interview: nico fried und
cerstingammelin
SZ: Frau Bundeskanzlerin, wenn Sie
Staatsgäste haben,sieht man Sie manch-
mal auf dem Balkon des Kanzleramtes.
Bitten die Sie auch zu zeigen, wo Sie frü-
her gelebt haben?
Angela Merkel: Gelegentlich mache ich das
von mir aus. Ich zeige ihnen den Mauerver-
lauf und sage, dass ich hinter der Brücke,
wo man die S-Bahn fahren sieht, gewohnt
habe, in der Marienstraße. Dort hatte ich
meine erste Wohnung nach dem Studium.
Ich bin jeden Abend in diesesdead end
nahe der Mauer gegangen. Manchmal er-
zähle ich auch etwas vom Bahnhof Fried-
richstraße, wo man die Geräusche der
West-S-Bahn hörte, aber nie hinkonnte.
Von dort aus bin ich immer entlang der
Mauer nach Adlershof zur Arbeit gefahren.
Hat es in 14 Jahren Kanzlerschaft nachge-
lassen, dass Sie von Ihren Gästen als Ost-
deutsche wahrgenommen werden?
Ich würde nicht sagen, dass es in den 14 Jah-
ren anders geworden ist. Es hängt davon
ab, ob jemand zum ersten Mal kommt. Und
es ist regional unterschiedlich. Besucher
aus Osteuropa wissen natürlich, dass ich
aus der ehemaligen DDR bin. Für Besucher
aus anderen Kontinenten ist das nicht so
klar. Ich frage immer, ob sie schon vor 1989
in Berlin waren, im Osten oder im Westen.
Bei afrikanischen Gästen kann es vorkom-
men, dass sie ein Jahr in der DDR studiert
haben. Ich persönlich sage mir oft, dass ich
es mir nie hätte träumen lassen, mal hier
so zu stehen und aus dieser Perspektive in
Richtung Marienstraße zu schauen.
Der 30. Jahrestag des Mauerfalls wird in-
tensiver diskutiert als die Jubiläen zuvor.
Treuhand, die Ergebnisse der Landtags-
wahlen – wie empfinden Sie das?
Ich nehme es auch so wahr. Vielleicht liegt
es an dem Abstand von dreißig Jahren. Bei
manchem, von dem man gedacht hat, dass
es sich zwischen Ost und West angleichen
würde, sieht man heute, dass es doch eher
ein halbes Jahrhundert oder länger dauert.
Nach zehn oder zwanzig Jahren hatte man
die Hoffnung, dass es schneller geht. Aber
dreißig Jahre haben schon etwas fast End-
gültiges. Außerdem wird es jetzt vielleicht
auch deshalb intensiver empfunden, weil
nationalistische und protektionistische
Tendenzen weltweit zugenommen haben,
sodass wieder mehr aus dem nationalen
Blickwinkel diskutiert wird. Und da richtet
sich der Blick dann auch verstärkt auf die
Unterschiede, die es zwischen den alten
und den neuen Bundesländern gibt.
Es gibt ja auch jene, die damals im Berufs-
leben standen, jetzt Rentner sind und
nach 30 Jahren das Gefühl haben, es hat
sich für mich nichts verbessert.
Vielen ist eine berufliche Erfolgsgeschich-
te gelungen. Aber viele verloren auch zu-
nächst die Arbeit, was diese Menschen die
neuen Lebensmöglichkeiten natürlich viel
kritischer sehen ließ. In der DDR waren
viel mehr Menschen in der Landwirtschaft
beschäftigt, und die Industrie war ineffizi-
ent. Dafür konnte der Einzelne nichts, der
ja genauso fleißig wie die Menschen in
Westdeutschland gearbeitet hat. Viele
Menschen bekümmert auch im Rückblick,
dass das, was sie in der DDR gekonnt hat-
ten, plötzlich nicht mehr gefragt war, zum
Beispiel das schnelle Erkennen, ob es To-
matenketchup oder Zellstofftaschentü-
cher in der Kaufhalle gab. Das war eine ech-
te Fähigkeit, Leute anzusprechen und zu
fragen, wo der Stand dieser Waren war,
und hinzurennen, damit man ankam, be-
vor er leer war. Das muss heute niemand
mehr, zum Glück.
Überrascht es Sie, dass auch jüngere Gene-
rationen im Osten das Gefühl haben, über
die DDR reden zu müssen?
