Süddeutsche Zeitung - 09.11.2019 - 10.11.2019

(Greg DeLong) #1

B


röckelige Fassade, von wildem
Wein zugewuchert, bunte Fens-
terrahmen: Die Tucholskystra-
ße 30 in Berlin-Mitte hebt sich
ab von den schick sanierten
Häusern der Umgebung. Das hier ist ein
Relikt der Wendezeit, jener wilden Jahre,
als Berlin eine Art Abenteuerspielplatz
war, mit viel Platz und wenig Regeln. Auch
die Bewohner sind ein Relikt dieser Zeit.
Sie waren eine Gruppe junger Kreativer,
die ein Haus brauchten. Also haben sie
eines besetzt, das leer stand.
Heute sind sie nicht mehr ganz so jung –
und der Wohnungsmarkt, den sie vor fast
30 Jahren aufmischten, ist ein anderer:
Straße für Straße haben Investoren in den
vergangenen Jahren die Berliner Innen-
stadt aufpoliert, Menschen mit Geld ka-
men in die Kieze, Bewohner mit weniger
Geld zogen weg. Berlin veränderte sich
und tut es immer noch.
Inzwischen ist allerdings nicht so klar,
wer auf dem Immobilienmarkt als Gewin-
ner und wer als Verlierer dastehen wird.
Denn der rot-rot-grüne Senat von Berlin
hat in den vergangenen Jahren zahlreiche
Instrumente erfunden, um den Wohnungs-
markt zu regulieren. Zuletzt hat er im Okto-
ber einen Mietendeckel beschlossen, der –
da sind sich Kritiker und Befürworter einig



  • die Stadt stark verändern wird. Und wer
    verstehen will, wie es dazu kam, der findet
    in der Tucholskystraße 30 gute Anhalts-
    punkte.
    Die Bewohner fürchten, bald kein Dach
    mehr über dem Kopf zu haben. Einer von
    ihnen, Martin Küchler, dunkle Locken mit
    grauen Strähnen, Zigarette in der Hand,
    sitzt an einem Herbsttag in der Gemein-
    schaftsküche und erzählt die Geschichte
    der ehemaligen Hausbesetzer. Die klingt,
    als hätten Drehbuchautoren sie sich für ei-
    nen Berlin-Film ausgedacht. Mit 23 Jahren
    zog Küchler im Sommer 1991 in die Tuchol-
    skystraße 30, zusammen mit Freunden
    aus Ost und West: „Wir waren ein Projekt
    der Wiedervereinigung.“ So wie sie mach-
    ten es damals viele, sie nahmen sich die
    Wohnungen, die sie brauchten. Einige der
    besetzten Häuser wurden wenig später ge-
    räumt, andere Mietverhältnisse legalisiert
    oder in Genossenschaften umgewandelt.
    Der Eigentümer, der die Tucholskystra-
    ße 30 später von einer Erbengemeinschaft
    übernahm, hatte nichts gegen die jungen
    Wilden, er fragte die Bewohner sogar, ob er
    das Haus sanieren solle. Sie lehnten ab und
    führten für wenig Miete ein Leben, das
    man fast schon als Berlin-Folklore bezeich-
    nen kann. Sie arbeiteten kreativ und oft
    unbezahlt, machten Deutschlands erste
    und einzige Comicbibliothek „Bei Renate“
    auf und eine Kneipe, in der man auch mal
    sitzen kann, ohne zu konsumieren. Martin
    Küchler arbeitete unter anderem als Ent-
    wicklungshelfer, inzwischen entwickelt
    der Pädagoge Lernvideospiele. Das Haus
    hielten er und seine Mitbewohner selbst in
    Schuss.


