiben, das aber nicht garan-
tieren. Das soll verhindern, dass sich Anbie-
ter mit allzu hohen Garantien ruinieren. In
der Vergangenheit hatte der Garantiezins
auch schon bei 4,0 Prozent gelegen.

Doch weil die Zinsen weiter sehr niedrig
sind, wird der höchstens erlaubte Garantie-
zins sehr wahrscheinlich Mitte 2020 oder
Anfang 2021 gesenkt. Statt 0,9 Prozent soll
dann ein Wert zwischen 0,25 Prozent und
0,5 Prozent erlaubt sein, heißt es in der
Branche. „Dann könnte kaum noch ein Le-
bensversicherer Riester-Verträge verkau-
fen“, sagte der Vorstand eines Lebensversi-
cherers, der in dieser Sache nicht nament-
lich genannt werden will. „Es wird schlicht
unmöglich, das zu verdienen.“ Reiner Will,
Chef der Kölner Rating-Agentur Assekura-
ta, erwartet ebenfalls große Probleme. „Es
würde dann sehr schwierig, Riester-Verträ-
ge noch darzustellen.“
Hinter dem Problem steckt neben den
niedrigen Zinsen ein Grundübel der

Lebensversicherer: ihre hohen Vertriebs-
und Verwaltungskosten, vor allem Provisi-
onen für Makler oder Vertreter. Vom einge-
zahlten Kundengeld gehen dafür oft zehn
Prozent drauf. Verzinst wird aber nur das,
was nach Abzug der Kosten übrig bleibt.
Auch der Garantiezins bezieht sich nur auf
diesen Sparanteil der Prämie, nicht auf die
gesamte Einzahlung des Kunden.
Doch für die Riester-Rente gilt die ge-
setzliche Vorschrift, dass der Anbieter den
Erhalt der eingezahlten Beiträge ein-
schließlich staatlicher Zulagen garantie-
ren muss – die Kunden müssen mindes-
tens das wieder herausbekommen, was sie
und der Staat eingezahlt haben.
Hier entsteht der Konflikt: Mit einem
höchstens erlaubten Garantiezins von
0,25 Prozent oder 0,5 Prozent, der wohl
2020 oder 2021 eingeführt wird, können
die meisten Versicherer mit dem Sparan-
teil nicht so viel verdienen, dass am Ende
die volle Beitragssumme erreicht wird, von
einer Rendite, die aus den Beiträgen erwirt-
schaftet werden sollte, ganz zu schweigen.
„Es wird tatsächlich sehr schwer, diese Lü-
cke zu schließen“, sagt Experte Will.
Ein Rechenbeispiel: Wenn eine Kundin
mit 36 eine Riester-Rente abschließt und
jährlich 1000 Euro einzahlt, der Staat ihr
mit 175 Euro Zulage und weiteren 300 Euro
für ihr nach 2008 geborenes Kind hilft,
kommen über 30 Jahre 44 250 Euro zusam-
men. Angenommen, ein Lebensversiche-
rer hat Kosten von zehn Prozent, das sind
4425 Euro. Dann bleiben als Sparanteil,
der verzinst wird, 39 825 Euro. Daraus
muss der Versicherer nach 30 Jahren
44 250 Euro gemacht haben. Das kann er
mit einer Verzinsung von 0,25 Prozent
oder 0,5 Prozent kaum erreichen.

Will schlägt vor, über eine Änderung der
Vorschriften zum Kapitalerhalt nachzuden-
ken. „Müssen wirklich 100 Prozent der ein-
gezahlten Summe garantiert werden, rei-
chen nicht auch 80 Prozent?“ Dann könn-
ten die Versicherer auch mit einem niedri-
gen Garantiezins dabeibleiben.

Ob sie sich allerdings für die Kunden loh-
nen, ist eine andere Sache. Auf der einen
Seite gibt es staatliche Zuschüsse und Steu-
ervorteile, auf der anderen die hohen Kos-
ten. Sicher ist, dass man sehr alt werden
muss, um in der Auszahlungsphase von ei-
ner Riester-Rente wirklich etwas zu haben.
Über die mögliche Senkung des Garan-
tiezinses entscheidet das Finanzministeri-
um. Allerdings beruht die Entscheidung
auf einer Empfehlung der Deutschen Aktu-
arvereinigung (DAV), in der sich die Versi-
cherungsmathematiker zusammenge-
schlossen haben. Die DAV macht ihren Vor-
schlag auf Basis der aktuellen Zinsen und
verschiedener Zinsszenarien.
Wenn sich die Versicherer aus Riester
verabschieden müssen, würde das einen
Grundpfeiler ihrer Argumentation gegen
die Deutschlandrente und andere staatlich
organisierte Vorsorgefonds treffen. Sie be-
haupten, dass die Kunden stets eine Garan-
tie wollen und Altersvorsorge ohne eine sol-
che Absicherung in Deutschland höchst un-
populär ist. Aber jetzt könnte sich zeigen,
dass sie selbst die immer wieder propagier-
te Garantie wegen der niedrigen Zinsen
nicht mehr gewährleisten können.

