A
ls vor 30Jahren die Mauer fiel,
später der Warschauer Pakt auf-
gelöst wurde und letztendlich
die Sowjetunion in ihre Glied-
staaten zerbrach, lag die Erwar-
tung nah, dass auch die westliche Ord-
nung kollabieren würde. Wo alles stürzt,
kann die Restmasse des Kalten Krieges
nicht überleben. Zu dieser Restmasse ge-
hörte vor allem die Nato und mit ihr Ameri-
ka in Europa. Ein Bündnis ohne Daseins-
zweck wird überflüssig – dafür gibt es in
der Geschichte genug Beispiele.
Aber die Geschichte ließ sich Zeit. Die
Nato wurde in 30 Jahren schon häufig für
tot, obsolet oder nun hirntot erklärt. Noch
aber gibt es sie, und mehr noch gibt es das
Staatenbündnis Europäische
Union, das die Idee des Multila-
teralismus über die Sicherheits-
politik hinaus perfektioniert
hat und in seinem Kern ein Pro-
jekt der Stabilität und des Frie-
dens ist.
Niemand hätte allerdings
vor 30 Jahren vorausgesehen,
dass es ausgerechnet die USA
sein würden, die ihrer eigenen
Nachkriegsordnung überdrüs-
sig werden – einer Ordnung,
die Amerika nahezu unbegrenz-
te Macht und Einflussmöglich-
keiten gegeben hat.
Wenn der französische Präsi-
dent jetzt der Nato die letzte Eh-
re erweisen will, dann stellt er
nur das Offensichtliche fest:
Die europäische Ordnung nach
dem Fall der Mauer unterschei-
det sich in ihrem Kern nicht von
der (west-)europäischen Sicher-
heitsarchitektur im Kalten Krieg, wo die
Nato-Mitglieder Schuldscheine an Wa-
shington ausgestellt und im Gegenzug der
USA ein gewaltiges Einflussgebiet eröff-
net haben. Diese Sphäre übersteigt das Mi-
litärische und ist mit all ihrem politi-
schen, wirtschaftlichen, technologischen
und kulturellen Erfolg zum amerikani-
sche Jahrhundert geronnen.
Soll es damit nun vorbei sein? Erlebt
Europa eine dieser bitter ironischen Wen-
dungen der Geschichte, wo ausgerechnet
zum 30. Jahrestag des Mauerfalls und
zum 70. Geburtstag der Nato das Bild der
eigenen Sicherheit grell beleuchtet und
als Fälschung entlarvt wird? Die Antwort
auf derart wuchtige Fragen muss erfah-
rungsgemäß differenzierter ausfallen, als
der französische Präsident es offensicht-
lich zu artikulieren in der Lage war. Natür-
lich hat sich die europäische Sicherheitsar-
chitektur weiterentwickelt, natürlich ha-
ben sich das Verständnis von Sicherheit
und die Bedrohungsszenarien drastisch
verändert. Die Staaten Mitteleuropas ha-
ben ihre neue Souveränität genutzt und in
freier Entscheidung den sicherheitspoliti-
schen Schutz durch die Nato gesucht. Die
Erweiterung von EU und Nato diente vor
allem der Erweiterung und Festigung der
Grundprinzipien der Demokratie – sicher-
heitspolitisch ein Geniestreich.
Aber diese neue Architektur hatte zwei
Konstruktionsfehler, die heute Zweifel an
der Stabilität des Gebildes wecken. Um
die Vision eines geeinten und freien Euro-
pas zu erfüllen, müsste die bis
ins Zeitalter der Kirchenspal-
tung wurzelnde Teilung zwi-
schen West und Ost aufgeho-
ben werden. Bemühungen zur
Einbindung Russlands gab es
zwar reichlich, aber am Ende
blieben die Chancen der Neun-
ziger- und Nullerjahre unge-
nutzt – von beiden Seiten wohl-
gemerkt.