Doch vor Kurzem liefen auf einmal Pro-
jektentwickler durch das Haus, zückten
Handys, fotografierten Zimmer. Sie berie-
ten lautstark, wie sie das Gebäude um-
krempeln könnten, es soll der Satz gefallen
sein: „Wir lassen nur die Fassade stehen.“
Denn die Tucholskystraße 30 wurde ver-
kauft. Das Haus gehört jetzt zum Firmenge-
flecht von Marc, Oliver und Alexander Sam-
wer. Das sind jene Brüder, die unter ande-
rem hinter dem Online-Versandhändler
Zalando stecken und die zu den reichsten
Unternehmern Deutschlands zählen.
Sie stehen für das neue Berlin, die Stadt
der Start-up-Unternehmer, die junge Leu-
te aus aller Welt anzieht. Und zwar junge
Leute, die nicht nur revolutionäre Ideen im
Kopf haben, sondern auch Geld in der Ta-
sche. In der Tucholskystraße trifft dieses
neue Berlin auf das alte Berlin, das mit Ka-
pitalismus nicht besonders viel anfangen
kann. Und wo diese beiden Seiten aufeinan-
dertreffen, knallt es regelmäßig. Im ver-
gangenen Jahr in Kreuzberg, zum Beispiel.
Da verhinderten Aktivisten, dass Google
aus einem alten Umspannwerk einen Cam-
pus macht. Und irgendwo dazwischen
steht die Berliner Politik, die dem neuen
und dem alten Berlin gerecht werden will.
Sie pflegt einerseits das Image der Start-
up-Hauptstadt. Als im Frühsommer die
Firmenzentrale von Zalando, ein riesiger
Komplex mit viel Glas, in Friedrichshain er-
öffnet wurde, gab sich die Prominenz die
Klinke in die Hand. „Zalando ist Berlin“,
sagte Wirtschaftssenatorin Ramona Pop
von den Grünen. Die Erfolgsgeschichte des
Unternehmens spiegele Berlins Stärken
wieder: Innovation, Kreativität und Offen-
heit. Auf der anderen Seite muss die Stadt
mit den Folgen des Berlin-Booms fertig
werden, die vor allem beim Thema Woh-
nen Unfrieden stiften.
Dass die Samwer-Brüder auf dem Im-
mobilienmarkt mitmischen, passt ins Bild.
Das Geschäftsmodell von Rocket Internet,
das die Brüder 2007 gegründet hatten, ist
es zu gucken, was anderswo funktioniert.
Um dann etwas Ähnliches aufzuziehen. So
entstanden Zalando, der Lieferdienst Hello
Fresh sowie der Möbelversand Home24.
Doch inzwischen ist es schwieriger gewor-
den, Gründer zu finden. Man habe mehr
Kapital als Ideen, sagte Oliver Samwer, Vor-
standschef von Rocket Internet, auf der
Hauptversammlung der Aktionäre im Mai.
Drei Milliarden Euro wollen investiert wer-
den. Deswegen wurde die Satzung geän-
dert: Rocket Internet kann nun auch Immo-
bilien kaufen. Die Digitalindustrie setzt
auf Betongold.


Und sie ist damit nicht allein. Der inter-
nationalen Beratungsfirma JLL zufolge
wurden allein von Januar bis September
knapp zwölf Milliarden Euro in Immobi-
lien in der Hauptstadt gepumpt. Eine Im-
mobilie in Berlin gilt als „No-Brainer“, als
etwas, das immer geht. Häuser sind für vie-
le das perfekte Investment, ein Geschäfts-
modell, bei dem man wenig falsch machen
kann. Reden wollen die Samwers nicht dar-
über, auf Anfrage bekommt man lediglich
eine kurze Mail auf Englisch: „Hi, we don’t
comment.“
Was haben sie mit der Tucholskystra-
ße30 vor? Der Asset Manager sagt, man
plane nicht, das Haus aufzuteilen oder in
Eigentumswohnungen zu verwandeln. Es
seien Gutachten erstellt worden, um den
Zustand des Gebäudes zu prüfen und Män-
gel zu beseitigen. Ende August bekamen
die Bewohner einen Brief: Sie dürften den
Dachboden nicht mehr betreten, es gebe
Bedenken wegen des Brandschutzes, in
vier Tagen werde er geräumt, Wertsachen
für 30 Tage eingelagert, Sperrmüll ent-
sorgt. Sind das die ersten Anzeichen dafür,
dass demnächst saniert wird, ein beliebtes
Mittel, um Mieter zu verschrecken und am
Ende die Mieten zu erhöhen?
Immer wieder machen solche Geschich-
ten in Berlin Schlagzeilen. Von Häusern,
die umgebaut werden, und danach soll ein
Mieter nicht mehr 450 Euro zahlen, son-
dern 1400. Von Häusern, die über Monate
mit blickdichten Planen verhängt werden,
um die Bewohner zum Ausziehen zu bewe-