von christoph giesen
undclaus hulverscheidt

Peking/New York–Am Dienstag eröffne-
te Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping
in Shanghai die große Importmesse, eine
fein orchestrierte Propagandasause.
3000 Unternehmen aus aller Welt stellen
in der Wirtschaftsmetropole ihre Produkte
aus. Der Elektro-Volkswagen, der in Zwick-
au gebaut werden soll, ist ebenso zu sehen
wie Kaffee aus dem Hause Melitta. Sogar
ein paar Säcke Gips aus Turkmenistan fan-
den ihren Weg in die Ausstellungshallen.
Ein großer Basar, bei dem man chinesische
Hersteller vergebens sucht – kein Wunder,
schließlich ist es Sinn und Zweck der Mes-
se zu zeigen, wie eifrig China im Ausland
einkauft, allen Exportüberschüssen und
jeglichem Zetern von US-Präsident Donald
Trump über das aus seiner Sicht so „unfai-
re“ Geschäftsgebaren Pekings zum Trotz.
In seiner blumigen Auftaktrede machte
Xi sich für den freien Handel stark – es war
jene alte Leier, die die Welt mittlerweile
kennt und von der man weiß, dass China of-
fene Grenzen und freie Märkte weniger
von sich selbst als vor allem vom Rest der
Welt erwartet. Nach Xi sprach der Ehren-
gast, Frankreichs Staatspräsident Emma-
nuel Macron, und er tat das, was der Gast-
geber sich verkniffen hatte: Er übte deutli-
che Kritik an Trump und dessen Politik der
fortgesetzten Strafzölle. Handelskriege, so
Macron, seien nicht zu gewinnen, für nie-
manden.
Kaum ist der Franzose aus Shanghai ab-
gereist, verkündet das Pekinger Handels-
ministerium nun tatsächlich eine Annähe-

rung in den Verhandlungen mit den USA.
Nach einer Reihe „ernsthafter und kons-
truktiver“ Gespräche zwischen führenden
Regierungsvertretern beider Länder habe
man sich darauf verständigt, die Strafzölle
bei weiteren Fortschritten in den Verhand-
lungen schrittweise zurückzunehmen, sag-
te ein Ministeriumssprecher am Donners-
tag. Die Senkung der Zölle sei „eine wichti-
ge Bedingung für eine Einigung“. Sollten
die beiden Länder ein erstes Teilabkom-
men erzielen, wolle man die ersten Zölle
gleichzeitig und in gleichem Umfang aufhe-
ben, so der Sprecher. Genauere Angaben,
etwa zu einem Zeitplan, machte er nicht.
Trump hatte bereits Mitte Oktober ver-
kündet, dass sich beide Seiten im Grund-
satz über ein sogenanntes „Phase-1-Ab-
kommen“ einig seien. Nach allem, was bis-

her bekannt ist, werden in der Vereinba-
rung jedoch alle wirklich zentralen The-
men ausgespart. Dazu zählt etwa die Fra-
ge, wie die USA einen möglichen Verzicht
Chinas auf Industriespionage und Ideen-
diebstahl überwachen sollen und was aus
dem massiven Subventionsprogramm
„Made in China 2025“ wird, mit dem Pe-
king neue Weltmarktführer in zukunfts-
trächtigen Hochtechnologiebranchen her-
anzüchten will. Stattdessen geht es in dem
Teilabkommen vor allem um eine massive
Ausweitung der Soja-, Mais- und Fleischex-
porte aus den USA in die Volksrepublik.
Trump und Xi wollten die Annäherung
eigentlich beim für Mitte November ge-
planten Asien-Pazifik-Treffen in Chile fei-
erlich besiegeln. Der gesamte Gipfel wurde
jedoch abgesagt. Da Trump unbedingt ei-