Der zweite Fehler lag in der
Vorstellung begründet, die
USA würden auf ewig den si-
cherheitspolitischen Gläubi-
ger geben. Da unterlagen die
Europäer und gerade vor allem
die der Sicherheitspolitik ent-
wöhnten Deutschen einem
wuchtigen Trugschluss: Wachs-
tum, Export, Wohlstand, inne-
re Stabilität können auf die
eigene Rechnung gehen, Ab-
wehr der modernen Bedrohun-
gen aber nicht. Es brauchte die Brutalität
eines Donald Trump, um den Europäern
ihren Schuldenstand klarzumachen. Em-
manuel Macrons panische Reaktion hallt
besonders gut im sicherheitspolitischen
Hohlkörper Europa. In sich zusammenge-
fallen ist der aber noch lange nicht.
Vor allem die Deutschen lebten zu lan-
ge in der Vorstellung, die Welt werde sich
schon nach ihrem Einheimischenmodell
entwickeln: umgeben von Freunden, aller
Sorgen entledigt. Drei Dekaden nach dem
Epochenbruch wird schmerzlich bewusst,
dass Ordnungsmodelle niemals auf Dauer
bestehen. Frieden und Stabilität lassen
sich nicht ersitzen, auch wenn der glückli-
che Weg der Geschichte dieses Land vom
Frontstaat im Kalten Krieg in die Mitte
eines friedlichen Europas geführt hat.
M
an muss schon mit einem
ziemlich sonnigen Gemüt
ausgestattet sein, um die-
sen 30. Jahrestag des Mau-
erfalls ausgelassen zu fei-
ern. Natürlich macht die Erinnerung da-
ran froh, dass die Bürger der DDR sich ihre
Freiheit erkämpften, dass Ost- und West-
deutschland zusammenwuchsen. Aber
der Blick darauf, wo das Land drei Jahr-
zehnte nach diesem überwältigenden Er-
eignis steht, dämpft die Freude – zu-
nächst jedenfalls. Und erst beim zweiten
Hinschauen zeigt sich, dass nicht alles nur
Anlass zur Sorge gibt.
Die Mauer zwischen DDR und BRD ist
Vergangenheit. Aber etliche Ungleichhei-
ten sind es nicht. Die Menschen im Osten
verdienen im Schnitt deutlich
weniger als die im Westen,
haben niedrigere Renten, ein
höheres Risiko, ihre Arbeit zu
verlieren oder in Armut abzu-
rutschen, und sehr viel geringe-
re Chancen, an Spitzenjobs zu
kommen.
Gewiss, in den vergangenen
drei Jahrzehnten sind eine Rei-
he ostdeutscher Städte aufge-
blüht; ein Teil der Bürger dort
ist zu Wohlstand gelangt; die
Animositäten zwischen Ost
und West sind geringer gewor-
den. Aber es bleibt die Erkennt-
nis, wie lange und stark Fehler
nachwirken, die vor Jahrzehn-
ten gemacht worden sind. Von
dem, was die DDR in das verei-
nigte Deutschland hätte ein-
bringen können, zählte fast
nichts. Die erhaltenswerten Tei-
le ihrer Wirtschaft, gesellschaft-
liche Errungenschaften wie die Vereinbar-
keit von Beruf und Familie, Erfahrungen
mit dem Leben in einer Diktatur und dem
erfolgreichen Widerstand dagegen – all
das spielte keine oder kaum eine Rolle, als
es darum ging, aus zwei Staaten einen zu
formen. Die Chance, eine neue, gemeinsa-
me Verfassung zu erarbeiten, über deren
Entwurf die Bürger der DDR und der BRD
erst leidenschaftlich gemeinsam hätten
diskutieren und dann zusammen hätten
abstimmen können, ließ die damalige Re-
gierung Kohl gezielt verstreichen.
Der Westen signalisierte dem Osten
mit nahezu allem, was er tat und was er un-
terließ: Seid froh, dass wir euch aufneh-
men. Und im Osten gaben sich längst
nicht alle, aber doch zu viele Menschen
erst einmal damit zufrieden.
