von lothar müller
I
m sechsten Stock des neuen Suhr-
kamp-Gebäudes am Rosa-Luxem-
burg-Platz laden die großen Fenster-
scheiben dazu ein, den Blick über
Berlin schweifen zu lassen, den Fern-
sehturm, das Rote Rathaus, die Spitze der
Sophienkirche. Vor dieser Kulisse hat der
Verlag seinem ältesten Autor eine proviso-
rische Bühne aufgeschlagen. Schon ehe er
sie betritt, ist aus dem Off die charakteristi-
sche Stimme von Jürgen Habermas zu hö-
ren, irgendwo im Hintergrund scheint ein
Mikrofon unbedingt kommunikativ han-
deln zu wollen.
Noch einmal hat Habermas ein Opus
magnum geschrieben. Im Frühjahr ist er
neunzig geworden. In tiefem Blau steht
das Werk zweibändig im Schuber da, in
der kommenden Woche wird es unter ei-
nem Titel, der an Johann Gottfried Her-
ders „Auch eine Philosophie der Geschich-
te zur Bildung der Menschheit“ erinnert,
erscheinen: „Auch eine Geschichte der Phi-
losophie“. Mitarbeiter und Autoren des
Suhrkamp-Verlages – Durs Grünbein, Rai-
nald Goetz – sitzen im Publikum, einige
Journalisten und alsspecial guestder Bun-
despräsident. Frank-Walter Steinmeier
ist, wenn es gilt, Kulturveranstaltung zu er-
öffnen, um Worte nicht verlegen. Hier
aber bleibt er stumm, ehrt den Philoso-
phen, der ihn freundlich in seine Begrü-
ßungsworte aufnimmt, allein durch seine
Anwesenheit, als Zuhörer. Und kaum hat
die charakteristische Habermas-Stimme
im Dialog mit der Lektorin des Opus ma-
gnum, Eva Gilmer, mit der Selbstexplikati-
on begonnen, stehen die berühmten kanti-
schen Fragen im Raum: Was können wir
wissen? Was sollen wir tun? Was dürfen
wir hoffen? Und: Was ist der Mensch?
Sie spielen eine Schlüsselrolle in der
Antwort des Philosophen auf die Frage,
was ihn bewogen habe, noch einmal einen
so gigantischen Rückblick auf die
Geschichte der Philosophie zu werfen, von
der sogenannten „Achsenzeit“ um das
- Jahrhundert v. Chr. bis ins frühe zwan-
zigste Jahrhundert. Diese Fragen sind
nicht erledigt, sie sind der Grund, warum
der Philosophie noch etwas zu tun bleibt,
warum sie nicht abtreten kann, um den
empirischen Wissenschaften das Feld zu
überlassen: „Es reicht nicht aus“, sagt die
Habermas-Stimme, „den Menschen als
ein Naturwesen in der Welt zu verstehen,
ohne zu fragen, was die wissenschaftli-
chen Fortschritte für uns und unser Welt-
verständnis wirklich bedeuten.“
Das zweite Antriebsmoment entspringt
der Formel „nachmetaphysisches Den-
ken“, in die Habermas die Philosophie
nach Immanuel Kant und David Hume
seit je zusammenfasst. Wie aber ist „nach-
metaphysisch“ mit dem Erbe der Religio-
nen umzugehen? Das Opus magnum ist of-
fenkundig aus dem Unbehagen an allzu tri-
umphalen Säkularisierungsdiagnosen her-
vorgegangen. Es unterstellt die Genealo-
gie des nachmetaphysischen Denkens der
Frage nach der Rivalität von Glauben und
Wissen seit den Ursprüngen der westli-
chen Philosophie. An den Bundespräsiden-
ten gewendet, sagt die Habermas-Stim-
me, dass wir nicht in einer rein säkularen
Zivilgesellschaft leben, sei offenkundig,
nur der Staat und die Staatsgewalt seien sä-
kular und müssten es sein.
Vom zwanglosen Zwang des besseren
Arguments mag Habermas nicht lassen,
das zeigt sich nicht nur, als er das Selbstbe-
wusstsein der westlichen Philosophie im
Dialog der Kulturen verteidigt. Es zeigt
sich vor allem, als Eva Gilmer fragt: „Müs-
sen wir Donald Trump einen Lügner nen-
nen, damit unsere Lebensform nicht zu-
sammenbricht?“ Nicht eine Sekunde zö-
gert die Habermas-Stimme, ehe sie ant-
wortet: „Ja. Wenn eine ganze Partei eine of-
fensichtliche Lüge in der politischen Öf-
fentlichkeit einer großen Nation unter-
stützt, dann ist das philosophisch gesehen
ein erster Schritt zur Zerstörung einer Le-
bensform, die darauf angewiesen ist, dass
man den Äußerungen und Ansprüchen,
die man mit diesen Äußerungen stellt,
traut, und wenn man ihnen nicht traut,
dass man sich auf Gründe einlässt, ob und
warum der andere recht oder unrecht hat.