Überraschend ist das nicht. Manchmal ist
die Betrachtung der Vergangenheit aber zu
schematisch. Die Jugendlichen selbst wis-
sen oft wenig über die DDR, und alles ist da-
von abhängig, wie im Elternhaus und in
der Schule darüber gesprochen wird. Eine
aktive Aufarbeitung dessen, was die Dikta-
tur mit Menschen gemacht hat, gab es nur
punktuell. Manche Familien und manche
Lehrer haben nicht die Kraft gefunden,
über die DDR-Geschichte ganz frei zu spre-
chen, weil sie selbst ja Teil dieser Geschich-
te waren. Zudem darf man nicht verges-
sen, dass viele der Jungen inzwischen in
die alten Bundesländer gezogen sind, zum
Beispiel nach München oder Stuttgart,
und deshalb für die Meinungsbildung in
den neuen Bundesländern nicht mehr zur
Verfügung stehen. Und neben den bei jun-
gen Leuten beliebten und wachsenden
Städten im Osten gibt es eben auch Regio-
nen, in denen die Jugend fehlt. Hoyerswer-
da zum Beispiel hat ein Durchschnittsal-
ter, das erheblich höher ist als das Durch-
schnittsalter in ganz Ostdeutschland.
Schmerzt es Sie, dass Ostdeutschland
wieder als politische Problemregion wahr-
genommen wird?
Ich teile diese Beschreibung nicht. Es
stimmt, dass die Parteienlandschaft an-
ders ist als in den alten Ländern und dass
viel Arbeit vor uns liegt, daran etwas zu än-
dern. Im Herbst 1989 waren plötzlich viele
Menschen in der Lage, sich klar und deut-
lich in die gesellschaftliche Debatte einzu-
bringen, zum Beispiel hieß es „Stasi in die
Produktion“ oder „Wir sind das Volk“. Gera-
de heute brauchen wir wieder mehr Men-
schen, die sich in die Diskussion über unse-
re Zukunft konstruktiv einbringen. Dabei
gilt zugleich, dass Unzulänglichkeiten in
den politischen Gegebenheiten niemals da-
zu befugen, die Würde anderer Menschen
in Zweifel zu ziehen. Das ist die Grenze, die
nicht überschritten werden darf.
Sie haben öfter darauf hingewiesen, dass
man sein Denken nicht einfach an der
Garderobe abgeben könne wie einst Volks-
polizisten, die über Nacht Uniformen der
Westberliner Polizei trugen.
Ja, mir wurde damals klar, dass man,
selbst wenn man sich noch so unauffällig
oder entsprechend den Gepflogenheiten
der alten Bundesrepublik verhält, immer
ein Mensch ist, der ganz andere Prägungen
erfahren hat. Unsere Vorstellung vom Wes-
ten war sehr geprägt von Darstellungen im
Fernsehen wie zum Beispiel aus dem „Tat-
ort“ und den Erzählungen der Verwand-
ten, die etwas mitgebracht hatten. Das war
entweder mit einer Überhöhung der Krimi-
nalität oder einer Idealisierung der Vorstel-
lung verbunden, wie einfach man im Wes-
ten zu Wohlstand kommen könne. Scherz-
haft haben wir nach der Wende oft gesagt:
„Der Westen ist auch nicht mehr das, was
er mal war.“
Ein Beispiel für so eine Prägung?
Als ich meine erste Verwandtenreise in die
alte Bundesrepublik machte, fuhr ich im
Zug von Hamburg nach Konstanz, um dort
einen Professor zu besuchen, der aus der
DDR geflüchtet war. Ich übernachtete allei-
ne im Hotel, in einem einfachen Zimmer
mit Dusche auf dem Gang. Da habe ich
mich echt gefragt, ob ich als alleinreisende
Frau in einem westdeutschen Hotel sicher
schlafen kann. Das war für mich wirklich
ein Problem, obwohl ich schon in Rumäni-
en oder Armenien gewesen war, wo es be-
stimmt nicht sicherer gewesen war. Aber
ich hatte einfach kein Lebensgefühl für die
Freiheit. Sie muss eingeübt werden. Auch
die Mühen der Freiheit, alles entscheiden
zu müssen, müssen gelernt werden. Man
muss sich viel mehr kümmern, das ist ja
auch nicht allen in die Wiege gelegt. Das Le-
ben in der DDR war manchmal auf eine be-
stimmte Art fast bequem, weil man man-
che Dinge gar nicht beeinflussen konnte.
Ein paar Tage vor demMauerfall am 9. No-
vember gab es diese Demo auf dem Alex-
anderplatz in Ostberlin, als plötzlich jeder
reden konnte, wie er wollte...
...und die ich verpasst habe, weil ich zum
- Geburtstag meiner Großtante Emmy in
Hamburg war.