Dem kurzen Einheitsrausch folgte ein
langer Kater. Seine Symptome wie Frust
vor allem im Osten und gegenseitige
Fremdheit ziehen sich bis in die Gegen-
wart und übertragen sich von den Älteren
auf die Jüngeren. Das Gefühl, den Kürze-
ren gezogen zu haben und nicht wirklich
gehört zu werden, treibt der AfD im Osten
noch viel mehr Wähler zu als im Westen.
Was überall wirkt, wirkt in den gar nicht
mehr so neuen Bundesländern besonders
stark: die Angst, den Anforderungen von
Globalisierung und Digitalisierung nicht
gerecht zu werden; der Eindruck, die da
unten seien denen da oben egal; das Ha-
dern mit der liberalen Demokratie.
Als Entschuldigung dafür, sein Kreuz
bei der AfD zu machen, geht das freilich
nicht durch. Etwa 25 Prozent
aller Stimmen für eine mit
Rechtsextremisten durchsetz-
te Partei bei drei Wahlen jüngst
im Osten und etwa 14 Prozent
in Umfragen für Gesamt-
deutschland: Das ist nicht nur
besorgniserregend. Das ist
auch eine Schande, so wie es ei-
ne Schande ist – und beson-
ders in der Erinnerung an die
Reichspogromnacht am 9. No-
vember 1938 auch ein Schmerz
–, dass Antisemitismus und
Rassismus in diesem Land wie-
der angewachsen sind.
Trotz alledem gibt es keinen
Grund, nur Trübsal zu blasen.
Im Westen wie im Osten ent-
scheidet sich noch immer eine
große Mehrheit der Wähler für
demokratische Parteien. Und
hüben wie drüben gibt es eine
wache Zivilgesellschaft, die
sich gegen Hass und Ausgrenzung
stemmt.
Hinzu kommt: Längst nicht alles, was
Verdruss in den neuen Bundesländern
auslöst, muss so bleiben. Daran, dass die
Infrastruktur in manchen Landstrichen
marode ist, lässt sich etwas ändern, wenn
verantwortliche Politiker Ideen und Geld
investieren. Das Gefälle der Einkommen
und Renten hüben und drüben könnte
man in den Mittelpunkt einer großen De-
batte stellen, die dann auch Druck entfal-
ten würde. Und es wäre kein Hexenwerk,
Spitzenpositionen von Politik, Unterneh-
men oder Wissenschaft mit deutlich mehr
Ostdeutschen als bisher zu besetzen. All
das und mehr wäre möglich, um die Kluft
zwischen Ost und West zu verkleinern.
Man muss es nur wollen.
Die Kluft
zwischen
Ost und
West
muss
endlich
verringert
werden
EUROPAS SICHERHEIT
Alles nur geborgt
von stefan kornelius
FOTO: PRIVAT
Die
Deutschen
haben
zu lange
mit
falschen
Vorstellungen
gelebt
DEUTSCHLANDS EINHEIT
Gedämpfte Freude
von ferdos forudastan
HERAUSGEGEBEN VOM SÜDDEUTSCHEN VERLAG
VERTRETEN DURCH DEN HERAUSGEBERRAT
CHEFREDAKTEURE:
Kurt Kister, Wolfgang Krach
NACHRICHTENCHEFS:
Iris Mayer, Ulrich Schäfer
AUSSENPOLITIK:Stefan Kornelius
INNENPOLITIK:Ferdos Forudastan; Detlef Esslinger
SEITE DREI:Alexander Gorkow; Karin Steinberger
INVESTIGATIVE RECHERCHE:Bastian Obermayer,
Nicolas RichterKULTUR:Andrian Kreye, Sonja Zekri
WIRTSCHAFT: Dr. MarcBeise
SPORT: Klaus Hoeltzenbein WISSEN: Dr.Patrick Illinger
PANORAMA:Felicitas Kock, Michael Neudecker
GESELLSCHAFT UND WOCHENENDE:Christian Mayer,
Katharina RiehlMEDIEN:Laura Hertreiter
REISE, MOBILITÄT, SONDERTHEMEN:Peter Fahrenholz
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Anzeigenaufnahme: Tel. (0 89) 21 83-10 10
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Hultschiner Straße 8, 81677 München, Tel. (0 89) 21 83-
DRUCK:Süddeutscher Verlag Zeitungsdruck GmbH,
Zamdorfer Straße 40, 81677 München
Irgendwann in den kommenden Wochen
wird ein Flugzeug abheben in Nouak-
chott, der Hauptstadt Mauretaniens. Dar-
in wird ein kahlrasierter Mann sitzen, der
jung aussieht für das, was er in 48Jahren
überstanden hat. Wahrscheinlich wird er
lächeln, denn das tut er meistens. Und
wenn die Maschine abhebt, wird er mit
großer Sicherheit erleichtert sein: endlich
ein Flug ohne Handschellen, ohne Kapuze
über dem Kopf. Der erste Flug seit dem
Frühjahr 2000, den er freiwillig antritt –
er kann ihn kaum erwarten.