Wenn diese Dimension zerstört wird,
kann unsere Lebensform, so wie sie bisher
war, nicht unbeschädigt fortbestehen.“
Die Stimme
Jürgen Habermas stellt in den neuen Räumen des Suhrkamp-Verlags
in Berlin sein aktuelles Opus magnum vor
Ulla Berkéwicz und der Bundespräsident hören dem Philosophen und seiner Lektorin zu. FOTO: BUNDESREGIERUNG / JESCO DENZEL
Vom zwanglosen Zwang
des besseren Arguments
mag Habermas nicht lassen
Seit Peter Handke in Salzburg wohnte, hat
er einen Freund und Bewunderer, der viele
Dinge besitzt, die der Schriftsteller im Lauf
seines bisherigen Lebens zurückließ: eine
elektrische Gitarre zum Beispiel, Wander-
schuhe, eine Maultrommel.
Die meisten dieser Reliquien hat Hans
Widrich, ehemals Pressereferent der Salz-
burger Festspiele und Handkes ehemali-
ger Vermieter in Salzburg, mittlerweile
dem Handke-Archiv in der Österreichi-
schen Nationalbibliothek in Wien überge-
ben. Dazu gehört auch ein im Jahr 1999
von der Republik Jugoslawien ausgestell-
ter Reisepass, der jahrelang auf der Web-
site des Archivs zu sehen war, bevor er in
den vergangenen Tagen – nachdem er dort
plötzlich verschwunden war – einige Aufre-
gung verursachte.
Denn Österreichs Regeln für die doppel-
te Staatsbürgerschaft sind deutlich rigider
als die entsprechenden Verordnungen
etwa in Deutschland oder erst recht in
Frankreich, wo Handke seit fast dreißig
Jahren lebt. Handkes Pass enthält unter
der Rubrik „Nationalität“ den Vermerk
„jugoslawisch“. Er ist von seinem Träger
unterzeichnet.
Der amerikanische Journalist Peter
Maass, der sich in den vergangenen Wo-
chen international als einer der schärfsten
Gegner Peter Handkes profiliert hatte und
den Pass am vergangenen Dienstag als
skandalöse Entdeckung präsentierte, will
in dem Dokument ein weiteres Indiz für
die innige Verbundenheit Handkes mit Ser-
bien erkennen.
Vom Schriftsteller selber heißt es, es
habe sich bei dem Pass lediglich um ein
pragmatisches Arrangement gehandelt,
mit dem er seine Hotelkosten in Serbien ha-
be vermindern können. Seine serbischen
Begleiter hätten stets weniger zahlen müs-
sen, als ihm berechnet worden sei.
Ein förmliches Verfahren zur Einbürge-
rung scheint es ebenso wenig gegeben zu
haben wie einen Antrag Handkes auf dop-
pelte Staatsbürgerschaft.
Das Kärntner Landesamt will nun unter-
suchen, wie es zur Vergabe des Passes kam
und inwieweit Handke damit seinen An-
spruch auf seine österreichische Staatsbür-
gerschaft aufs Spiel setzte.
Allgemein ist es in Krisengebieten zwar
nicht unüblich, dass etwa ausländische
Journalisten zu deren Schutz mit besonde-
ren offiziellen Papieren ausgestattet wer-
den, damit diese nicht etwa für Spione
gehalten werden. Bei solchen Papieren
handelt es sich indessen nicht um Pässe.
Die Bundesrepublik Jugoslawien, die
Handkes Pass ausstellte, gibt es im
Übrigen bereits seit dem Jahr 2003 nicht
mehr. sz
Der Bayerische Buchpreis – getragen vom
Börsenverein des Deutschen Buchhandels
mit Unterstützung des Freistaats Bayerns
- wird in einer beliebten Dramaturgie ver-
geben: Vor der Entscheidung steht eine Dis-
kussion der Jurymitglieder vor Publikum
über die zur Wahl stehenden Bücher. Ein
aufregendes Spiel, das die Nervenstärke
der nominierten Autoren, die geladen
sind, ähnlich herausfordert wie die Debat-
ten beim Bachmannpreis in Klagenfurt.
Am Donnerstagabend kam es in der
Münchner Allerheiligen-Hofkirche – und
im Livestream im Internet – zu einem die-
se anstrengende Inszenierung noch über-
steigenden Eklat. Eines der nominierten
Bücher, Cornelia Koppetschs „Die Gesell-
schaft des Zorns“ (SZ vom 3. Juli) wurde
von der vorschlagenden Kritikerin, der
FAZ-Redakteurin Sandra Kegel, in aller
Form aus dem Spiel genommen, denn
„aus vertrauenswürdiger Quelle“ hätten
sie Plagiatsvorwürfe erreicht.Dem Tran-
script-Verlag, der KoppetschsBuch heraus-
gebracht hat, waren diese Vorwürfe seit
dem 24. Oktober bekannt. Der für den
Bayerischen Rundfunk, der die Veranstal-
tung überträgt, federführende Juror Knut
Cordsen erfuhr erst eine Woche vor der
Preisverleihung summarisch von den Vor-
würfen, denen er dann in eigener Recher-
che nachging, mit Resultaten, die er in der
Veranstaltung am Donnerstagabend vor-
trug. So wurde die Szene zu einem öffentli-
chen Scherbengericht über die anwesen-
de Autorin. Diese war über die Vorwürfe in-
formiert, hatte ihr Buch aber nicht zurück-
ziehen wollen. Ein Austausch auf der Liste
der Nominierten wäre, so Cordsen, auch
nicht möglich gewesen. Koppetsch habe
darauf vorbereitet sein müssen, dass über
ihr Buch und die Vorwürfe geredet würde.