gen. Von vermieteten Wohnungen, die mit
einem völlig anderen Grundriss im Inter-
net zum Verkauf stehen.
Auch in der Nachbarschaft der Tuchol-
skystraße 30 ist in den vergangenen Jah-
ren kein Stein auf dem anderen geblieben.
Nach und nach verschwand das Alte, so wie
das ebenfalls besetzte Kunsthaus Tache-
les. 2012 musste die Touristenattraktion,
die mit ihrer zerschossenen Fassade zum
Symbol für die wilden Nachwendejahre
wurde, schließen. Jetzt entsteht hier ein
neues „Quartier am Tacheles“, mit Shop-
pingmall und hochpreisigen Eigentums-
wohnungen. Die Bewohner der Tucholsky-
straße 30 haben allerdings nicht vor zu ge-
hen. Sie alarmierten den zuständigen Bau-
stadtrat und hängten Transparente auf.
„Tanze Samwer mit mir“ steht darauf. Sie
inszenierten die Räumung des Dachbo-
dens als „Alternate-Reality-Game“ und
nannten es in Anlehnung an die Samwer-
Unternehmen Zalando und Lieferando:
„No pasarándo – Mr. Zalando“. Es gab ein
Solifrühstück und ein Konzert für die Nach-
barschaft.
Martin Küchler schwelgt indessen in
den alten Zeiten. Das besetzte Haus ist für
ihn mehr als nur ein Dach über dem Kopf.
„Es atmet Geschichte“, sagt Küchler. Als
sie vor dreißig Jahren in die leeren Woh-
nungen einzogen, standen da noch die
70er-Jahre-Möbel, die die vorherigen Be-
wohner, wie viele Ostberliner, beim über-
stürzten Aufbruch in ein neues Leben im
Westen zurückgelassen hatten. Im Keller

lag die Prothese des Handwerkers, dem
das Haus vor der deutschen Teilung gehör-
te, im Putz hinter den Toiletten fanden sich
Zeitungen aus dem Jahr 1934. Und da sind
natürlich die Bewohner, die sich in dem
Haus selbst verwirklichen und selbst orga-
nisieren konnten. Für Küchler, den Pädago-
gen, ist die Tucholskystraße 30 ein Experi-
mentierraum. „Demokratie muss im Klei-
nen beginnen, indem wir kooperieren, ei-
nen Interessenausgleich finden.“ Für all
das müsse weiterhin Platz sein in der
Stadt, sagt er.

Die Begehung mit dem Baustadtrat lief
gut, erzählt er einige Wochen später, die Be-
wohner fühlten sich von der Politik unter-
stützt. Der Dachboden ist jetzt trotzdem ab-
gesperrt, immerhin konnten sie ihre Sa-
chen vorher runterholen. Und sie wissen
nach wie vor nicht genau, was mit dem
Haus passieren wird. Einfach dasitzen und
abwarten wollen sie aber nicht. „Ich werde
ein Konzept für das Haus entwerfen“, sagt
Küchler, für ein nachhaltiges Leben in
Selbstverwaltung.
Der Konflikt um die Tucholskystraße30
steht für den neuen Berliner Häuser-
kampf, der immer neue Formen des Pro-
tests hervorbringt. Im Frühjahr 2018 dran-

gen junge Aktivisten unter dem Slogan
„#besetzen“ in neun Häuser ein und roll-
ten Plakate aus wie „Die Häuser denen, die
sie brauchen“. In ein leer stehendes Gebäu-
de einer landeseigenen Wohnungsbauge-
sellschaft in Berlin-Neukölln schleppten
sie Tische und Stühle. Anders als früher
geht es den Hausbesetzern aber nicht dar-
um, den Wohnraum für sich zu behalten.
Sie wollen dagegen protestieren, wie damit
umgegangen wird.
Die neuen Hausbesetzungen werfen
auch ein Schlaglicht auf die Berliner Poli-
tik und auf die Instrumente, mit denen die-
se den überhitzten Immobilienmarkt regu-
lieren will. An Ideen mangelt es nicht. Woh-
nungen als Ferienunterkünfte zu vermie-
ten oder länger leer stehen zu lassen, ist
per Gesetz verboten. Seit Längerem wer-
den „Milieuschutzgebiete“ ausgewiesen,
in denen es nur unter Auflagen erlaubt ist,
Häuser zu erwerben und zu sanieren.
Vor allem aber wird zurückgekauft, was
die Landeskasse hergibt. Gerade gingen
6000 Sozialwohnungen in Spandau und
Reinickendorf, die einst an eine Luxembur-
ger Immobilienfirma verkauft worden wa-
ren, für eine Milliarde Euro wieder an eine
landeseigene Wohngesellschaft. Oder die
Karl-Marx-Allee, jener von stalinistischen
Zuckerbäckerbauten gesäumte Prachtbou-
levard, mit dem die DDR der Welt zeigen
wollte, wie opulent man im Sozialismus
wohnen kann. Im Chaos der Nachwende-
jahre hatten die Häuser mehrmals die Ei-
gentümer gewechselt, zuletzt sollten sie an