Die letzten Male, die Mohamedou Ould
Salahi reiste, tat er das unter Zwang: Im
Jahr 2001 wurde er in seiner Heimat auf
Geheiß der USA festgenommen und ver-
schleppt. Über Jordanien und Afghanis-
tan landete Salahi im Gefangenenlager
Guantanamo auf Kuba, wo er Isolations-
haft, Folter und sexuelle Übergriffe durch-
leiden musste, aber auch eine sehr unge-
wöhnliche Freundschaft fand. Als Salahi
nach 15 Jahren endlich freikam, war er ein
Bestsellerautor: Als Autodidakt hatte er
sich in der Haft Englisch beigebracht und
zu schreiben begonnen. Anwälte setzten
durch, dass seine Chroniken aus der Hölle
veröffentlicht wurden. Die „Guantanamo-
Tagebücher“ (fälschlich unter dem Na-
men Slahi veröffentlicht) verstörten we-
gen Salahis Schilderungen, aber auch we-
gen der Zensurorgien der US-Behörden,
die ganze Seiten schwärzten.
2016 deportierten ihn die USA in seine
Heimat. Salahi lebte nun wieder in Nouak-
chott, freute sich, die Familie zu sehen
und das Grab der Mutter besuchen zu kön-
nen, die zwischenzeitlich gestorben war.
Wirklich frei war er aber immer noch
nicht – auf Druck der USA verweigerte
man ihm Reisedokumente. Seine Zelle in
Guantanamo hatte er gegen ein größeres
Gefängnis getauscht: Mauretanien.
Jetzt, drei Jahre später, hat Salahi ein
Foto von sich mit einem grünen Büchlein
in der Hand in den sozialen Medien veröf-
fentlicht. 34 Seiten ist es dünn und doch
so wertvoll: „Vor Kurzem sagte meine Re-
gierung, dass das verhängte rechtswidri-
ge Verbot aufgehoben wurde“, berichtet
er der SZ. „Ich wurde angerufen und infor-
miert, dass ich den Pass beantragen könn-
te, was ich sofort tat.“ Salahi erzählt das in
fließendem Deutsch. Bevor seine Odyssee
begann, studierte er in Duisburg Maschi-
nenbau. 1990 reiste er von dort nach
Afghanistan, um den Widerstand gegen
die von der Sowjetunion gestützte Regie-
rung zu unterstützen. Er schwor einer da-
mals noch kaum bekannten Gruppe die
Treue, die wohl auch vom Westen unter-
stützt wurde: al-Qaida. Nach eigener Aus-
sage brach er bald alle Verbindungen ab,
angeekelt vom Verhalten, das die Islamis-
ten nach dem Abzug der Sowjets zeigten.