Dann sind Sie entschuldigt.
Ich habe das natürlich im Fernsehen ver-
folgt und erinnere mich gut an die Plakate
über Egon Krenz, auf denen stand „Groß-
mutter, warum hast du so große Zähne?“
Die Leute damals habengeredet und zuge-
hört, noch unter den Bedingungen der
Diktatur. Heute, in der etablierten Demo-
kratie, sorgen sich viele, das nicht mehr
uneingeschränkt tun zu dürfen...
Das halte ich für Unsinn. Manche erwarten
offensichtlich, dass ihnen immer zuge-
stimmt wird. Aber zur Meinungsfreiheit ge-
hört, dass sich Menschen mit einem Argu-
ment auseinandersetzen und vielleicht
auch sagen, dass das Argument ganz
falsch sei. In Zeiten der Digitalisierung hat
man dazu noch schnell einen sogenannten
Shitstorm am Hacken, den niemand will.
Natürlich gibt es Meinungsfreiheit, aber es
gibt kein Recht auf Zustimmung von allen
Seiten. Diese Diskussion empfinde ich an-
sonsten als ziemlich gespenstisch.
Wie viel Osten steckt in Angela Merkel?
35 Jahre. Also mehr als die Hälfte meines
Lebens. Das waren ja prägende Jahre. Ich
hatte sicherlich auch Glück, in einem El-
ternhaus zu leben, in dem häufig Gäste aus
der alten Bundesrepublik waren, in dem
viel diskutiert werden konnte, in dem die
in Hamburg lebende Schwester meiner
Mutter oft im Sommer mit ihren Kindern
zu Besuch war, und wir also sehen konn-
ten, was aus ihren Kindern wird, was aus
uns, wie glücklich ich bin, wie glücklich
meine Cousinen sind. Aber natürlich war
es ein vom Osten geprägtes Leben.
Und vom Westfernsehen?
Ja, natürlich.
Im Osten war das ja nicht überall zu emp-
fangen, es gab das Tal der Ahnungslosen.
Da schaute man Indianerfilme an...
Gojko Mitić
Genau. Und „Die Söhne derGroßen Bärin“.
Ja, wunderbar, das habe ich auch gerne
geschaut. Und gelesen. Die Bände von Lise-
lotte Welskopf-Henrich.
Sie haben mal in kleiner Runde eine wun-
derbare satirische Erzählung von Michail
Soschtschenko zitiert. Darin werden Bau-
ern agitiert, für dasFlugwesen der Sowjet-
union zu spenden. „Es entwickelt sich“,
sagt die Hauptfigur immer wieder. Wer in
Ihrer Umgebung versteht Sie, wenn Sie
mal zum Zustand der Koalition sagen: „Es
entwickelt sich“?
Manchmal gibt es mit Frau Giffey so witzi-
ge Momente. Es fällt ein Wort, und dann
müssen wir beide lachen.
Haben Sie das nicht oft vermisst, dass Sie
jemandem sagen konnten, ach, diese Wes-
sis wieder?
Nein. Es gibt ja auch andere, ich bin ja nicht
die einzige Ostdeutsche im Bundestag.
Gibt es eine Art Code der Ostdeutschen?
Nein, es gibt keine Geheimsprache.
Aber es gibt Dinge, die versteht man so-
fort, und dann sind Wessis außen vor?
Klar, aber das gibt es ja auch umgekehrt.
Wenn sich Westdeutsche über ihre Erleb-
nisse mit Interrail unterhalten, sind wir
auch außen vor.
Wie ist es mit Alltäglichkeiten? Sie kochen
gelegentlich. Haben Sie das famose Koch-
buch vom Verlag für die Frau?
Ich habe noch ein Backbuch und ein Heft
mit internationalen Rezepten.
Und schauen Sie auch mal rein?
In dem Backbuch gucke ich ganz gerne
nach. Aber die Herde haben sich ja auch
geändert.
Es gibt jetzt überall Umluft...
...ja. Na ja, Soljanka esse ich zwar gerne,
koche sie aber nicht. Und dieFür-Dich-
Schnittbogen vermisse ich nicht. Aber neu-
lich hat mir jemand erzählt, dass er was
über dieSybillemacht. Da fällt mir wieder
ein, dass es auch Frauenzeitschriften gab.
Man hatte auch in der DDR seine Biotope.
Es heißt, wenn Sie in Ihrem politischen
Leben von allen Seiten unter Druck ge-
setzt werden, sie muss jetzt dies, sie muss
jetzt das, dann denken Sie an Reiner Kun-
zes „Die Bringer Beethovens“.