Koppetsch versichert, sie sei zur Veranstal-
tung im Glauben gegangen, dass über ihr
Buch dort nicht mehr diskutiert würde.
Die „vertrauenswürdige Quelle“, die
sich zwei Wochen vor der Preisverleihung
an den Transcript-Verlag wandte, soll der
Suhrkamp-Verlag sein, der die Interessen
seines Autors Andreas Reckwitz schützen
wollte. Der Kern der Vorwürfe gegen
Koppetsch betrifft unzureichend gekenn-
zeichnete Übernahmen aus Reckwitz’ viel
gelesenem Buch „Die Gesellschaft der Sin-
gularitäten“. Dabei geht es unter anderem
um den Begriff „Neogemeinschaft“. Damit
sind Zugehörigkeiten gemeint, „in die
man“ – so Reckwitz – „nicht mehr hinein-
geboren wird, sondern für die man sich ent-
scheidet, weil sie identitätsstiftend sind“,
etwa Gruppen von sexuellen oder ethni-
schen Minderheiten. Überkommene Klas-
senfronten werden dabei überspielt.
Koppetsch übernimmt diese Begriffs-
bildung, verwendet sie aber, wie sie in
einer ersten Stellungnahme darlegt, in ei-
nem anderen Zusammenhang. „Ich inter-
essiere mich nicht für Tendenzen der Sin-
gularisierung und der Kulturalisierung in
spätmodernen Gesellschaften, sondern
für das protestförmige Aufkommen der
neuen Rechtsparteien als Reaktion auf
Globalisierungsprozesse in westlichen Ge-
sellschaften.“ Im Fokus steht also nicht
die Singularisierung der Lebensstile, son-
dern im Gegenteil ein kosmopolitischer,
durchaus vereinheitlichender Klassenha-
bitus und die Reaktionen darauf.
Dass sie „an unterschiedlichen Stellen
des Buches handwerkliche Fehler began-
gen und das Werk von Andreas Reckwitz
nicht hinreichend zitiert habe“, räumt
Koppetsch ein. Inhaltliche Übernahmen
bestreitet sie. Koppetschs Buch ist eine
Synthese, Übernahmen fremder Argu-
mente und Formulierungen werden dort
generell nicht mit Seitenangaben in Fuß-
noten ausgewiesen, sondern durch sum-
marische Verweise auf die Bibliografie. An
einer Stelle, die die FAZ in einer Meldung
als „Übernahme einer längeren Formulie-
rung“ kennzeichnet, wechselt sie im Satz
aus dem Konjunktiv der indirekten Rede
in den Indikativ. Die Sache ist also kleintei-
lig und kompliziert. Der Agon einer Preis-
verleihung ist eine unglückliche Bühne
für eine solche Auseinandersetzung.
gustav seibt Lokales
DEFGH Nr. 259, Samstag/Sonntag, 9./10. November 2019 HF2 FEUILLETON LITERATUR 21
Zwei Pässe für den künftigen Nobelpreisträger
Auseinem Archiv taucht ein jugoslawischer Reisepass von Peter Handke auf. Hat er sein Recht auf die österreichische Staatsbürgerschaft aufs Spiel gesetzt?
Scherbengericht
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Plagiatsvorwürfe gegen Cornelia Koppetsch
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Vonder
Bundesrepublik
Jugoslawien am
15.6.1999
ausgestellter
Reisepass für
Peter Handke.
FOTO: SAMMLUNG HANS
WIDRICH / ÖSTERREICHISCHE
NATIONALBIBLIOTHEK
Ausgezeichnet
mit dem
Bayerischen
Buchpreis
2019
© L
inda
Rosa
Saal
rowohlt.de
Nach dem Bestseller «Leben», ausgezeichnet
mit dem Preis der Leipziger Buchmesse,
jetzt das neue Buch von David Wagner über ein
großes Th ema unserer Zeit: Demenz.
«Zu Tr änen rührend, aber auch voller Humor und Lebens-
freude (...), ein Buch der Erinnerung, das aus ständigem
Ve rgessen entsteht.» Welt am Sonntag
«So unaufdringlich komponierte Dialoge, dass durch sie hin-
durch immer mehr von einem verborgenen, verschwiegenen
Geschehen sichtbar wird.» Süddeutsche Zeitung
«David Wagner kreiert in seiner Prosa einen ganz eigenen Ton,
die mit zum Besten gehört, was es hierzulande derzeit zu lesen
gibt.» Frankfurter Allgemeine Zeitung