Doch die Vergangenheit holte ihn im-
mer wieder ein: Sein Cousin diente al-Qai-
da-Chef Osama bin Laden zeitweise als Be-
rater und rief Salahi von dessen Satelliten-
telefon an. Ein anderes Mal beherbergte
er auf Bitten eines Freundes drei Studen-
ten für eine Nacht, die Jahre später zum
Terrorkommando des 11.September 2001
gehören sollten. Als die US-Geheimdiens-
te nach 9/11 all das herausfanden, waren
sie überzeugt, in Salahi einen hohen Ter-
rorkader gefunden zu haben und ließen
ihn so hart foltern, dass er noch heute un-
ter den Spätfolgen leidet. Doch irgend-
wann waren selbst seine Ankläger von sei-
ner Unschuld überzeugt, einer nannte ihn
„eine Art Forrest Gump“ – nach der Filmfi-
gur, die ohne Absicht durch viele zeitge-
schichtliche Momente stolpert.
Auch Salahis Leben wird nun verfilmt,
nach der Freilassung nahm es noch ein
paar hollywoodreife Wendungen. Einer
der Wärter, mit dem er sich in Guantana-
mo anfreundete, ist zum Islam konver-
tiert, hat Salahi in Mauretanien besucht
und wurde nun Patenonkel von dessen
Sohn. Ahmed ist diesen Frühling geboren
und hat seinen Vater bisher nur auf Bild-
schirmen gesehen. Er lebt mit seiner ame-
rikanischen Mutter in Deutschland – dort-
hin wird die erste freiwillige Reise führen,
die Mohamedou Ould Salahi bald antre-
ten wird. moritz baumstieger
von wolfgang janisch
D
as Strafrecht hatte nie sonderlich
viel für die Armen übrig, aber ein
Quäntchen Milde enthielt es dann
doch. Der „Mundraub“, juristisch korrekt
„Verbrauchsmittelentwendung“, über-
dauerte bis in die 1970er-Jahre im Strafge-
setzbuch. Wer aus persönlicher Not Le-
bensmittel stahl, um sie aufzuessen,
konnte mit mehr Nachsicht rechnen als
der normale Dieb. Das war der letzte Aus-
läufer einer biblischen Mildtätigkeit.
Aber seit es nicht mehr um Früchte vom
Weinberg des Nachbarn geht, sondern
um die Hähnchenkeulen vom Kühlregal,
passt das nicht mehr so recht in die Zeit.
Das Containern ist der Mundraub des
21.Jahrhunderts. Zwar ist es zumeist
nicht der akute Hunger, der Menschen da-
zu treibt, sich aus den mit essbaren Le-
bensmitteln gefüllten Abfallbehältern
der Supermärkte zu bedienen. Aber der
Griff in den Container zeigt einen Miss-
stand auf, der den Zeiten des Mundraubs
nicht so unähnlich ist. Auf der einen Seite
hat sich eine Verschwendungsgesell-
schaft eingerichtet, die ihre Abfallhalden
nicht nur mit rasch überholter Unterhal-
tungselektronik oder Markenkleidung
füllt, sondern auch mit essbarer Nah-
rung. Man wirft Dinge weg, die nicht von
ungefähr „Lebens-Mittel“ heißen; das
ist, wie so vieles, gänzlich neu in der
Menschheitsgeschichte. Auf der anderen
Seite werden die Tafeln immer länger, an
denen sich Menschen versammeln, weil
Hartz-IV zu knapp kalkuliert ist.
Der Essensklau aus dem Container ist
ein legitimes Mittel, um Staat und Gesell-
schaft auf diesen organisierten Wider-
sinn aufmerksam zu machen. In dieser
Form des Diebstahls steckt eine funda-
mentale Grundsatzkritik, weil er die Ab-
surdität auf die Spitze treibt: Bestraft
wird nicht, wer umweltschädigend Le-
bensmittel entsorgt, sondern wer sie wie-
der aus den Containern hervorholt. Der
soziale Gedanke, der einst in der Milde
für „Mundräuber“ steckte, wird auf den
Kopf gestellt. Klar, Eigentum ist Eigen-
tum, formal kommt man kaum daran vor-
bei, dass es sich um Diebstahl handelt.
