protokolle: ferdos forudastan
Ü
ber all den Feiern dieser Tage
zum dreißigsten Jahrestag des
Mauerfalls könnte man eines
fast vergessen: Dass es im No-
vember 1989 und darüber hin-
aus hierzulande Bürger gab, die der Wie-
dervereinigung nicht nur freudig entgegen-
sahen. Besonders auf der Linken fremdel-
ten viele mehr oder weniger stark mit der
Vorstellung, dass die Zweistaatlichkeit in
absehbarer Zeit Geschichte sein würde.
Die Motive derer, die kritisch auf die sich
abzeichnende Vereinigung schauten, und
die Beweggründe derer, die sie gar ablehn-
ten, waren sehr unterschiedlich. Manche
fürchteten mit Blick auf die Vergangenheit
ein größeres Deutschland, das seine ge-
wachsene Macht wieder missbrauchen
und in dem ein neuer Nationalismus sich
ausbreiten könnte. Manche hielten an der
Hoffnung fest, dass in einer – wenngleich
reformierten – DDR der Sozialismus noch
mal eine Chance hätte, seinen ramponier-
ten Ruf zu retten und die Menschen für
sich einzunehmen. Manche waren zwar
nicht grundsätzlich dagegen, dass DDR
und BRD sich zusammentaten, haderten
aber heftig damit, auf welche Weise das ge-
schah; sie vermissten eine Vereinigung auf
Augenhöhe. Und dann gab es Zeitgenos-
sen, die explizit zwar nur den Modus der
Wiedervereinigung bemängelten – aber
gleichzeitig immer durchblicken ließen,
dass ihnen auch die Einheit an sich nicht so
recht passte. Im Folgenden kommen ost-
und westdeutsche Politikerinnen und Poli-
tiker aus SPD, der Partei Die Linke und von
Bündnis 90/Die Grünen zu Wort, die die
Wiedervereinigung oder den Weg dorthin
kritisch sahen oder immer noch kritisch
sehen.
„Wir hatten das feste Ziel,
eine gemeinsame Verfassung
vorzulegen“
Ich habe 1990 gegen den Einigungsvertrag
gestimmt. Allerdings nicht, weil ich mit
dem Zusammengehen der DDR und BRD
haderte, sondern weil ich den Weg dorthin
falsch fand. Am Runden Tisch hatten wir
Bürgerrechtler einen Verfassungsentwurf
erarbeitet, der zusammen mit dem Grund-
gesetz als Bestandteil in die noch immer
ausstehende Verfassung des geeinten
Deutschlands eingehen sollte. Uns war
klar, dass die DDR ökonomisch und poli-
tisch bankrott war und als eigenständiger
Staat keinen Bestand haben würde. Aber
wir hatten das feste Ziel, eine gemeinsame
Verfassung vorzulegen, über die alle Deut-
schen dann abstimmen. Wir wollten, dass
der Begriff vom Verfassungspatriotismus
mit Leben gefüllt wird; dass man darüber
diskutiert, wie das Fundament einer ge-
meinsamen Identität von West- und Ost-
deutschen aussehen soll; dass es eine von
der Mehrheit der Bürger befürwortete
Gründungslegende eines geeinten
Deutschland gibt und nicht einfach nur ei-
nen Beitritt der DDR zur BRD. Es wäre wich-
tig gewesen, das Geschehen im Osten nicht
nur als Systemzusammenbruch zu begrei-
fen, sondern als gemeinsamen Aufbruch
in ein moderneres Deutschland. Denn
auch im Westen war – Stichwort Verwal-
tungsbürokratie – ja einiges verkrustet.
Stattdessen wurden die Gebrauchsmuster
des Westens ohne Bedenken auf den Osten
übertragen. Die Abstimmung über eine ge-
meinsame Verfassung wäre für den Neube-
ginn und das Selbstbewusstsein der Ost-
deutschen sehr wichtig gewesen, dieses
Selbstbewusstsein, das heute so angeschla-
gen ist. Dass wir mit unserem Anliegen ge-
scheitert sind, lag an den Beharrungskräf-
ten der Bonner Republik, vor allem an der
Regierung Kohl und ihrer Angst vor Verän-
derungen. Sie wollte, auch gedrängt von
großen Teilen der DDR-Bevölkerung, die
schnelle Einigung um jeden Preis. Wäre es
damals anders gelaufen, hätte es nach vor-
ausgehender intensiver Debatte eine Ab-
stimmung über die Verfassung und damit
über die Grundlagen unserer Demokratie
gegeben, wäre eben diese Demokratie vie-
len Ostdeutschen heute wesentlich weni-
ger fremd.
