Süddeutsche Zeitung - 09.11.2019 - 10.11.2019

(Greg DeLong) #1
Wer soll CDU und CSU in die nächste
Bundestagswahl führen? Dem aktuel-
len Politbarometer der Forschungs-
gruppe Wahlen zufolge gibt es unter
den Unionsanhängern einen eindeuti-
gen Favoriten: Friedrich Merz. Für 35
Prozent von ihnen hätte der ehemali-
ge Vorsitzende der Bundestagsfrakti-
on die besten Chancen, als Kanzlerkan-
didat ein gutes Wahlergebnis für die
Union einzufahren. 15 Prozent sehen
in NRW-Ministerpräsident Armin
Laschet den erfolgversprechendsten
Kandidaten. 14 Prozent nennen CSU-
Chef Markus Söder, zwölf Prozent
Bundesgesundheitsminister Jens
Spahn. Die CDU-Vorsitzende Annegret
Kramp-Karrenbauer kommt dagegen
bei den Anhängern der Union nur auf
acht Prozent.SZ

Favorit Merz


interview: thorsten schmitz

Max Privorozki, 56, ist Vorsitzender der
Jüdischen Gemeinde in Halle und war an
Jom Kippur, am 9. Oktober, in der Synago-
ge, als der Neonazi Stephan B. versucht
hat, in das Gebetshaus einzudringen. Der
Mathematiker Privorozki stammt aus
Kiew und ist vor 29 Jahren nach Deutsch-
land eingewandert.

SZ: Herr Privorozki, einen Monat ist es
jetzt her, dass auf Ihre Synagoge ein An-
schlag verübt wurde. Ist bei Ihnen inzwi-
schen wieder so etwas wie Alltag ins Ge-
meindeleben eingekehrt?
Max Privorozki: Nein, Sie sind heute
schon der fünfte Journalist, der mich an-
ruft diesbezüglich. Wir haben absolut kei-
ne Ruhe. Noch immer kommen Kamera-
teams aus aller Welt zu uns und Politiker.
Gerade hat Außenminister Heiko Maas sei-
nen Besuch angekündigt.
Das ist doch ein gutes Zeichen.
Eigentlich ja, aber wir sind absolut er-
schöpft. Ich dachte, dass wir vielleicht
zwei Wochen nach dem Anschlag die Mög-
lichkeit haben, in unseren Alltag zurückzu-
kehren, mit Gottesdiensten und Gebeten.
Aber das ist nicht der Fall. Politiker und
Medien haben großes Interesse, mit uns
zu reden, ein zu großes Interesse, muss
ich sagen. Wir können kein normales Ge-
meindeleben mehr führen, weil wir stän-
dig an den Anschlag erinnert werden. Das
wühlt uns auf und lässt uns nicht zur Ruhe
kommen.
Am Tag des Anschlags, als etwa 150 Ge-
meindemitglieder in der Synagoge zu
Jom Kippur versammelt waren, stand Ihr
Gebetshaus nicht unter Polizeischutz.
Hat sich das inzwischen geändert?
Jetzt steht ständig eine Polizeistreife vor

der Synagoge, und vor allen anderen jüdi-
schen Objekten in Halle. Auch haben wir
einen sogenannten Live-Kontakt zur Poli-
zei, das heißt: Sagt eine Lehrerin ihren
Deutschunterricht ab, oder findet eine Be-
stattung statt, weiß die Polizei sofort dar-
über Bescheid und koordiniert die Sicher-
heitsmaßnahmen.
Wie hat sich der Anschlag auf die Stim-
mung in Ihrer Gemeinde ausgewirkt?
Wir hatten vor Kurzem eine Mitgliederver-
sammlung, bei der wir natürlich sehr viel
über den Anschlag gesprochen haben. Die
Leute sind beunruhigt und fragen, wie es
weiterläuft. Ich habe gesagt, dass die Poli-
zei gerade ein Sicherheitskonzept für die
Gemeinde erstellt und unter anderem

neue Sicherheitstechnik eingebaut wer-
den soll.
Ist die Tür, die den Schüssen des Attentä-
ters standgehalten hatte, ausgewechselt
worden?
Nein, die beschädigte Tür ist noch immer
da. Wir wissen noch nicht, ob die neue Tür
eine identische sein wird, oder wir eine
kräftigere Tür bekommen, die das Landes-
kriminalamt vorschreibt.
Haben Sie einen solchen Anschlag für
möglich gehalten?
In diesem Ausmaß? Nein. Wir beobachten
aber mit Unruhe, dass in Deutschland An-
tisemitismus mit großer Geschwindigkeit
immer krasser wird. Sich offen als Antise-
mit zu zeigen ist nicht mehr peinlich. Wo-