Richtig.
Das ist ein Gedicht, wo jemand unbedingt
dazu gebracht werden soll, Beethovens
5.Sinfonie schön zu finden.
Das ist ein geniales Gedicht. Es zeigt, dass
ab einem bestimmten Punkt Indoktrinati-
on keinen Sinn mehr hat. Darin sind sich
Kunzes „Die Bringer Beethovens“ und „Es
entwickelt sich“ von Soschtschenko ganz
ähnlich, in dem jemand sagt, agitiere doch,
agitiere doch. Aber das Ergebnis ist, dass
kein Geld für ein Flugzeug gegeben oder
das Hören der Musik völlig verweigert
wird. Das Indoktrinieren führt ab einem be-
stimmten Punkt zum Gegenteil. Auch des-
halb ist meine Regierungsmethode sehr
stark argumentativ. Also, wenn mir nach
der fünften Wiederholung kein neuer Ge-
danke einfällt, um mein Gegenüber zu
überzeugen, dann ist es für mich erst mal
gut, und ich überlege, wie ich mich dem
Sachverhalt noch mal anders nähern kann.
Aber zu glauben, dass man durch Indoktri-
nieren und das Verbreiten von Angst wei-
terkommt, halte ich für falsch. Das tue ich
nicht und das möchte ich mir auch nicht an-
gewöhnen.
Sie haben mal vom Reden mit Freunden
geschwärmt. Ist das eine Besonderheit
ausder DDR, dassman untereinander tief-
ergehende Gespräche geführt hat?
Wir hatten einfach sehr viel mehr Zeit. Die
Karrieremöglichkeiten waren begrenzt.
Wir wurden ja unzählige Stunden indoktri-
niert und mussten uns dabei mit den ver-
meintlichen Gesetzmäßigkeiten der Ge-
schichte beschäftigen. Immer wieder war
zu beweisen, dass die Sowjetunion die Ame-
rikaner überholt. Von der Mathematiktext-
aufgabe bis zur Geschichtsstunde. Ich
weiß noch, wie ich einmal unter einen so
sinnlosen Beweis „quod erat demonstran-
dum“ geschrieben habe, stolz auf meine
mageren Lateinkenntnisse ...
... Staatsbürgerkundeunterricht ...
Ja, dass auf den Kapitalismus gesetzmäßig
der Sozialismus und dann der Kommunis-
mus folgt und dass sukzessive immer alles
besser wird. Ich weiß noch, wie mich ein
Kollege einmal fragte, woher ich das eigent-
lich weiß, dass es in der Geschichte immer
besser wird. Da fing ich an, über unterge-
gangene Völker, Hochkulturen wie die Ma-
ya und Inka, nachzudenken und stellte
fest: Ja, stimmt eigentlich, es ist wirklich
weder bewiesen noch ausgemacht, dass
auf der Zeitschiene alles besser wird. Auch
im heutigen Deutschland und Europa ist
übrigens der Gedanke, dass wir auch mal
zurückfallen könnten, nicht sehr ausge-
prägt. Was ich für ein Manko halte.
Hatten Sie den Eindruck, dass sich West-
deutsche für Ihre Erinnerungen wirklich
interessieren?
Es gab Menschen, die sich interessiert ha-
ben. Es gibt aber auch sehr viele, die ein-
fach schwer verstanden haben, dass zwi-
schen dem Staat DDR und dem individuel-
len Leben der DDR-Bürger durchaus ein
Unterschied war. Es ist sofort verstanden
worden, dass wir froh waren, raus zu sein
aus diesem Staat, wenngleich dieses Ver-
ständnis doch eher eine schablonenhafte
Vorstellung war.
Inwiefern?
Ich bin gefragt worden, ob man auch mal
glücklich sein konnte in der DDR und ob
man lachen konnte. Ja, ich und viele ande-
re haben Wert darauf gelegt, jeden Tag in
den Spiegel schauen zu können, aber wir
haben auch Kompromisse gemacht. Und
viele wollten auch nicht jeden Tag Repu-
blikflucht begehen oder ins Gefängnis
kommen. Dieses Gefühl ist schwer zu ver-
mitteln.
Siemeinen, dass eszwischen Bürgerrecht-
ler und Stasi noch etwas gab, das sich Le-
ben nannte?
