von patrick illinger
J
etzt also Udo. Vor zehn Jahren war es
Ida.Beide wurden von Paläoanthropo-
logen als Weltsensationen gefeiert.
Beide schrieben sie angeblich die Ge-
schichte der Menschwerdung neu. Ida war
ein Trockennasenaffe, der vor 47 Millio-
nen Jahren im heutigen Hessen lebte. Udo
war ein Menschenaffe, der vor 11,6 Millio-
nen Jahren im heutigen Allgäu lebte – und
das vermutlich auf zwei Beinen.
Zweifellos sind beide Funde faszinie-
rend. Ida, weil sie eine zuvor unbekannte
Seitenlinie im Stammbaum der Primaten
aufgerissen hat (Darwinius). Udo, weil er
der älteste bekannte Affe ist, dessen Kno-
chenbau eine aufrechte Gangart vermu-
ten lässt. Und Zweibeinigkeit ist bekannt-
lich auch eines der wesentlichen Features
bei der Entstehung des Menschen.
Doch weder Idas noch Udos Entdecker
konnten sich verkneifen, ihrem Fund die
abgelutschte Metapher vommissing link
anzuheften, dem angeblich letzten feh-
lenden Bindeglied zwischen Affe und
Mensch. Und hier wird es verwegen. Die
Vorstellung, dass Udo vor zwölf Millionen
Jahren im Allgäu herumrannte, seine
Nachfahren sich nach Kreta aufmachten
(wo man sechs Millionen Jahre alte Spu-
ren aufrecht gehender Affen gefunden
hat), um dann nach Afrika überzusiedeln
und in der Olduvai-Schlucht zum Homo
sapiens zu mutieren, ist schlichtweg ab-
surd. Nein, Udo ist ein interessantes Ur-
zeitwesen, aber er ist nicht Ur-Opa.
Die Metapher vommissing linkist im
Übrigen generell unsinnig. Sie zeichnet
ein falsches Bild von den komplexen Ab-
läufen der Evolution, die kaum je linear
abläuft, sondern wie ein Geflecht ineinan-
der verwobener Fäden aussieht. In der
heißen Phase der Menschwerdung ver-
wandelten sich Millionen Quadratkilome-
ter Regenwald Afrikas über Millionen Jah-
re hinweg in Savanne. Neue körperliche
Merkmale wurden für die zuvor auf Bäu-
men lebenden Primaten nützlich. Es kam
allerorten zu massenhafter Evolution, Co-
Evolution und Parallelentwicklung. Men-
schenaffen, Halbaffen, Australopitheci-
nen, Hominine und Hominide lebten mit-
einander, nebeneinander und nacheinan-
der. Irgendwann wurde ein leistungsfähi-
ges Hirn zum Vorteil. Die Wesen, die da-
von profitierten, machten Feuer, bauten
Speere, besiedelten Höhlen, bekämpften
sich gegenseitig und erfanden schließ-
lich das Smartphone.
Doch der genaue Weg dorthin, so ehr-
lich sollten Paläontologen sein, ist noch
längst nicht geklärt. Das liegt auch an der
insgesamt spärlichen Menge an Fundstü-
cken, aus denen man das riesige Puzzle
zusammensetzen könnte. Ein großer Pa-
läontologe hat die Herausforderung sei-
nes Fachs mit einer wunderbaren Meta-
pher beschrieben: Es sei wie der Versuch,
aus einem Schuh Karls des Großen und ei-
ner Coladose den Übergang vom Mittelal-
ter zur Neuzeit zu erklären.
Die Erde als fliegende Scheibe? Diese Vorstellung lehnen viele Flat-Earther ab – für sie gibt es zwar die flache Erde, aber keinen Weltraum. Weniger bizarr macht das die Sache allerdings nicht. FOTO: SHUTTERSTOCK
Patrick Illinger staunt,
wenn Forscher angeblich
die Menschheitsgeschichte
neu schreiben.
DEFGH Nr. 259, Samstag/Sonntag, 9./10. November 2019 37
WISSEN
von marlene weiss
M
al angenommen, man geht
auf eine beliebige Straße
und fragt zehn beliebige
Personen, wie das eigent-
lich so funktioniert mit der
runden Erde und ihrer Drehung. Warum
werden Menschen nicht durch die Zentri-
fugalkraft ins All geschleudert? Warum
drehen sich Luft und Wolken mit? Und war-
um fällt ein Ball, mit vollem Elan kerzenge-
rade in die Luft geworfen, wieder zu sei-
nem Ausgangspunkt, obwohl sich die Erde
doch weiterdreht? Allerspätestens bei ei-
ner Frage nach der Corioliskraft würden
wohl die meisten aufgeben: Weiß auch
nicht. Ist halt so.