den Konzern Deutsche Wohnen verkauft
werden. Das Land Berlin ging Ende vergan-
genen Jahres dazwischen und zog in einer
Hauruckaktion 680 Wohnungen an sich.
Doch was die Politik gerade unter dem
Schlagwort „Rekommunalisierung“ feiert,
hat seinen Preis. Nicht nur, dass die Rück-
käufe teuer sind, Experten befürchten
auch, dass damit der Immobilienmarkt
erst recht angeheizt wird. Denn wenn Ver-
käufer damit rechnen können, dass am En-
de die öffentliche Hand mitbietet, öffne
das der Spekulation Tür und Tor. Und Ber-
lin kann nicht alle Häuser kaufen, in denen
die Mieterinnen und Mieter sich bedroht
fühlen.
Genau solche Menschen berät die An-
wältin Carola Handwerg seit 21 Jahren. Aus
ihrem Büro im Prenzlauer Berg hat sie be-
obachtet, wie sich das Klima in der Woh-
nungsfrage zunehmend erhitzt hat. Men-
schen, die vorher nie auf die Straße gegan-
gen wären, nehmen jetzt an Demonstratio-
nen teil oder unterschreiben ein Volksbe-
gehren, das Immobilienkonzerne enteig-
nen will. An allen Ecken und Enden veran-
stalten Berliner Konzerte oder Demos ge-
gen Hausverkäufe oder Mieterhöhungen,
verteilen Flyer in den öffentlichen Ver-
kehrsmitteln, laden Politiker zu Hoffesten
ein. Mit Erfolg, sagt Handwerg, gerade die
bekannteren Investoren scheuten schlech-
te Presse. „Sie wollen nicht, dass jemand,
der sie googelt, als Erstes auf Berichte von
wütenden Mietern stößt.“
So wie von der Hausgemeinschaft in
Friedrichshain, die im Frühjahr erfuhr,
dass ihr Haus für 6,9 Millionen Euro ver-
kauft werden sollte. Was das bedeutete,
war den Mietern, einer bunten Mischung
aus älteren Paaren und jungen Zugezoge-
nen, Familien und Freiberuflern, sofort
klar. Die Wohnungen würden verkauft
und in Eigentum verwandelt werden. Die
ersten Interessenten kamen schon zur Be-
sichtigung, Leute aus aller Welt, die den Be-
wohnern offen ins Gesicht sagten, dass sie
die Wohnung für sich selbst wollten.
Doch die Hausgemeinschaft wandte
sich im Juli mit folgendem Slogan an die Öf-
fentlichkeit: „Freundliche Mieter suchen
Investor mit Herz.“ Die Immobilienfirma,
die den Verkauf über die Bühne bringen
sollte, unterstützte sie dabei. Weil es nicht
der übliche Protest gewesen sei, sagt Sven
Wärren, der Geschäftsführer der Firma,
„so etwas gab es noch nie.“ Am Ende fühl-
ten sich 14 private Investoren angespro-
chen. Der Unternehmer Michael Kölmel,
der mit einem Filmverleih und Beteiligun-
gen an Fußballklubs bekannt wurde, be-
kam den Zuschlag. Kölmel verspricht nicht
nur, die Mieten für fünf Jahre zu deckeln
und niemanden wegen Eigenbedarfs zu
kündigen, er hat auch eine Website ins Le-
ben gerufen, an die sich andere „Investo-
ren mit Herz“ wenden können, die an Häu-
sern interessiert sind. Auf Berlins Woh-
nungsmarkt ist das ein wahres Happy End.