„Ich hatte die Hoffnung,
dass die DDR von innen heraus
reformiert werden kann“
Aus einer Trotzhaltung heraus habe ich
nach dem Mauerfall die DDR verteidigt.
Weil ich es abstoßend fand, wie Leute, die
mir in der DDR noch die Vorzüge der Hone-
cker-Politik gepredigt hatten, sich plötz-
lich um 180 Grad drehten, habe ich nach
der Wende Dinge gerechtfertigt, die ich vor-
her noch vehement kritisiert hatte. Ich durf-
te in der DDR nicht studieren und war na-
türlich nicht begeistert, dass die Mauer
mich daran hinderte, jemals Städte wie Pa-
ris oder Rom zu sehen. Allerdings hatte ich
damals die Hoffnung, dass die DDR von in-
nen heraus reformiert werden kann. Das
war mein Ziel, nicht der Anschluss an die
Bundesrepublik. Diesen Anschluss haben
viele Ostdeutsche als Entwertung ihrer bis-
herigen Biografie erlebt, weil ihnen vermit-
telt wurde, dass es im Osten schlicht nichts
Erhaltenswertes gab. Erst sehr viel später
begann man anzuerkennen, dass Poliklini-
ken, ein flächendeckendes Kita-Angebot
oder eine als selbstverständlich empfunde-
ne Frauenerwerbstätigkeit progressive
Errungenschaften waren. Rückblickend ha-
be ich heute Zweifel, ob es auf Dauer zwei
deutsche Staaten hätte geben können.
Aber in jedem Fall wäre es möglich gewe-
sen, die Wiedervereinigung anders zu ge-
stalten und zu verhindern, dass es in einer
Schocktherapie zu einer fast vollständigen
Deindustrialisierung des Ostens kommt,
von der sich viele Regionen bis heute nicht
erholt haben. Auch meine damalige Be-
fürchtung, dass nach dem Verschwinden
der DDR die sozialen Leistungen der alten
Bundesrepublik unter Druck geraten, hat
sich leider bewahrheitet. Heute haben wir
in Deutschland einen großen Niedrig-
lohnsektor, die Altersarmut wächst, und
Hartz IV ist die allgegenwärtige Drohung,
nach nur einem Jahr Arbeitslosigkeit alles
zu verlieren. Diese sozialen Verwerfungen
sind im Osten noch stärker spürbar als im
Westen. Hier arbeitet jeder Dritte für einen
Niedriglohn, es gibt weit mehr Regionen, in
denen man keinen Arzt mehr findet, kein
Bus mehr fährt und die Jungen abwandern.
Das sind wesentliche Ursachen dafür, dass
sich heute so viele Menschen im Osten von
der Politik im Stich gelassen fühlen.
„Ich wollte nicht die Einheit
des Staates in den Vordergrund
rücken, sondern die Einheit
der Lebensverhältnisse“
Mir wurde immer vorgeworfen, ich sei ge-
gen die Wiedervereinigung gewesen. Aber
das stimmte nicht. Ich war nur gegen diese
Art von Wiedervereinigung. Ich wollte
nicht die Einheit des Staates in den Vorder-
grund rücken, sondern die Einheit der Le-
bensverhältnisse. Die staatliche Einheit ist
gelungen. Die Einheit der Lebensverhält-
nisse lässt bis heute auf sich warten. Aber
damals war es halt so, dass meine Kritiker,
weil sie gegen meine ökonomischen Argu-
mente wenig ausrichten konnten, behaup-
teten: Der Lafontaine will die Wiederverei-
nigung nicht. Ich habe immer argumen-
tiert, wenn man einer schwachen Volkswirt-
schaft, wie damals die der DDR, die stärks-
te Währung Europas, also die D-Mark, auf
die Brust legt, dann kriegt sie Atembe-
schwerden und geht zugrunde. Das ist ja
dann leider auch so gekommen. Ich hätte
für eine Übergangsfrist zwei Währungsge-
biete für besser gehalten, eines mit einer
West-, eines mit einer Ostmark im Verhält-
nis 1:3. Auf diese Weise wäre die ostdeut-
