Süddeutsche Zeitung - 09.11.2019 - 10.11.2019

(Greg DeLong) #1
von harald hordych

E


s ist ein schöner Tag in Krakau,
dieser besonders schönen vom
Krieg, zumindest äußerlich, ver-
schont gebliebenen polnischen
Stadt, die lange die Residenz der
Könige war. Aber der Ort, an dem die deut-
sche Fernsehdelegation nun Station
macht, ist nicht so, wie man das prachtvolle
Renaissance-Krakau bisher kennenge-
lernt hat. Ein graues, gewaltiges Industrie-
Nachkriegsgebäude, nach langem Leer-
stand in schlechtem Zustand.
Nun könnte so eine Delegation, die dem
deutschen Film alle Ehre macht, aus der
Riege glänzender Charakterdarsteller wie
Katharina Schüttler, Rainer Bock, Bjarne
Mädel, Florian Lukas oder dem nur für ei-
nen Tag angereisten Ulrich Tukur beste-
hen, welche die jungen Hauptdarsteller
prächtig ergänzen. Aber hier stehen der
NDR-Intendant, der NDR-Filmchef, der
für das Werk von Siegfried Lenz zuständige
Literaturagent, der Chef einer der größten
Filmvertriebsfirmen in Europa – und sie al-
le sind nach Krakau gekommen, um einen
Tag lang den Dreharbeiten der sieben Milli-
onen Euro teuren Verfilmung des Romans
Der Überläuferbeizuwohnen. Und wäh-
rend ein Ortskundiger alles Wissenswerte
über das Nachkriegsgebäude vorträgt, ruft
der sportlichste der gewichtigen Gruppe
mit jugendlichem Übermut in eine Pause
des Vortrags hinein: „Hier gibt es übrigens
auch einen Atombunker!“ Ein gieriges Jun-
genlachen. Hier will einer nicht nur was ler-
nen, sondern auch was erleben.

Was so ein simpler Satz bewirken kann:
Alle blicken sich mit neuer Energie um. Ein
Atombunker? Wollte man doch schon im-
mer mal sehen! Wo ist er denn, der Bunker?
Das komplett erhaltene Kalte-Krieg-Re-
fugium, in dem eine bizarre Ausstellung
mit Strahlenschutz-Kinderwagen aufge-
baut ist, wird dann die Erinnerung an die-
sen Tag in Krakau nicht wirklich prä-
gen. Was aber bleibt, ist der Atombunker-
Satz. Der Produzent der Verfilmung von
Der Überläuferhat die Runde mit seiner we-
nig tiefgründigen, dafür zupackenden Be-
merkung aufgeweckt: Stefan Raiser hat bis-
lang mit der Produktionsfirma Dreamtool
Entertainment Filme wieAuf der Jagd nach
dem Bernsteinzimmerverantwortet. Ar-
beitsauftrag: pralle Unterhaltung.
Ausgerechnet dieser elanvolle, vom ame-
rikanischen Popcorn-Kino geprägte Mann
hat vor zwei Jahren die Rechte an einem Ro-
man erworben, den der Schriftsteller Sieg-
fried Lenz viele Jahrzehnte in seiner Schub-
lade versteckt hatte und der erst nach sei-
nem Tod 2014 veröffentlicht wurde. Ein
Politikum ist dieses vorgeblich unterhaltsa-
me Buch – und so etwas wie ein deutscher
Krimi, was seine Entstehungsgeschichte
angeht. Lenz-Bücher laufen in Deutsch-
land in der Kategorie „wertvolles Bildungs-
gut“. Würde ihr Inhalt nicht zwischen zwei
Buchdeckeln, sondern in Pappkartons auf-
bewahrt, stünde darauf: Vorsichtig behan-
deln. Nicht werfen. Nicht schütteln.
Christian Granderath, Leiter der NDR-
Abteilung Film, Familie und Serie, lässt in
Krakau keinen Zweifel, wie stolz er ist, dass
nun wieder ein Werk von Siegfried Lenz
zum Verfilmungskanon des NDR gehören
wird. Aber er ist auch stolz auf die NDR-Tra-
dition der letzten vier „eher konservativen,
werkgetreuen, sehr respektvollen Lenz-
Verfilmungen“, die Produzent Markus Tre-
bitsch verantwortet hat. Trebitsch, erzählt
Granderath, hatte sich auch um die Rechte
bemüht, sie aber nicht bekommen. Danach
gefragt, wie es ihm denn mit Raisers Stil ge-
he, wiegt Granderath den Kopf und sagt:
„Wir haben uns ja bewusst zu der Zusam-
menarbeit mit Stefan Raiser entschlossen.
Hollywood wollen wir nicht imitieren, das
Buch hat keine herzerweichende Happy-
End-Moral. Man kann einen Film über die
Filmmusik natürlich auch verkitschen.
Aber Film ist Teamwork, und darüber ent-
scheidet man dann gemeinsam im Schnei-
deraum. Ich bin da sehr entspannt.“
Für das Fernsehspiel mit den ganz leisen
Tönen steht Stefan Raiser jedenfalls nicht.