bei dieser Antisemitismus nicht nur von
Neonazis und Rechtsextremisten kommt,
sondern auch von Islamisten propagiert
wird. In diesen Tagen gedenken wir ja der
Reichspogromnacht, und ich muss sagen:
Ich sehe Parallelen zwischen dem 9. No-
vember 1938 und dem 9. Oktober 2019,
dem Tag des Anschlags in Halle auf unse-
re Synagoge.
Tröstet Sie der Zuspruch von Politikern?
Worte sind sicher gut und hilfreich in den
ersten Momenten. Aber wir erwarten
auch Handlungen. Die Sicherheitsvorkeh-
rungen vor jüdischen Einrichtungen sol-
len ja auf höchstem Niveau vereinheitlicht
werden, das ist richtig und wichtig.
Macht es Sie traurig, dass Juden in
Deutschland geschützt werden müssen?
Dass wir Juden geschützt werden müssen,
ist nicht normal, aber man lebt damit. Ich
sehe keine andere Wahl. Aber es ist natür-
lich wirklich traurig, wenn man als Jude in
Deutschland den Alltag hinter Gittern und
Schutzmauern verbringen muss. Da über-
legt man langsam, ob es nicht auch andere
Orte gibt auf unserem Planeten, wo wir Ju-
den besser leben sollten. Wenn wir jetzt
keine Maßnahmen ergreifen gegen Antise-
mitismus und Judenhass, weiß ich nicht,
ob die jüdische Gemeinschaft in Deutsch-
land überhaupt noch eine Zukunft hat.
Allerdings gibt es heute den entscheiden-
den Unterschied zum Regime der Natio-
nalsozialisten: Wir haben den Staat Israel.
Haben Sie mit dem Gedanken gespielt,
nach Israel auszuwandern?
Auf jeden Fall. Und zwar auch schon vor
dem Anschlag. Ich fühle mich schon seit
ein paar Jahren nicht mehr so wohl in mei-
ner Stadt, in meinem Land. Ich lebe seit
29 Jahren hier, und die meiste Zeit habe
ich mich in Deutschland zu Hause gefühlt.
Aber seit ein paar Jahren eben nicht mehr.

Der Zivildienstleistende Hubert Weiger
konntenicht ahnen, dass dieser hübsche
Vergleich ausgerechnet seiner Mutter auf-
stoßen würde. 1972 war es, die Bahn woll-
te im Nürnberger Reichswald einen Gü-
terbahnhof errichten. Und der Diplom-
Forstwirt Weiger, seinerzeit nach dem
Studium Zivi beim Bund Naturschutz,
wetterte dagegen mit den Worten: „Die
Bundesbahn plant für das Jahr 2000
nach Großmutters Muster.“ Das fand Wei-
gers Mutter Großmüttern gegenüber gar
nicht nett. Aber egal, der Güterbahnhof
kam nicht. Eine aufkeimende Umweltbe-
wegung mit einem Zivi hatte ihn verhin-
dert.
Just in Nürnberg ist es, wo Hubert Wei-
ger, inzwischen 72, an diesem Samstag
aus der ersten Reihe abtritt. Zwölf Jahre
lang war er Vorsitzender des Bundes für
Umwelt und Naturschutz, kurz BUND.
Noch einmal will er sich nicht zur Wahl
stellen, es gibt drei andere Kandidaten
für das Amt. So wird an diesem Wochen-
ende auch eine Ära enden: Wie kaum ein
anderer hat Weiger die Umweltbewe-
gung der vergangenen Jahre geprägt.
Eine Nervensäge war er immer, ob
beim Nürnberger Rangierbahnhof, rund
um die Wiederaufarbeitungsanlage Wa-
ckersdorf oder beim Thema Waldster-
ben. Aber er war nie ein Bilderbuch-Öko
mit Wollpulli und zotteligen Haaren. Bis
heute ist ein eckiges Brillengestell aus Me-
tall sein Markenzeichen, er wirkt mehr
wie ein Förster als wie ein Aktivist. Das
machte ihn für die Gegner in Politik und
Unternehmen umso schwerer zu greifen.
Doch Weiger, der sich auf dem Weg an
die Verbandsspitze einst auch mit seinem
Förderer und Vorgänger Hubert Wein-
zierl überworfen hatte, ist und bleibt ein
kompromissloser Umweltschützer. Wo
andere in mühsamen Einigungen zum
Klimaschutz noch winzige Fortschritte lo-
ben, sieht Weiger Niederlagen. Als 2013
Umweltschützer unter Protest die Klima-
konferenz in Warschau verließen, war er
vorn dabei. Und als auch die Grünen 2011
dem schwarz-gelben Atomausstieg zu-
stimmten, war er enttäuscht: Er wollte so-
fort raus. Die Umweltbewegung sah er im-
mer auch als eine Art außerparlamentari-
sche Opposition, und in seiner Zeit an der
BUND-Spitze wollte er sie mehr und
mehr auf die Straße holen. Das gelang.