Aber Staatsanwälte haben die Möglich-
keit, solche Verfahren einzustellen – und
die müssen sie nutzen. Es gibt hier nichts,
was man mit dem scharfen Schwert des
Strafrechts verteidigen müsste.
Eine Lösung bietet das Containern
trotzdem nicht. Gewiss, man könnte das
Strafrecht liberalisieren – aber will man
den Menschen allen Ernstes den Weg wei-
sen, Essen unter unhygienischen Bedin-
gungen aus dem Müll zu fischen? Nein, es
müssen andere Mittel her. Und dabei
könnte das Recht durchaus seinen Part
haben. Bundesernährungsministerin Ju-
lia Klöckner hat im Frühjahr eine „Natio-
nale Strategie“ ins Leben gerufen, um der
Verschwendung Einhalt zu gebieten. Das
klingt bombastischer, als es ist, aber es
ist auch nicht ganz verkehrt: Bewusstsein
wecken, Strukturen schaffen, politischen
Druck auf Handel und Lebensmittelin-
dustrie aufbauen. Ob das am Ende reicht,
wird man sehen.
Länder wie Frankreich und Tschechi-
en setzen auf harte Verpflichtungen. Weil
Unternehmen zwar auf ihren guten Ruf,
noch mehr aber auf ihre Gewinnmargen
achten, sollte man sich die Strategien der
Nachbarn genau anschauen. Raum für
persönliche Initiativen bleibt da übrigens
genug, auch ohne Containern. Mehr als
die Hälfte der entsorgten Lebensmittel
wurde in Privathaushalten weggeworfen.
von hubert wetzel
N
eigte man dem Sarkasmus zu oder
gar dem Zynismus, so könnte man
jetzt sagen: Klar, natürlich, warum
ist da nicht längst jemand drauf gekom-
men? Michael Bloomberg! Wer sonst? Das
ist genau der Kandidat, den die Demokra-
ten brauchen, um nächstes Jahr in der Prä-
sidentschaftswahl Donald Trump zu besie-
gen. Und nicht die streberische Professo-
rin Warren oder den zerzausten Genossen
Sanders oder den sich ständig in seinen ei-
genen Sätzen verlaufenden Schulterklop-
fer Biden; auch nicht den Jungspund mit
dem komischen Namen; und schon gar
nicht diese beiden Schwarzen, die bei den
Kandidatendebatten auch immer herum-
stehen. Sondern Bloomberg, den Milliar-
där aus Manhattan, der aber viel reicher
und viel netter ist als der andere Milliar-
där aus Manhattan, den er schlagen soll.
Was soll da schiefgehen?
Eine mögliche Antwort wäre: alles.
Man kann ja verstehen, warum Bloom-
berg ins Rennen um die Präsidentschafts-
kandidatur der Demokraten einsteigen
will. Die Schwächen der anderen Bewer-
ber sind offensichtlich. Elizabeth Warren
und Bernie Sanders, die Lieblinge des lin-
ken Flügels, sind eben vor allem das: die
Lieblinge des linken Flügels. Es gibt be-
gründete Zweifel, dass sie mit ihren teu-
ren, sozialrevolutionären Ideen in jenen et-
was konservativeren Bundesstaaten, in de-
nen die Wahl 2020 entschieden wird, ge-
nügend Wähler fänden, um Trump zu be-
siegen. Joe Biden wiederum, der Mann
der Mitte, der in Umfragen vor Trump
liegt, hat sich bisher als wenig mitreißend
erwiesen. Gut möglich, dass er, obwohl er
vielleicht der richtige Kandidat wäre,
schlicht deswegen nicht Kandidat wird,
weil ihm das Geld ausgeht.
Insofern kann man sich, wenn man ein
verzweifelter demokratischer Parteifunk-
tionär ist, schon einreden, dass Bloom-
berg wie ein Sieger aussieht. Am Geld wird
es ihm nie mangeln, er besitzt 53 Milliar-
den Dollar. Und politisch passt der frühe-
re New Yorker Bürgermeister auch ins Pro-
fil. Er ist kein harter, ideologischer Linker,
aber er ist links genug. Er wäre daher, so
das Kalkül seiner Unterstützer, ein solide-
rer Mitte-Kandidat als der wackelige Bi-
den, eine Art attraktiver Biden-Klon mit
unbegrenzten Mitteln.