Und jetzt kommt auch noch ein Mieten-
deckel. Für fünf Jahre sollen die Berliner
Mieten eingefroren werden, dazu gelten
Mietobergrenzen von 3,64 Euro bis 10,54
Euro, je nach Baujahr, Lage und Ausstat-
tung des Gebäudes. Die rot-rot-grüne Koa-
lition wäre an dem Vorhaben beinahe zer-
brochen, vor allem SPD und Linke standen
sich unversöhnlich gegenüber. Die SPD
wollte nicht in bestehende Mietverhältnis-
se eingreifen, die Linke Mieten in großem
Stil absenken. Den Kompromiss – abge-
senkt werden Mieten, die mehr als 20 Pro-
zent über den Obergrenzen liegen – darf
die linke Wohnsenatorin Katrin Lomp-
scher als Erfolg verbuchen. Es kursieren
allerdings seit Monaten verschiedene juris-
tische Gutachten, die sich nicht einig sind
in der Frage, ob der Mietendeckel über-
haupt vor Gericht Bestand haben wird.
Denn das Gesetz hat viele Gegner. Die
Opposition verurteilt den Mietendeckel als
Planwirtschaft und Enteignung rechtschaf-
fener Vermieter. Die Immobilienwirt-
schaft warnt davor, dass keine Wohnun-
gen mehr gebaut werden und Vermietern
die Altersvorsorge wegbricht. Auch sie
kann eine Geschichte erzählen, die dem
Idealbild des alten Berlins, das die Bewoh-
ner der Tucholskystraße30 so gern zeich-
nen, gründlich widerspricht: Nicht nur im
sozialistischen Ostberlin, sondern auch im
Westen der Stadt war der Wohnungsmarkt
vor der Wende stark reguliert. Bis 1988 galt
in Westberlin eine Mietpreisbindung. Woh-
nen war zwar billig, der Wohnraum jedoch
knapp und oft nicht weit von den Schilde-
rungen entfernt, mit denen einst der Maler
Heinrich Zille berühmt geworden war:
„Man kann mit einer Wohnung einen Men-
schen genauso töten wie mit einer Axt.“
Das war auch ein Grund, warum es im al-
ten Westberlin ebenso wie im wiederverei-
nigten Berlin so viele Hausbesetzer gab.
Sie nahmen sich den benötigten Wohn-
raum mit Gewalt, zogen in die Bruchbu-
den, die von den alten Bewohnern längst
aufgegeben worden waren, und lieferten
sich Straßenschlachten mit der Polizei.
Neu gebaut aber wurde in Berlin im Ver-
gleich zu anderen Großstädten wenig, so
wie auch heute zu wenig gebaut wird in der
wachsenden Metropole. Mietobergrenzen,
so argumentieren viele, ändern an diesem
großen Problem nichts. Doch darum geht
es denen nicht, die den Mietendeckel beju-
beln. Ihnen geht es um die Frage, wem die
Stadt gehört. Und nach Jahren herrscht in
Berlin wieder ein altes Gefühl. Dass es
noch lange nicht entschieden ist, wer am
Ende stärker sein wird: die Hausbesetzer
oder die Hausbesitzer.

36 WIRTSCHAFT REPORT Samstag/Sonntag, 9./10. November 2019, Nr. 259 DEFGH


„Es atmet Geschichte“: Für Martin Küchler (Bild unten) ist die Tucholskystraße 30 mehr als nur ein Dach über dem Kopf. Vor Kurzem kamen Projektentwick-
ler,und angeblich fiel der Satz: „Wir lassen nur die Fassade stehen.“ Mieterprotest in Berlin (Bild oben). FOTOS: JANINE SCHMITZ/PHOTOTHEK, HANNAH BEITZER

Schaut auf diese Stadt


Die einen fürchten, bald kein Dach mehr über dem Kopf zu haben, die anderen


rühmen die alten Zeiten der Hausbesetzer. In Berlin polieren Investoren Straße um Straße auf,


die Mieten steigen rasant. Szenen eines Häuserkampfs – mit mindestens zwei Wahrheiten


von hannah beitzer und verena mayer


Dass die Samwer-Brüder auf


dem Immobilienmarkt


mitmischen,passt ins Bild


Seit Längerem werden
„Milieuschutzgebiete“
ausgewiesen

„Man kann mit einer Wohnung
einen Menschen genauso
töten wie mit einer Axt.“
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