Aber warum ist das so wichtig? Warum ist
Lutz Marmor kurz vor seinem Abschied als
NDR-Intendant zum ersten Mal zu einer
Filmproduktion gereist? Und warum ist
der legendäre Filmproduzent Jan Mojto (Be-
ta Film) extra zum Dinner und zum Dreh
eingeflogen?
Der Überläufersoll in zwei 90-minüti-
gen Teilen zu jenem Tag gesendet werden,
an dem sich das Ende des Zweiten Welt-
kriegs zum 75.Mal jährt. Einen symbolisch
aufgeladeneren Termin als den 8. Mai
2020 gibt es für einen Kriegsfilm kaum. Zu-
malDer Überläuferdie Geschichte des 25
Jahre alten Wehrmachtssoldaten Walter
Proska erzählt, der kurz vor dem Ende des
Krieges im besetzten Polen die Seiten wech-
selt. Die Nazis bestraften jeden, der sich
dem Dienst an der Waffe entzog, mit äu-
ßerster Grausamkeit. Als sei es die Pflicht
eine Staatsbürgers, für ein verbrecheri-
sches Regime bis in den Tod zu kämpfen.
Als der junge Lenz diesen zweiten Ro-
man 1951 anbot, stieß das Manuskript bei
Hoffmann und Campe auf Ablehnung.
Lenz, der selbst in Dänemark desertiert
war, legte das überarbeitete Manuskript
dann 1952 für immer weg. Als es 2016 in sei-
nem Nachlass entdeckt wurde, wusste
auch seine Frau nichts davon; das Buch
wurde posthum veröffentlicht und mit posi-
tiven Kritiken überhäuft, auf derSpiegel-
Bestsellerliste erreichte es Platz eins.
Und dann hagelte es Anfragen für die
Verfilmungsrechte.
Literaturagent Günter Berg, der den
Nachlass von Lenz im Auftrag der Erben
verwaltet und seine gesammelten Werke
herausgibt, lächelt sein freudigstes Sieger-
lächeln, als er beim Abendessen im Krakau-
er Hotel erzählt, wie Stefan Raiser und der
Drehbuchautor Bernd Lange das Rennen
gemacht haben. Sieben Bewerber hätte es
gegeben, „aber Raisers Konzept war ein-
fach das mit Abstand beste, fesselndste, en-
gagiertste. Jede unserer Nachfragen zum
Konzept löste sofort neue Ideen aus. Diese

Begeisterung für Lenz’ Roman war anste-
ckend.“ Also erhielt das Duo Raiser/Lange
den Zuschlag, obwohl Raiser, 47, vorher
noch nie ein Lenz-Buch gelesen hatte, nein,
noch nicht malDeutschstunde. Den Roman
hatte ihm seine Frau in die Hand gedrückt.
Er verschlang das Buch an einem Wochen-
ende. Das Fesselnde liegt für ihn auch in
dem Zwiespalt der Hauptfigur, die Ent-
scheidung gegen die Kameraden, gegen
das Vaterland zu treffen – wer wisse denn,
wie man selbst damals entschieden hätte?
Das ist der eine Teil der Geschichte. Die
relevante Idee. Der andere Teil ist die Art,
wie Lenz diesen Stoff erzählt, nämlich als
packendes Soldatendrama, als klaustro-
phobisches Kammerspiel im Niemands-
land des Krieges, ein letzter Posten, im
sumpfigen, düsteren Wald, umgeben von
polnischen Freischärlern, die entschlossen
sind, die verhassten wie gefürchteten Wehr-
machtssoldaten zu besiegen. Lenz erfindet
komplexe, pralle Figuren und surreale Apo-
calypse-Now-hafte Szenen, schreibt bril-
lante Dialoge – und erzählt obendrein die
raue, schroffe Liebesgeschichte zwischen
dem deutschen Wehrmachtssoldaten und
der polnischen Widerstandskämpferin
Wanda, womit klar sein dürfte, was Raiser
auch in diesem Stoff gesehen hat: richtig
großes, grenzüberschreitendes deutsch-
polnisches (Fernseh-)Kino.
An diesem Drehtag in Krakau steht eine
Massenszene auf dem Programm. Der ge-
waltige Versammlungssaal des leer stehen-
den Verwaltungsgebäudes ist jetzt ein Saal
in der Ostberliner Sowjetkommandantur.
Dorthin hat es Walter Proska und seinen
vom Kommunismus weitaus mehr beseel-
ten Kameraden Kürschner verschlagen.
Der Saal ist voll, ein hochrangiger Funktio-
när aus Moskau stimmt die sozialistischen
Freunde und die Sowjet-Soldateska im blei-
ernen Technokraten- Stakkato ein, das Ul-
rich Tukur als Redner wegen Uneinprägbar-
keit in die Verzweiflung treibt und ihm ein
leises „Scheiß Text“ entfahren lässt.