ne Unterzeichnungszeremonie will, am
liebsten auf US-Boden, versuchten seine
Unterhändler ihre chinesischen Gesprächs-
partner zuletzt von einem Treffen etwa in
Alaska zu überzeugen. Doch Peking wink-
te ab. Stattdessen sind nun mehrere Städte
in Europa und Asien im Gespräch.
Die US-Seite bestätigte zunächst nicht,
dass sie im Zusammenhang mit dem Teil-
abkommen bereit ist, Zölle zurückzuneh-
men oder zumindest auf die für Mitte De-
zember geplanten zusätzlichen Abgaben
auf chinesische Warenlieferungen im Wert
von 160 Milliarden Dollar zu verzichten. Al-
lerdings hatte es auch in den USA zuletzt
Gerüchte gegeben, dass es dazu kommen
könnte. Für Xi ist eine zumindest teilweise
Rücknahme der Zölle wichtig, um dem Ein-
druck entgegenzuwirken, nur er allein ma-
che Zugeständnisse, während Trump aus-
schließlich damit beschäftigt sei, Forde-
rungen durchzusetzen. Zudem stellen die
Zölle eine grundsätzliche Bedrohung für
Chinas Wirtschaftsmodell dar, das weiter-
hin vor allem auf dem Export fußt.
Die Aktienbörsen in Asien und Europa
reagierten mit Kursgewinnen auf die posi-
tiven Nachrichten auf Peking. Allerdings
fielen die Zuwächse geringer aus als in frü-
heren Phasen der Annäherung, weil sich
die Händler bisher ein ums andere Mal in
ihrem Optimismus getäuscht sahen.
Trump selbst nutzte den Donnerstag-
morgen wie so häufig für eine kleine Twit-
ter-Kaskade. Themen: das drohende Amts-
enthebungsverfahren gegen ihn sowie die
übliche Medienschelte. Auf die Berichte
über mögliche Zollsenkungen dagegen re-
agierte er zunächst nicht.  Seite 4

DEFGH Nr. 258, Freitag, 8. November 2019 HF2 21


von alexander hagelüken

E


s ist seit Jahren stets das gleiche
Fernsehbild. Ältere Männer in Anzü-
gen (und irgendwann eine Frau)
übergeben der Kanzlerin einen fetten Wäl-
zer. Was die sogenannten Wirtschaftswei-
sen darin vorschlagen, ahnte man in gro-
ben Zügen meist vorher: Die Regierung
soll sparen – und sich aus der Wirtschaft
heraushalten. Doch dieses Jahr ist alles an-
ders: Erstmals streitet der Sachverständi-
genrat offen, welche Wirtschaftspolitik
die aktuelle Lage erfordert. Dieser Wandel
zeigt nicht etwa an, dass die Ökonomen
verwirrt wären. Er ist gut für ein Land, das
nach einem bräsig machenden Dauer-
Boom dringend Ideen gegen den Ab-
schwung braucht.
In den vergangenen Jahren war arg er-
wartbar geworden, was die Wirtschafts-
weisen empfehlen: Strukturreformen, al-
so mehr von der bitteren Medizin, die das
Land seit der Agenda 2010 spaltet. Dazu
Spar-Haushalte und Steuersenkungen.
Doch die Diskussion hat sich spätestens
seit der Finanzkrise 2008 weiterentwi-
ckelt. International fragen Ökonomen im-
mer bohrender, ob die Politik eine aktive-
re Rolle übernehmen sollte. Seit sich der
Marktradikalismus durch die Finanzkrise
selbst entzauberte, wird der Staat als Ak-
teur rehabilitiert. Höchste Zeit: Globalisie-
rung und Digitalisierung erzeugen enor-
me Gewinne, produzieren aber auch viele
Verlierer. Hält sich die Politik da nur ab-
seits, werden unzufriedene Wählerscha-
ren von Populisten verführt.


Das heißt nicht, dass eine aktivere Rol-
le des Staates alle marktliberalen Rezepte
entwerten würde. Von einigen Reformen
der rot-grünen Agenda 2010 etwa hat
Deutschland durchaus profitiert. Ohne sie
gäbe es heute mehr Arbeitslose und größe-
re Finanzlöcher in der Rentenkasse. Doch
in letzter Zeit kamen, teils im Gefolge sol-
cher Reformen, eben Themen dazu, die
die marktliberalen Sachverständigen ver-
nachlässigten. Die Zunahme prekärer
Jobs und allgemeiner Ungleichheit. Der
Verfall der öffentlichen Infrastruktur.
Und die Einsicht, dass die Bundesregie-
rung den Euro destabilisiert, wenn sie im-
mer nur aufs Sparen drängt.
Deshalb ist es zum Beispiel ermuti-
gend, dass im aktuellen Gutachten alle