sche Wirtschaft in der Lage gewesen, sich
zu behaupten. Aber Bundeskanzler Hel-
mut Kohl sagte den Ostdeutschen, ihr
kriegt die D-Mark zum Kurs 1:1 – und dann
gab es natürlich kein Halten mehr. In dem
Moment stand fest, dass er die Bundestags-
wahl gewinnt, ganz gleich, wie tapfer ich
als der seinerzeitige SPD-Kandidat vor den
Folgen der falschen Währungsentscheidun-
gen warnte. Helmut Kohl hätte den Ost-
deutschen reinen Wein einschenken und er
hätte sagen müssen: Es wäre falsch, euch
gleich die D-Mark zum Kurs von 1:1 zu ge-
ben, weil dann viele Betriebe schlicht nicht
mehr konkurrenzfähig sind und zahlreiche
Arbeitsplätze verloren gehen. Dass das
nicht geschehen ist, hat Brüche und Spal-
tungen zur Folge gehabt, die sich, trotz vie-
ler Verbesserungen, bis in die Gegenwart
auswirken – ökonomisch, weil es im Osten
viel mehr prekäre Arbeitsplätze gibt als im
Westen; politisch, weil die Menschen dort
aus diesem Grund viel öfter Protest wäh-
len, also die AfD. Ich wünschte, ich hätte
mich mit meinen Analysen vor rund drei-
ßig Jahren geirrt. Aber leider ist das nicht
so.
„Aus meiner Beschäftigung mit
unserer Geschichte hatte ich
die Lehre gezogen, dass ein
großmächtiges Deutschland
Nationalismus anfachen könnte“
Ich war gegen die Übernahme der DDR
durch die BRD. Aus meiner Beschäftigung
mit unserer Geschichte hatte ich die Lehre
gezogen, dass ein großmächtiges Deutsch-
land Nationalismus anfachen, dass es in
Kriege ziehen und die Gewichte in Europa
verschieben könnte. 1989 gründete ich zu-
sammen mit anderen Menschen die „Radi-
kale Linke“. Wir waren sehr unterschied-
lich und gehörten verschiedenen Strömun-
gen der Linken an, suchten aber unter dem
Motto „Nie wieder Deutschland“ gemein-
sam nach Wegen, dieser Entwicklung et-
was entgegenzusetzen. Dass wir einen
Nerv trafen, zeigte sich daran, dass zu unse-
ren Demonstrationen Tausende Menschen
kamen. Welche Vorstellung wir davon hat-
ten, was nach dem Fall der Mauer gesche-
hen sollte? Ich hätte es gut gefunden, wenn
die Menschen in der DDR die Chance auf ei-
ne eigenständige Entwicklung gehabt hät-
ten. Einflussreiche Menschen aus Politik
und Medien behaupteten damals, dass na-
hezu alle DDR-Bürger in den Westen zie-
hen wollten. Aber das stimmte nicht. Ich
hatte als antiautoritäre Linke immer Einrei-
severbot in der DDR gehabt. Als ich im Win-
ter 1989/90 endlich einreisen durfte, habe
ich mir die DDR von Nord nach Süd angese-
hen und mit vielen Menschen gesprochen.
Viele sagten: Wir wollen offene Grenzen
und kein autoritäres System mehr, son-
dern eine bessere DDR. Diese Stimmen gin-
gen im überbordenden Nationalismus lei-
der unter. Ich beobachtete, wie West- und
Ostnazis bei den Montagsdemos in Leipzig
Punks blutig schlugen, und sah, wie dieser
Nationalismus und die Art, wie die Bundes-
republik die DDR niederwarf, den Antise-
mitismus und den Rassismus schürten. Es
folgte die Zeit der rassistischen Pogrome in
Rostock-Lichtenhagen und in Hoyerswer-
da, aber auch in Solingen und Mölln. In die-
ser Zeit liegen wesentliche Wurzeln des
NSU, des heute explodierenden Antisemi-
tismus und der AfD. Allerdings gibt es heu-
te auch eine kleine antiautoritäre Revolte,
für die ich höchsten Respekt habe: Viele
junge Ostdeutsche engagieren sich unter
harten Bedingungen und mit hohem Risi-
ko gegen rechts.