Diese Diagnose erfasst das strategische
Dilemma der Demokraten korrekt: Ihre
Parteianhänger, die Anfang nächsten Jah-
res den Präsidentschaftskandidaten kü-
ren, stehen deutlich weiter links als die Ge-
samtheit der Amerikaner, die im Novem-
ber 2020 den Präsidenten wählen. Die
richtige Kandidatin oder den richtigen
Kandidaten zu finden, die oder derbeide
Wahlen gewinnen kann, ist schwierig, viel-
leicht sogar unmöglich.
Aber die Lösung dieses Problems be-
steht nicht darin, wenige Wochen vor der
ersten Vorwahl den 77Jahre alten weißen
Ostküsten-Establishment-Mann Biden
gegen den 77Jahre alten weißen Ostküs-
ten-Establishment-Mann Bloomberg aus-
zutauschen. Das sieht eher nach Panik aus
als nach Strategie. Außer Bloombergs Ego
hat bisher niemand gefordert, er solle kan-
didieren. Es gibt keine Beweise, dass aus-
gerechnet Bloomberg die Parteiaktivisten
in Iowa genauso begeistern kann wie die
Schwarzen in South Carolina oder die wei-
ßen Arbeiter in Wisconsin. Wenn es
schlecht läuft, endet seine Bewerbung in
einem parteiinternen Hickhack, das alle
Demokraten beschädigt. Und das freut
dann nur einen: Donald Trump.
Partei, soziale Bewegung,
religiöseMission, Miliz, mafi-
öser Schmugglerring und
nach Ansicht einiger Staaten
und internationaler Organi-
sationen auch Terrorgruppe – die libane-
sische Hisbollah hat viele Gesichter. Als
Israel 1982 im Nachbarland einmarschier-
te, organisierten sich radikale schiitische
Kreise, ausgebildet von iranischen Revo-
lutionsgarden. Bald trat die Gruppe unter
dem Namen „Partei Gottes“ auf und
schaffte es, die Führungsrolle unter Liba-
nons Schiiten zu erringen – durch militä-
rischen Erfolg und soziales Engagement.
Nach Ende des Bürgerkrieges 1990 positi-
onierte sich die Hisbollah auch im neuen
politischen System, 2018 errang die von
Hassan Nasrallah geführte Gruppe bei
den Wahlen etwa 13 der 128 Sitze im Parla-
ment, stellt mehrere Minister. Versuche
zur Entwaffnung des militärischen Flü-
gels scheiterten mehrfach, sodass die His-
bollah heute vor allem in Südlibanon ei-
nen Staat im Staate betreibt – und auch
im Ausland aktiv ist. Das syrische Re-
gime, das die Gruppe seit Langem unter-
stützt, hätte ohne ihre Hilfe den Bürger-
krieg wohl nicht gewonnen. Internatio-
nal geächtet ist die Hisbollah vor allem
auch wegen ihrer Rolle im Drogen- und
Diamantenschmuggel, durch den sie sich
in Teilen finanziert. Und wegen ihres
Kampfes gegen Israel und die USA – der
ihr den Terrorvorwurf einbringt. mob
4 MEINUNG HF3 Samstag/Sonntag, 9./10. November 2019, Nr. 259 DEFGH
CONTAINERN
Legitimer Diebstahl
Wersich Lebensmittel aus dem
Abfall nimmt, will aufrütteln
und sollte nicht bestraft werden
USA
Der falsche Mann
Ausden Anden nach Madrid sz-zeichnung: luis murschetz
AKTUELLES LEXIKON
Hisbollah
PROFIL
Mohamedou
OuldSalahi
Ex-Häftling aus
Guantanamo mit
großen Reiseplänen
Die Demokraten suchen eine
starke Alternative zu Trump.
Bloomberg bietet sie nicht