Mitten unter den gehorsam stürmi-
schen Beifall spendenden Versammelten
steht Jannis Niewöhner, der den Überläu-
fer Proska spielt. Um ihn herum in langen
Reihen all die polnischen Statisten, die ost-
deutsche Sozialisten und sowjetrussische
Soldaten spielen. Wenn Regisseur Florian
Gallenberger vom Raum nebenan „Stop“
ruft, dann wird es weitergetragen wie auf
einem Segelschiff vom Kapitän über den
Maat zum Matrosen, weil die Entfernun-
gen so groß sind. Und manchmal wird auch
ein polnisches Wort daraus. Dass in Polen
gedreht wird, hat zum einen mit kosten-
günstigen Original-Locations zu tun; zum
anderen damit, dass die Finanzierung des
Films laut Stefan Raiser nur geschafft wur-
de, weil seinem Team als erster deutscher
Filmproduktion von der neugegründeten
polnischen Cash-Rebate-Förderung eine
Million Euro zuteil wurde. „Ohne dieses pol-
nische Geld“, sagt Raiser, „wäre der Film
nicht zu realisieren gewesen.“
Was für eine deutsch-polnische Ge-
schichte: Deutsche schlagen sich auf die
Seite der Polen, die polnischen Freischärler
tragen den Sieg davon, eine Polin verliebt
sich in einen Wehrmachtssoldaten.Ein
deutscher Hauptdarsteller und Małgorzata
Mikołajczak als beeindruckende polnische
Hauptdarstellerin.Der Überläuferwurde
teilweise in einer wunderschönen Stadt ge-
dreht. In der an jeder Ecke Schilder stehen,
die für Touren nach Auschwitz werben. Die
Gedenkstätte des deutschen Vernichtungs-
lagers ist eineinhalb Stunden entfernt.
Eine zerrissene Welt, deren Spiegelbild
dieser Walter Proska ist, so wenig ein Held
wie ein Verräter, ein Schicksalsgetriebener,
einer, der den Tod vor Augen, die Seiten
wechselt, als die siegreichen polnischen Wi-
derstandskämpfer ihm keine andere Wahl
lassen, Proska ist ein Überlebensläufer.
Der noch mal das System wechseln und
nach Westberlin gehen wird. Für Grimme-
preisträger Jannis Niewöhner ist es eine
große Herausforderung, jemanden zu spie-