„Von Anfang an war klar,
dass das ganze Verfahren
für viel Ungleichheit
sorgen würde“
Ich war in der allerersten Zeit nach dem
Fall der Mauer dafür, die DDR als eigenstän-
digen Staat zu erhalten- einen Staat aller-
dings, der sich reformiert. Anfang 1990
war dann unübersehbar, dass die Sowjet-
union zerfällt und sich, wie die anderen Sie-
germächte auch, der Wiedervereinigung
nicht länger in den Weg stellen würde. Ich
hoffte dann, dass dieser Prozess zwischen
Ost- und Westdeutschland auf Augenhöhe
stattfinden würde, und habe als Regie-
rungschef einen Dreistufenplan vorgelegt,
der ihn gestalten sollte. Leider ist dieser
Plan schon am Widerstand der Vereinigten
Staaten gescheitert. Die Wiedervereini-
gung lief dann so ab, wie sie nicht hätte ab-
laufen sollen: Als eine Art Anschluss der
DDR an die BRD, bei dem Letztere im Vor-
teil war. Von Anfang an war klar, dass das
ganze Verfahren für viel Ungleichheit sor-
gen würde. Heißt, dass es beispielsweise
auf geringere Löhne und niedrigere Renten
für die Ostdeutschen hinauslaufen würde,
aber auch darauf, dass sie für ihre Lebens-
leistung kaum Anerkennung finden wür-
den. Die Verteidiger dieser überstürzten
Wiedervereinigung behaupteten damals ja
immer, es gebe dazu keine Alternative, weil
die DDR sonst ausblute, weil dann noch
mehr Menschen von dort in die BRD über-
gesiedelt wären. Dem setze ich entgegen,
dass auch nach dem Ende der Regierung
Modrow rund zwei Millionen Menschen
vom Osten in den Westen gezogen sind.
Der Entvölkerung ganzer Landstriche im
Osten hätte man andere Instrumente ent-
gegensetzen können, Handelskredite zum
Beispiel. Stattdessen hat man mit dem Wir-
ken der Treuhand, dem Vorrang der Privati-
sierung vor der Sanierung von Betrieben
oder des Primats der Rückgabe von Eigen-
tum statt Entschädigung dafür gesorgt,
dass Teile der früheren DDR bis heute wirt-
schaftlich und politisch instabil sind, was
sich nicht zuletzt in den Wahlergebnissen
für die AfD niederschlägt.
Jutta Ditfurth, 68,
war Vorsitzende der Partei
Die Grünen, die sie
mitgegründet hatte und die sie
1991 verließ. Heute ist die
Autorin Stadtverordnete für
ÖkoLinX-ARL in Frankfurt.
FOTO: PICTURE ALLIANCE
Oskar Lafontaine, 76,
war 1989 saarländischer
Ministerpräsident,
1990 Kanzlerkandidat der SPD,
später deren Vorsitzender
und Bundesfinanzminister.
2005 gab er sein Parteibuch
ab und wurde später
Chef der Linkspartei. Heute
sitzt er deren Fraktion im saar-
ländischen Landtag vor.FOTO: DPA
Hans Modrow, 91, war vor
dem Mauerfall ein hoher SED-
Funktionär, kurz danach wurde
er Vorsitzender des Minister-
rates der DDR. Im Jahr 1990
zog er für die PDS in den
Bundestag ein, dem er bis 1994
angehörte.FOTO: DPA
Werner Schulz, 69, war
DDR-Bürgerrechtler und
Mitglied der ersten frei
gewählten Volkskammer der
DDR, Sprecher von Bündnis
90/Die Grünen, Bundes-
tags- und Europaabgeordneter
seiner Partei. FOTO: IMAGO
Sahra Wagenknecht, 50,
trat kurz vor dem Fall der
Mauer in die SED ein, war von
1991 an mit Unterbrechungen
Mitglied im Parteivorstand
der PDS, später der Links-
partei. Seit 2015 und noch bis
Anfang kommender Woche
sitzt sie der Linksfraktion
im Bundestag vor.
FOTO: DPA
DEFGH Nr. 259, Samstag/Sonntag, 9./10. November 2019 30 JAHRE FALL DER MAUER 59
„Und dann gab es kein Halten mehr“
VieleLinke, darunter Politiker und Aktivisten, haderten mit der Wiedervereinigung
oder dem Weg dorthin. Wie blicken sie dreißig Jahre später auf diese Zeit zurück?
BESCHÄFTIGTE IN DER
LANDWIRTSCHAFT
SZ-Grafik: Sara Scholz; Quelle: Statistisches Bundesamt
3,7 %
Westdeutschland
50,4 %
Ostdeutschland
1989