Ja, dass es zwischen Bürgerrechtlern und
Staatssicherheit viele Menschen in allen
möglichen Nuancen gab, die jeden Tag
überlegt haben, wie sie anständig durchka-
men und ihre Kinder erzogen. Ich habe
mich manchmal so umgeguckt im politi-
schen Raum der Bundesrepublik und mich
gefragt, wie viele denn unter den Bedingun-
gen der DDR den Mut gehabt hätten, Bür-
gerrechtler zu werden und in Bautzen im
Gefängnis zu sitzen oder über die Ostsee
zu flüchten oder einen Ausreiseantrag zu
stellen. Da denke ich, dass der Prozentsatz
der Mutigen in etwa dem der Ostdeut-
schen früher entsprochen hätte. Da sind
wir eben einfach Menschen.
Hat die Erfahrung mit Indoktrination
auch Ihren später als stoisch beschriebe-
nen Regierungsstil geprägt?
Ich muss die Dinge verstanden haben, be-
vor ich entscheide. Ich habe stets versucht,
möglichst wenige meiner politischen Ent-
scheidungen komplett umwerfen zu müs-
sen. Ich musste es bei der Kernenergie tun
und habe es getan. Aber etwa bei Griechen-
land und dem Euro wusste ich noch nicht
am ersten Tag, was ich zu tun hatte. Dann
wird manchmal der Dampf in der Küche
immer heißer – und alle drängen, jetzt
müsse ich etwas sagen. Dann muss ich
zwar etwas schneller nachdenken; aber be-
vor ich nicht sicher bin, dass eine Entschei-
dung auch nach drei Tagen noch haltbar
bleibt, spreche ich sie nicht aus. Ich habe
35 Jahre lang gelernt, dass um mich herum
die offizielle Meinung eine andere als mei-
ne eigene war. Mit meiner Meinung war
ich alleine oder mit ganz wenigen Men-
schen zusammen. Und deshalb erschüttert
mich das nicht, wenn andere das anders
sehen.
Ihnen wird vorgeworfen, zu wenig die In-
teressen der Ostdeutschen zu vertreten.
Ich bin gesamtdeutsche Bundeskanzlerin,
gewählt, um für die Interessen aller Deut-
schen zu arbeiten. Es war im Übrigen auch
nicht so, dass scharenweise Leute zu mir
kamen und baten, dass ich ihnen die neuen
Länder mal erkläre, so war das nicht. Ich
war ja eine vielfache Minderheit, als ich in
die Politik kam, ein besonders seltenes Ex-
emplar: protestantisch, eine Frau, damals
noch jung, Ostdeutsche und Naturwissen-
schaftlerin, was in der CDU nicht so oft vor-
kommt. Ich konnte ja nicht alle Minderhei-
tenkomponenten permanent in den Vor-
dergrund stellen.
Schmerzt es, wenn Sie im Osten unfreund-
lich empfangen werden? Finden Sie die
Menschen undankbar?
Nein. Ich muss mich damit auseinanderset-
zen. Und Dankbarkeit ist keine Kategorie
in der Politik. Im Übrigen werde ich von vie-
len Menschen auch freundlich empfangen.
60 30 JAHRE FALL DER MAUER Samstag/Sonntag, 9./10. November 2019, Nr. 259 DEFGH
Angela Merkelkam 1954 als Angela
Kasnerin Hamburg zur Welt. Mit ihrer
Mutter Herlind Kasner zog sie als Baby
dem Vater in die DDR nach, Horst Kas-
ner arbeitete in der Uckermark als
evangelischer Pfarrer. 1973 machte sie
in Templin Abitur, studierte danach in
Leipzig Physik und arbeitete nach der
Promotion an der Akademie der Wis-
senschaften in Ostberlin. Über den De-
mokratischen Aufbruch kam Merkel
zur CDU, zog 1990 in den Bundestag
ein und wurde 1991 im ersten gesamt-
deutschen Kabinett unter Helmut
Kohl Frauen-, 1994 Umweltministerin.
1998 machte Wolfgang Schäuble sie
zur Generalsekretärin, 2000 folgte sie
ihm an der Spitze der CDU. Seit 2005
ist Merkel Bundeskanzlerin.
„Ich muss die Dinge
verstandenhaben,
bevor ich entscheide.“
FOTO: REGINA SCHMEKEN
„Das Leben in der DDR
warmanchmal auf eine
bestimmte Art fast bequem.“
ANGELA MERKEL
ÜBER DEN
OSTEN
Dämmerung liegt schon über dem Kanzleramt.
Doch Angela Merkel ist noch lange nicht fertig.
Morgens war sie in Sachsen, später warten die Autobosse.
Trotzdem nimmt sie sich viel Zeit für ein
Gespräch über ein Deutschland, das es nicht mehr gibt
Zur Person