An einem Freitagabend Ende Septem-
ber steht auf einem Campingplatz in Ams-
terdam ein Grüppchen Männer und Frau-
en herum. Manche tragen bodenlange Le-
dermäntel und strengen Nackenzopf; an-
dere sehen aus wie fröhliche Familienvä-
ter beim Feierabendbier. Die Camping-
platz-Kneipe ist schon verrammelt, es reg-
net abwechselnd nieselnd und in Strömen;
man steht und sitzt also unter großen
Schirmen ungemütlich im Dunkeln her-
um, aber die Stimmung ist ausgelassen.
Aschenbecher füllen sich, Flaschen wer-
den leerer. In einem Kamin schwelt ein
Feuerchen gegen die Kälte. Sie alle sind
hier, weil ihnen die Antwort „Ist halt so“ zu
dünn ist. Lieber glauben sie an die Mutter
aller Verschwörungstheorien: Die Erde ist
eine Scheibe – willkommen auf der inter-
nationalen Flat-Earth-Konferenz. Die ver-
gangenen 2500 Jahre Wissenschaftsge-
schichte von den alten Griechen bis heute,
von der Mondlandung bis zu Bildern aus
dem All und ein paar ziemlich zackige Di-
rektflüge von Neuseeland nach Südameri-
ka: alles Irrtum und Täuschung.
Drei junge Männer sitzen an einem der
Plastiktische und reden von der Mondlan-
dung, wobei es eher ein Stichwort-
austausch ist. „Die Fußabdrücke!“, sagt
einer. „Schon mal die Schuhe im Museum
gesehen, zu denen die passen sollen?“
Hahaha, Gelächter, Zustimmung von allen
Seiten. Klar, weiß man doch, wenn man
sich ein bisschen auf Youtube informiert,
dass sich die Nasa da vertan hat, absolut
lachhaft.
Man könnte sich ärgern über diese bi-
zarre Veranstaltung. Auch wenn es lustig
zugeht, treten die Teilnehmer über Jahr-
hunderte gesammeltes und akribisch do-
kumentiertes Wissen in die Tonne, nur
weil es ihrer Intuition widerspricht. Sie
sind stolz auf ihr kritisches Denken, plap-
pern aber den erstbesten Mist aus dem In-
ternet nach – na toll.
Wenn man aber die Irritation über den
offensichtlichen Unsinn herunter-
schluckt, kann man viel lernen über das,
was es bedeutet, Mensch zu sein auf einer
Erde, deren schnelle Drehung doch so eini-
ge überfordert. Man lernt freundliche
Männer und Frauen kennen, die zweifeln,
die verstehen wollen, die Dinge infrage
stellen und ernsthaft versuchen, ihr Bild
von der Welt mit ihrem Gefühl in Einklang
zu bringen. Wie konnte es eigentlich pas-
sieren, dass sie auf diesem Weg so falsch
abgebogen sind, dass es keinen Rückweg
zu geben scheint? Und was sagt das aus
über den Stand der Wissenschaft in der Ge-
sellschaft?
Mitten in dieser Gruppe Zweifler steht
Roxanne, schwarze Haare, Madonnenge-
sicht. Sie betreibt einen ziemlich erfolgrei-
chen Youtube-Kanal, er heißt „Roxanne,
the Globalist Denier“; gemeint ist, klar, die
Erde ist flach. Roxanne erzählt von ihrer
Schulzeit, ihrer religiös geprägten Erzie-
hung. Einen Globus habe man ihr nicht als
Modell, sondern als Tatsache vorgestellt.
„Warum soll ich das glauben?“ Stimmt ja
auch, man soll ruhig Dinge anzweifeln. So
funktioniert Lernen, und Wissenschaft
letztlich auch.
Dann hinterfragt man die Theorie von
der runden Erde eben, warum nicht. Ein
einfach zu bedienendes Messwerkzeug ist
das Auge, man könnte also zum Beispiel
ans Meer fahren – das ist von Amsterdam
aus nicht zu viel verlangt – und Schiffe be-
obachten. Warum ist immer zuerst der obe-
re Teil der Ozeanriesen zu sehen? Warum
ist auf Fotos von Toronto, die von der ande-
ren Seite des Lake Ontario aufgenommen
wurden, der untere Teil der Hochhäuser
von Wasser verdeckt? Weil der Horizont,
das kann man einfach ausrechnen, bei ei-
ner Sichthöhe von knapp zwei Metern nur
ein paar Kilometer entfernt ist. Eins zu
null für die Erde als Kugel, sollte man
meinen. Flat-Earther wie Roxanne aber
lassen sich von solchen Überlegungen
nicht aus der Ruhe bringen, sie kennen ge-
nug absurde Erklärungen, warum auch
Containerschiffe und Hochhäuser für eine
flache Erde sprechen.