Weisen gemeinsam darauf hinweisen,
dass es eine Konjunkturdelle wie derzeit
verstärken kann, am ausgeglichenen Etat
festzuhalten, also an der Schwarzen Null.
Wenn Exporte und Investitionen der Fir-
men ausfallen, ist der Staat gefordert.
Aber dazu muss er eben mehr ausgeben.
Mehrere der Sachverständigen gehen
den konsequenten Schritt weiter. Warum
nicht über ein Konjunkturprogramm
nachdenken? Es gibt schnell Wirksames.
Lieber früh als zu spät. Sie fordern auch ei-
nen langfristigen Investitionsplan. Das
hilft kurzfristig wenig, erfüllt aber andere
Zwecke. Mehr Geld für Bildung, digitale
Netze und Verkehrswege rüsten das Land
für die Zukunft – in einem Moment, da kei-
ne Bahn mehr pünktlich fährt und Firmen
an der Infrastruktur verzweifeln. Die Bun-
desrepublik leistet damit auch etwas für
die Euro-Zone, die sie bisher vor allem für
ihre Exportstrategie ausnutzt. Mehr Inves-
titionen steigern auch den Umsatz italieni-
scher oder französischer Firmen. In einer
Währungsunion dürfen sich Staaten nicht
mehr rein national begreifen, sonst ge-
fährden sie das gemeinsame Projekt.
Reden wir über Geld: Es spricht viel da-
für, dass die Schuldenbremse bremst,
wenn Deutschland seinen Ausgabenstau
auflösen will. Die Politik sollte sie nicht ab-
schaffen, aber modifizieren, um Investitio-
nen zu ermutigen. Und nein, dass muss
keinen Bundesbürger sorgen, der keine
Schuldenberge à la Griechenland erleben
will. Von einer Verschwendungsmentali-
tät ist die Bundesrepublik ausreichend
weit entfernt.
Weg mit der Schwarzen Null, mehr in-
vestieren: Mit solchen Ideen nähern sich
manche der Wirtschaftsweisen dem inter-
nationalen Mainstream der Ökonomen
an. Leider trifft diese neue Offenheit auf
ein politisches Personal, dass sich an
Denkschablonen festklammert. Bundes-
kanzlerin Angela Merkel (CDU) betont
gleich, keinesfalls an der Schwarzen Null
zu rütteln. Andere Vorschläge, wie sich
das Land gegen den Abschwung stemmen
soll, liefert sie allerdings auch nicht.
Seltsam verzagt wirkt Finanzminister
Olaf Scholz (SPD). Er hat ja recht, wenn er
etwa die Hindernisse für höhere Investitio-
nen herausstreicht. Das Verdammen des
Staates und die ewige Sparerei führten da-
zu, dass Beamte fehlen, um manche Pro-
jekte zu genehmigen. Noch besser wäre es
allerdings, Scholz würde vorschlagen, wie
solche Hürden zu beseitigen sind. Ein
Deutschland am Rande der Rezession
braucht Politiker, die nach vorne zeigen,
nicht nach hinten.

Im Hafen von Los Angeles: Schiffscontainer aus China. FOTO:MIKE BLAKE/REUTERS

Bier trinken und damit die Welt ein Stück-
chen besser machen. Das war die Vision,
mit der im vergangenen Jahr alles anfing.
Daniel Anthes, tätowierter Oberarm, ver-
schmitztes Lächeln, Dreitagebart, hatte
sich bereits seit Längerem voll dem Kampf
gegen die Lebensmittelverschwendung
verschrieben. Per Crowdfunding finanzier-
te er 2016 einen Foodtruck, in dem er aus
geretteten Lebensmitteln Gerichte zauber-
te, ein Jahr später brachte er per Crowdpu-
blishing ein Kochbuch mit Rezepten für
die Resteküche heraus.
Für ein Lebensmittel aber hatte auch er
bislang keine perfekte Verwendung gefun-
den: Brot. Etwa 1,7 Millionen Tonnen Back-
waren landen allein in Deutschland jedes
Jahr im Müll, obwohl sie noch genießbar
wären. Und während sich auch aus schrum-
pelnden Kartoffeln, matschigen Tomaten
und Auberginen mit Druckstellen noch ei-
ne prima Gemüsepfanne kochen lässt,
wird aus den Unmengen Brot am Ende oft
nicht mehr als Entenfutter.
Anthes wollte das ändern. Im Internet
stieß er auf die Idee aus Großbritannien,
aus Brotresten Bier zu brauen. Eine Idee
aus dem Mittelalter, also nicht wirklich in-
novativ im engeren Sinne. Aber er fragte
sich: Warum macht das hierzulande nie-
mand, im Land des Bieres und des Brotes?
Gemeinsam mit einem Freund gründe-
te der 33-Jährige das Start-up Knärzje und
begann zu experimentieren. Gewöhnli-
ches Bier besteht in der Regel aus Hopfen,
Malz, Hefe und Wasser. Den Malzanteil
wollten sie durch Brot ersetzen, doch sie
merkten schnell, dass sich nicht jedes auch
eignet. „Baguette oder Weißbrot geben
dem Bier einfach nicht so viel wie Körner-
brot“, sagt Anthes. Am Ende landeten sie
bei einem Sauerteigbrot, von dem je eine
Scheibe in je eine Flasche Bier wandern
sollte – und von dem in Deutschland jeden
Tag eine Menge weggeworfen wird.
Der nächste Schritt war die Suche nach