len, der keine Haltung hat. Aber dieses Am-
bivalente der Romanvorlage macht für den
27-Jährigen gerade die Qualität der Ge-
schichte aus. „Damit wir bei einer Begeg-
nung Liebe erkennen, gehen wir oft von der
falschen Annahme aus, dass alles richtig
sein muss. Es ist gut, dass die Rohheit und
Härte, die Lenz bei dieser Liebesgeschichte
beschreibt, dringeblieben sind.“
Über die Umsetzung des Stoffs gab es im
Vorfeld offenbar erhebliche Meinungsun-
terschiede: Regisseur Florian Gallenberger
stieg erst vier Monate vor Drehbeginn ein,
weil Hans Steinbichler und die Produktion
keinen Konsens fanden. So kam ein
Oscarpreisträger ins Team (2001 bester
Kurzfilm), der mit einer Polin verheiratet
ist.
Trotz der Belastung von fast 60 Drehta-
gen am Stück erzählt er begeistert, wie toll
er den Mut von Lenz findet, eine aus Sicht
der damaligen Zeit Verräterfigur in das Zen-
trum eines Romans zu stellen. „Da schreibt
einer kurz nach dem Krieg ein Buch, und es
wird erst 65 Jahre später veröffentlicht.
Das zeigt ja, dass das Nachkriegsdeutsch-
land für eine solche Figur nicht bereit war.
Da war keine Toleranz dieser Figur gegen-
über, das hätte man nicht angenommen.“
Nicht, weil Proska ein Überzeugungstäter
wäre, sondern weil „ambivalente Verhal-
tensweisen beim Zuschauer Angst auslö-
sen. Im Nachkriegsdeutschland wollen die
Leute eindeutige Haltungen und eindeuti-
ge Überzeugungen. Da hätte dieses Buch
sie überfordert.“
Und heute? Wie wird das alles zusam-
menpassen, das große spannende mitrei-
ßende Erzählkino und die ambivalenten, in
ihrer Verlorenheit und Zerrissenheit ver-
störenden Lenz-Figuren, die subtilen Zwi-
schentöne und die wuchtige Filmmusik?
So schlecht scheint sich das alles nicht
zu fügen: Raiser und die Lenz-Erben ste-
hen kurz vor einer Einigung, die Zusam-
menarbeit fortzusetzen. Sie soll in mehrere
Verfilmungen aus dem Werk münden.

Eine Runde und 27 Sekunden lang stan-
den sich Wladimir Klitschko und Corrie
Sanders im März 2003 im Boxring gegen-
über, insgesamt 207Sekunden. Klitschko
verlor. Nach dem vierten Niederschlag
durch Sanders brach der Ringrichter ab.
Übertragen wurden diese 207 Sekunden
im ZDF, 9,15 Millionen Menschen hatten
eingeschaltet, mehr als je zuvor bei einer
Boxübertragung des Senders. Doch an die-
se 207 Sekunden kam das ZDF mit seinen
Boxabenden nicht mehr heran.


In der Nacht auf den Sonntag überträgt
der Sender wieder einen Boxkampf, erst-
mals seit 2010. Damals hatten 2,7 Millio-
nen zugeschaut – aus heutiger Sicht: im-
merhin 2,7 Millionen. Das deutsche Boxen
ist in der Nische verschwunden, ohne
Geld, ohne große Namen. „Es ist ein Expe-
riment“, sagt ZDF-Sportchef Thomas


Fuhrmann, „wir wollen schauen, ob die-
ser Traditionssport, der sich aus der Tal-
sohle herauszukämpfen versucht, wieder
ein größeres Publikum erreichen kann.“
Wie schon von 2002 bis 2010 überträgt
das ZDF die Kampfabende des Universum-
Teams, das nach einer Insolvenz aufgelöst
worden war und nun von Isamil Özen-Ot-
to, dem Schwiegersohn des Versandhaus-
unternehmers Michael Otto, neu aufge-
stellt wird. Auch Özen-Otto hat keinen
Klitschko – aber, sagt Fuhrmann, das
neue Universum versuche, seriös zu arbei-
ten. Fuhrmann spricht von den strengs-
ten Dopingkontrollen im Boxen, er sagt:
„Wir versuchen authentisches Boxen zu
zeigen: keine Absprachen, keine Tricks,
kein Doping.“ Zwei Kampfabende sind für
dieses Experiment vereinbart, doch dass
die Ansprüche bescheidener geworden
sind, dass keiner mehr von Quoten wie bei
Klitschko träumt, das zeigt sich auch an
der Sendezeit: Die Übertragung beginnt
um 0.25Uhr. benedikt warmbrunn

ZDF Sportextra, Nacht zu Sonntag, 0.25 Uhr.