Am nächsten Morgen sitzt am Ausgang
des Campingplatzes Grant aus Südafrika
und wartet auf den Shuttlebus, der die
Konferenzteilnehmer in die Stadt bringt.
Grant, leicht ergraute, kurze Haare, gefällt
es hier, so unter Gleichgesinnten. Für ihn
war, wie wohl für die meisten Konferenz-
teilnehmer, ein Youtube-Film der Anfang.
Youtube ist ja stets ein guter Ort, um mit
den einfachen unter den unzähligen Ver-
schwörungstheorien zu starten, schwups
hinein, in den Sog des Zweifels: „Es hat
mich nachdenklich gemacht.“ Also noch
mehr Youtube, immer tiefer hinab in die
dunkle Welt der Verschwörung, dazu das
vage Gefühl, dass man doch merken müss-
te, wenn die Erde sich mit einer Bahnge-
schwindigkeit von – am Äquator – 1670 Ki-
lometern pro Stunde um sich selbst dreht.
Und schließlich war er überzeugt: Die Wis-
senschaft verbreitet nichts als Lügen.
„Echte Wissenschaft ist eine tolle Sache“,
sagt Grant. Gegenfrage: Was ist echte Wis-
senschaft? „Beobachtbar, überprüfbar“,
sagt er.
Da würden alle seriösen Forscher zu-
stimmen. Seit der wissenschaftlichen Re-
volution im 16. und 17. Jahrhundert arbei-
ten Naturwissenschaftler mit systemati-
schen Experimenten und Hypothesen, die
zu überprüfen sind. Es war ein fundamen-
taler Wandel, weg von der Arbeit ihrer Vor-
gänger, die jahrtausendelang viele theore-
tische Betrachtungen darüber anstellten,
wie die Welt sein sollte – statt nüchtern zu
erfassen, wie sie ist. Dieser dramatische
Umbruch, angestoßen von Wissenschaft-
lern wie Nikolaus Kopernikus und Francis
Bacon, hat der modernen Naturwissen-
schaft den Weg geebnet.
Für die Leute hier in Amsterdam heißt
„beobachtbar, überprüfbar“ aber nicht,
dass Experimente nur dann einen Wert be-
kommen, wenn sie reproduzierbar sind.
Sie meinen damit vielmehr: Ich kann es se-
hen, in meinem Vorgarten, ohne weitere
Vorkenntnisse. Und dass ihre Messungen
der Erdkrümmung mit selbstgebastelten
Instrumenten und irgendwelchen Lasern
wenig zuverlässige Ergebnisse produzie-
ren, ist zweitrangig – Hauptsache, die Da-
ten kommen aus erster Hand, immerhin
ist da nichts getrickst oder gefälscht.
Historisch betrachtet ist diese Form der
Garagenforschung ein schrecklicher Rück-
schritt, und zwar in doppelter Hinsicht:
Erstens macht sie die systematische Er-
forschung der Natur unmöglich, die ein
weiteres Grundprinzip evidenzbasierter
Wissenschaft ist: Die Arbeit des einen baut
auf jener vieler anderer auf. Und zweitens
sollte man seinen Eindrücken – wie dem
Gefühl, dass sich da nichts bewegt und
nichts krümmt – nicht allzu blind vertrau-
en. Oder noch schlimmer, sie zu einer Pseu-
dowissenschaft überhöhen, von der Flat-
Earth-Gemeinde oft „Zetetizismus“ ge-
nannt.
Das schwarze Taxi hält vor der Oba-Bi-
bliothek, einem imposanten Gebäude am
Wasser. In den Tagen zuvor beschwerten
sich Bürger, dass die größte öffentliche Bi-
bliothek der Niederlande ihren Konferenz-
raum für ein solches Treffen vermietet. Ir-
gendwie verständlich, andererseits auch
kein Beitrag zur Versöhnung der Flat-
Earth-Anhänger mit dem Rest der Welt.
Drinnen könnte man aus den großen
Fenstern im obersten Stock wunderbar
den Horizont betrachten, wenn man denn
wollte. Aber man kann dahinter natürlich
auch einen riesigen Ozean vermuten, der
von dem hohen Eiswall der Antarktis ein-
gefasst ist; über all dem eine Kuppel und ei-
ne Sonne, die mal den einen, mal den ande-
ren Teil der Erde beleuchtet.
Es sind ziemlich viele Zuhörer gekom-
men, das Auditorium ist fast voll. Die Spre-
cher an diesem Abend betreiben alle You-
tube-Kanäle – mit denen man übrigens
viel Geld verdienen kann – und verweisen
gerne respektvoll auf „die Arbeit“ ihrer
Kollegen einen Klick weiter. Es ist wie in ei-
ner Parallelwelt, sie alle hier haben jeden
gesellschaftlichen Konsens über plausible
Fakten weit hinter sich gelassen.