einer Brauerei. Ahnung von der Braukunst
hatte Anthes keine, dafür aber einen prag-
matischen Ansatz: „Ich bin auch kein aus-
gebildeter Koch, aber mache trotzdem hin
und wieder Kochkurse.“ Warum sollte das
nicht auch mit dem Brauen funktionieren?
Drei Mal hat Anthes sein Zero-Waste-
Bier mittlerweile in einer kleinen Brauerei
hergestellt, jedes Mal etwa 700 Liter, das
entspricht etwa 2000 geretteten Scheiben
Brot. Nun will er bei einem Mittelständler
brauen, Mindestabnahme: 5000 Liter. Al-
so griff Anthes zu dem Instrument, das
ihm schon zu einem Foodtruck und einem
Kochbuch verholfen hatte: dem Crowd-
funding. Schon nach drei Wochen hatte er
das nötige Geld zusammen, sowohl das Hel-
le als auch das Pils waren ausverkauft.
Der nächste Schritt ist nun eine Testlis-
tung im Einzelhandel. Anthes setzt darauf,
dass der Name des Bieres ihm regional Vor-
teile verschafft: Knärzje ist der pfälzische
Ausdruck für das Endstück eines Brotes.
Aber versteht das im Rest der Rupublik
überhaupt irgendjemand? Schließlich gibt
es in Deutschland mehr als 200 Begriffe da-
für. „Ich hoffe auf einen Marketingeffekt
wie bei Häagen-Dazs“, sagt Anthes. Auch
da habe anfangs keiner gewusst, wie man
die Eismarke ausspreche geschweige
denn, was der Name bedeute. Und heute
sei sie überall auf der Welt erfolgreich.
Das aber ist gar nicht das Ziel des 33-Jäh-
rigen. Es gehe ihm nicht darum, „schnell
Kohle zu machen“, sagt Anthes. Er selbst
zahle sich ohnehin kein Gehalt aus, stecke
alle Einnahmen zurück in das Start-up
und verdiene seinen Lebensunterhalt mit
Vorträgen und Koch-Workshops. Vielmehr
wolle er andere mit dem Bier ermutigen,
sich mit dem sperrigen Thema der Lebens-
mittelverschwendung auseinanderzuset-
zen und diese so zu verringern. „Mein
Wunsch wäre es, dass es uns in sieben Jah-
ren nicht mehr gibt – weil kein Brot mehr
weggeworfen wird.“ vivien timmler

Weiter gegen die
Deutschland-Rente zu wettern,
dürfte schwieriger werden

WIRTSCHAFT

WIRTSCHAFTSWEISE

Mehr Staat wagen


DieRiester-Rente sollte das Leben im Alter besser machen. Kann sein, dass es das Produkt als Versicherung so bald nicht mehr geben wird. FOTO: RENE BOHMER / UNSPLASH

NAHAUFNAHME


„Um achtsam mit
Lebensmitteln umzugehen,
braucht man
keinen Michelinstern.“
Daniel Anthes
FOTO: OH

Die Null


rückt näher


Noch liegt der Garantiezins für


Lebensversicherungen bei 0,9 Prozent.


Doch spätestens 2021 könnte er


weiter deutlich fallen. Stirbt damit


die klassische Riester-Rente?


USA und China wollen erste Zölle abbauen


Aus Peking kommen Signale der Verständigung – Donald Trump allerdings schweigt bisher


Flüssiges Brot, jetzt wirklich


Daniel Anthes braut Bier aus Brot, das sonst in der Tonne landet


Der Marktradikalismus


hatsich spätestens mit der


Finanzkrise entzaubert


Ein Problem sind
die hohen Vertriebs- und
Verwaltungskosten
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