Im März 1990 erscheint Madonnas Single
„Vogue“, die weltweit die Charts erobern
wird. Ein neues Zeitalter der Ballroomkul-
tur bricht an. In dieser Ära startet nun die
zweite Staffel der SeriePose. „Vogue“ eröff-
net die erste Episode, über vier Szenen hin-
weg ertönt die Musik. Sie begleitet das
Amateurfotoshooting von Angel (Indya
Moore), setzt sich über Aufnahmen der
Skyline von Manhattan fort, läuft im Ra-
dio, als Blanca (MJ Rodriguez) die Finger-
nägel einer Kundin pflegt und findet ihren
fulminanten Höhepunkt im Ballroom, wo
Angel eine Trophäe entgegennimmt.Pose
erzählt in Staffel zwei also die Figuren aus
der New Yorker LGBT-Subkultur weiter.
„Vogue“ ist nun im Äther und scheint Bi-
naritäten wie Innen- und Außenraum, Ta-
gesgeschäft und Nachtkultur, arm und
reich, schwarz und weiß außer Kraft zu set-
zen. Blanca, Matriarchin des „House of
Evangelista“, einer Wohnung, in der sie
Transgenderkids und schwulen Teen-
agern Zuflucht gewährt, ist euphorisiert
von der Musik. Sie kann es kaum fassen,

dass „die berühmteste Frau der Welt“ das
Vogueing besingt. Steven Canals, Ko-Pro-
duzent der Serie, honoriert damit Madon-
nas Leistung, das Vogueing aus der Sub- in
die Popkultur zu heben. Tatsächlich ver-

mittelte Madonna in ihrem Videoclip, der
damals auf MTV in Dauerschleife lief, ei-
nem szenefernen Publikum einen ersten
Eindruck. Der Begriff, dem Namen der Mo-
dezeitschriftVogueentlehnt, umschreibt
die Selbstermächtigung zunächst mittello-
ser Performer*innen, die sich durch Nach-
ahmung ein scheinbar unerreichbares Up-
town-Schönheitsideal zu eigen machen.
Im Ballroom reinszenieren sie Looks und
Attitüden aus der High Society.
In der fünften Episode zeigt sich dann,
dass Madonna dem Ballroom die erhoffte
Anerkennung bringt. Der Vorwurf der kul-
turellen Aneignung liegt noch fern, Vogu-
eing setzt sich überraschenderweise als
Trend durch, mit Medienberichten und
Kursen für Anfängerinnen. Hier hat sich et-
was verschoben. In der ersten Staffel von
Posewar den Transfrauen of color auf dem
Spektrum der Minderheiten ein Platz am
alleräußersten Rand zugewiesen worden.
Beispielhaft dafür stand eine Szene in der
schwulen Bar Boy Lounge, deren Betreiber
Blanca und Lulu (Hailie Sahar) aus seinem

Lokal schmiss. Aus seinen abfälligen Be-
merkungen wird deutlich, dass sich die
Rassentrennung auch im New Yorker
Nachtleben fortsetzt. „Alle wollen sich al-
len anderen irgendwie überlegen fühlen,“
klärt Lulu die fassungslose Blanca auf.
Zwar stehen auch die weißen (oder die als
solche durchgehen), cis-gender Schwulen
gesellschaftlich ganz weit unten – aber
doch hoch genug, um auf die Transfrauen
herabzuschauen. „Vogue“ durchbricht die-
sen Teufelskreis der Exklusion, und das
war auch höchste Zeit: Die AIDS-Epide-
mie, auch das arbeitet die Serie gleich zu
Beginn der zweiten Staffel heraus, erfor-
dert die Solidarisierung der Randgruppen
untereinander, um politisch organisiert ge-
gen die grausame Haltung von Regierung,
Pharmakonzernen und Kirche vorgehen
zu können. Mehr denn je geht um die
Selbstbehauptung und die Frage nach der
richtigen Haltung in einem oft feindseli-
gen Milieu. gürsoy doğtaş

Pose, Staffel 2, auf Netflix.

Nachkriegsdeutschland war
füreine solche Figur nicht
bereit. Da war keine Toleranz
dieser Figur gegenüber.“

FLORIAN GALLENBERGER

Ring frei um Mitternacht


ZDF wagt sich wieder an Box-Übertragungen


Gemeinsam dank Madonna


In derzweiten Staffel von „Pose“ solidarisieren sich LGBT-Gruppen untereinander – endlich