Eine Hausfrau und Mutter aus den USA,
Karen B., referiert über die üblen Auswir-
kungen von Impfungen; Mark, ein Radio-
DJ aus Großbritannien, spricht über Ge-
dankenkontrolle durch elektronische Mu-
sik. Youtuber Paul on the Plane distanziert
sich verächtlich von den Modellen, die
manche in der sogenannten „Flat Earth So-
ciety“ propagieren. Aus seiner Sicht ist die-
se ganze Institution „kontrollierte Opposi-
tion“, also Teil der Weltverschwörung.
Selbstverständlich etwa fliege die Erde
nicht als Scheibe durchs All. Schon gar
nicht mit konstanter Beschleunigung – ei-
ne Idee, die die Vertreter der Flat-Earth-So-
ciety als alternative Gravitationstheorie
vorstellen. Als Beobachter könnte man
meinen: Das ist dann auch schon egal.
Aber viele hier halten solche Modelle für
absurde Erfindungen, die nur dazu da
sind, die Flat-Earth-Gemeinde zu diskredi-
tieren.
Andere Vorträge sind erstaunlich tech-
nisch. Zack etwa, ein spanischer Projekt-
manager, erklärt absolut korrekt, wie
schon die alten Griechen anhand von Son-
nenständen den Erdradius berechneten.
Ein ähnlich perfektes Modell für die flache
Erde stehe leider noch aus, räumt er ein.
In den Pausen zwischen den Vorträgen
stehen alle im Vorraum herum und quat-
schen. Zwischen den Youtube-Persönlich-
keiten mit ihrer Internet-Aura wuselt eine
junge Frau herum. Sie nennt sich Didi
Vanh, was wohl nicht ihr ganz echter All-
tagsname ist. Sie wohnt in Belgien und ist
eine der beiden Organisatoren dieses Tref-
fens. Vanh ist anders als viele hier. Sie
macht sich Gedanken, die nicht direkt von
Youtube kommen. Sie missioniert nicht;
es ist ihr nicht so wichtig, ob andere Leute
an die flache Erde glauben oder nicht.
Seit vier Jahren ist sie dabei. Anfangs
war es schwierig, „ich habe ein paar Freun-
de verloren“, sagt sie. Inzwischen hält sie
sich zurück: „Wenn das Thema aufkommt,
dann sage ich etwas, aber ich dränge es
nicht auf.“ Stattdessen ist sie bei „Fecore“
aktiv, einer Bewegung, die etwa Laser über
Seen schickt, um zu beweisen, dass die
Wasseroberfläche flach ist, und eben nicht
gekrümmt. Leider sind solche Experimen-
te dafür vollkommen ungeeignet. Denn
kein einfacher Laser kann seinen Strahl
über mehr als ein Dutzend Kilometer bün-
deln – stattdessen entsteht ein Kegel, so-
dass die Quelle auch noch zu sehen sein
kann, wenn die Strahlmitte wegen der Erd-
krümmung weit über dem Beobachter an-
kommt. Außerdem gibt es auf der Erde
nun mal keine Seen im Vakuum. Die Bre-
chung des Lichtes durch wärmere oder käl-
tere Luftschichten macht jede vernünftige
Messung unmöglich.
Aber trotz alledem, trotz den irren Theo-
rien und der Arroganz, mit der hier Wissen-
schaft verhöhnt wird, stellt sich auch Didi
Vanh Fragen, die Menschen schon immer
beschäftigt haben – und es immer noch
tun. „Wer sind wir? Woher kommen wir?
Und was tun wir hier?“
ANTHROPOLOGIE
Das Getrommel
des Paläo-Pop
Intensive Landwirtschaft hat den
Aralseezu einer Salzwüste
gemacht. Ein Ortsbesuch Seite 38
Ausgetrocknet
Nachrichten vom Pfannkuchen
Es gibtsie, und es sind viele: Anhänger der Flat-Earth-Theorie glauben mit vollem Ernst an eine Welt als Scheibe.
Man kann sich darüber ärgern – oder verstehen, wie wichtig Menschen die Frage nach ihrem Dasein ist
UNTERM STRICH
WASSERVERBRAUCH
1 Liter Wasser
benötigt die Produktion von
1 Kilogramm Mehlwurmfleisch
15500 Liter
benötigt die Produktion von
1 Kilogramm Rindfleisch
SZ-Grafik: Sara Scholz, Sead Mujić; Quelle: FAO, insekten-essen.info
Udo ist ein interessantes
Urzeitwesen, aber er ist nicht
der Ur-Opa der Menschheit
Warum ist am
Meereshorizont
immer zuerst der
obere Teil großer Schiffe
zu sehen?
Es ist wie in einer Parallelwelt.
Darin haben alle jeden
gesellschaftlichen Konsens
über plausible Fakten weit
hinter sich gelassen