Mit dem Thema „Leben nach dem Tod“
kennt Regisseur Florian Baxmeyer sich
aus, er war es schließlich, der das Bremer
Tatort-Team vor Jahren neu beatmet hat.
Sabine Postel und Oliver Mommsen wa-
ren eigentlich schon erledigte Fälle, aber
dann nahm sich Baxmeyer ihrer an und
entwickelte als Bremer Hausregisseur
viele Geschichten mit dem Duo, einige da-
von (Er wird tötenvon 2013) waren High-
lights. In jener Folge verliebte sich die
Kommissarin, aber der Geliebte wurde
dann schnell im Herrenklo erstochen,
und Florian Baxmeyer erzählte diese
Episode vom Finden und Verlieren zwar
hochemotional, aber komplett unver-
kitscht, eine Kunst.
So ist es auch in diesem Fall jetzt vom
RBB, er heißtDas Leben nach dem Tod,
und auch hier schärft Baxmeyer mit sei-
ner Autorin Sarah Schnier erst mal das
Profil des Ermittlerpaars. Meret Becker
als Nina Rubin und Mark Waschke als Ro-
bert Karow waren bisher eher exaltiert
und ausgesprochen überspannt, nicht je-
dermanns Sache, aber jetzt kommen sie
zur Ruhe, das tut ihnen gut, und es passt
auch zur Handlung. Denn das Thema Ru-
he wird hier gedanklich umkreist: dass
man sie sich wünscht, aber vergeblich
herbeisehnt, sogar noch nach dem Tod.
„Die Zeit zwischen Tod und Begräbnis ist
für die Seele verwirrend“, sagt Nina Ru-
bin. „Sie ist von der Vergangenheit und
von der Zukunft getrennt. So hab ich das
jedenfalls mal gelernt.“ Derjenige, der in
der Nachbarschaft von Kommissar
Karow gestorben ist und von Maden ver-
zehrt wird, war einst in der DDR zum
Tode verurteilt worden, eigentlich – aber
offenbar hat ein Mensch manchmal auch
zwei Leben, die an ihr Ende kommen.
Die Geschichte ist, wie bei Baxmeyer
üblich, zum Nebenhergucken nicht geeig-
net, man muss dranbleiben, aber die
Handlungsstränge verbinden sich irgend-
wann. Sehr geschmeidig wird, zum Jah-
restag des Mauerfalls, das deutsch-deut-
sche Thema der Vergangenheit verbun-
den mit Druckpunkten der Gegenwart,
dem anonymen Sterben in Berlin, einer
Stadt, die vereinigt, aber deshalb nicht
zur Ruhe gekommen ist. Und, wie immer
bei Baxmeyer, enthält die Tragödie auch
Komödie, aus der schwarzen Abteilung.
„Wenn Blut und Darminhalt in den Est-
rich gesickert sind, dann haben wir ein
richtiges Problem“, erläutert die Vermiete-
rin. Nina Rubin berlinert sich durch den
schweren Stoff, indem sie manches nur so
halbgar zitiert. „Frei nach Lothar Matthä-
us – hätte, hätte, Fahrradpumpe.“ Außer-
dem wird der Begriff „Bummsfallera“ aus
dem Sprachbaukasten hervorgekramt,
was ja sowieso viel öfter geschehen sollte.
Vieles stimmt an diesemTatort,vieles
hat Charme. Die Kamera, der Spannungs-
bogen, die Besetzung bis zu den Nebenrol-
len. Und einen Moment gibt es, in dem
kommen sich Karow und Rubin tatsäch-
lich näher. Ausgerechnet diese beiden
sexuell so aktiven Körpermenschen ha-
ben eine Liebesszene, die so intensiv ist,
gerade weil eigentlich nichts passiert.
Und trotzdem alles. So etwas hat man am
Sonntagabend seit Hanns von Meuffels
(Matthias Brandt) und Constanze Her-
mann (Barbara Auer) nicht mehr so schön
gesehen.


Tatort, Das Erste, Sonntag, 20.15 Uhr.


Das deutsche Boxen ist zu einer


Nischensportart geworden, es


fehlt an Geld und großen Namen


48 MEDIEN Samstag/Sonntag, 9./10. November 2019, Nr. 259 DEFGH


Jannis Niewöhner als Walter Proska bei den Dreharbeiten für den aufwendigen ARD-ZweiteilerDer Überläuferin Krakau. FOTO: DREAMTOOL ENTERTAINMENT /KRZYSZTOF WIKTOR

Der Überlebensläufer


Oscar-Preisträger Florian Gallenberger verfilmt für den NDR einen einst umstrittenen Roman


von Siegfried Lenz. Die Dreharbeiten führen tief in die deutsch-polnische Geschichte


Subkultur-SagaPose, hier mit Domi-
nique Jackson. FOTO: MACALL POLAY/FX-NETWORKS

von holger gertz

Fliegen


Folge31/2019
Kommissar/in: Karow und Rubin

TATORTKOLUMNE

Free download pdf