Gleichwohl wirkte er zuletzt in jener
Kommission mit, die einen Pfad für den
Kohleausstieg suchen sollte; freilich
nicht ohne gemeinsames Sondervotum
der Umweltverbände. Auch das eine Ent-
wicklung der vergangenen Jahre: Die Ver-
bände treten häufiger gemeinsam auf, ru-
fen zusammen zu Aktionen auf.
„Natürlich sind wir nie am Ziel“, sagt
Weiger. „Dafür sind die Aufgaben zu
groß.“ Letztlich müsse man aber jeden
kleinen Erfolg mitnehmen, „und dann
weiter.“ Das gilt auch für ihn selbst: Für ei-
nen völligen Rückzug aus der Umweltpoli-
tik, sagt er, fühle er sich noch zu jung.
michael bauchmüller

Der Aktivist, der nicht so
aussieht: Hubert Weiger.FOTO: DPA

Der Förster


BUND-ChefWeiger hört auf


Bremen– Das Bundesamt für Migration
und Flüchtlinge (Bamf) hat den Asylan-
trag des Libanesen Ibrahim Miri, 46, am
Freitag abgelehnt. Miri ist unter anderem
wegen Drogenhandels vorbestraft, hat ei-
ne mehrjährige Haftstrafe in Deutschland
verbüßt und gilt als Chef eines Clans, dem
etliche kriminelle Handlungen vorgewor-
fen werden. Miri war im Sommer in sein
Heimatland abgeschoben worden. Ende
Oktober kehrte er – nach eigenen Anga-
ben mittels Schleppern – über die Türkei
nach Bremen zurück. Dort wurde er in der
Außenstelle des Bamf in Gewahrsam und
später auf Antrag der Bremer Innenbehör-
de in Abschiebehaft genommen, nach-
dem er einen Asylantrag gestellt hatte.
Diesen lehnte das Bamf nun als „offen-
sichtlich unbegründet“ ab.
Der Fall hat bis in die höchsten Ebenen
der Bundespolitik gewirkt. Bundesinnen-
minister Horst Seehofer (CSU) nahm Miris
Rückkehr zum Anlass, die Grenzkontrol-
len zu verschärfen. Seit Donnerstag kön-
nen nun Menschen, die trotz Einreisesper-
re nach Deutschland kommen, direkt an
den Grenzen abgewiesen werden. Wer es
dennoch ins Land schafft und Asyl bean-
tragt, muss bis zu der Entscheidung eines
Asyl-Schnellverfahrens in Haft bleiben.
Nürnberger Mitarbeiter des Bamf wa-
ren am Mittwoch nach Bremen gereist,
um Miri anzuhören. Am Freitag nun er-
hielt sein Anwalt Albert Timmer per Boten
den negativen Bescheid. Nach Timmers
Angaben wurde auch der Antrag auf die

Feststellung von Abschiebeverboten abge-
lehnt. Damit, so der Anwalt, habe das
Bamf eine neue Abschiebungsandrohung
verbunden. Timmer kündigte an, einen
Eilantrag beim Bremer Verwaltungsge-
richt zu stellen und gegen die Abschiebe-
androhung rechtlich vorzugehen.
Schon gegen eine solche Drohung
durch die Bremer Landesbehörde hatte
Miri geklagt, ebenso ist am Verwaltungs-
gericht der Hansestadt noch eine Klage ge-
gen die Abschiebung vom Sommer anhän-
gig. Damals war Miri nachts aus dem Bett
geholt, mit einem Hubschrauber nach Ber-
lin gebracht und von dort in den Libanon
geflogen worden. Da dort nichts gegen ihn
vorlag, kam er auf freien Fuß.
Auch gegen die Abschiebehaft – sie ist
bis 2. Dezember befristet – geht Miri vor.
Nach Ansicht seines Anwalts irrt die Bre-
mer Innenbehörde, weil sie Miris aktuel-
len Asylantrag als Folgeantrag wertet.
Den ersten Antrag hätten seine Eltern
1986 gestellt, er „erfolgte nach einem kom-
plett anderen Prüfschema“. Daher seien
Asylanträge, die im Falle einer Ablehnung
früherer Anträge vor dem 30. November
2013 gestellt würden, als Erstanträge zu
behandeln – und führten nach Ansicht
der Miri-Seite zu einem vorübergehenden
Aufenthaltsrecht. Laut seinem Anwalt
will sich Miri dem Behördenverfahren stel-
len, wenn er freigelassen werden sollte; er
sei auch bereit, eine elektronische Fußfes-
sel zu tragen. Miri, so der Anwalt, wolle
nicht untertauchen. ralf wiegand

Berlin –Kommenden Mittwoch will die
Mehrheit der Abgeordneten im Rechts-
ausschuss des Bundestages eine Entschei-
dung umsetzen, wie es sie in der Geschich-
te des Parlaments noch nicht gegeben
hat. Der Vorsitzende des Ausschusses, Ste-
phan Brandner, AfD, soll abgewählt wer-
den. Er sei für sie als Vorsitzender nicht
mehr tragbar. Mit zahlreichen „Diffamie-
rungen und Grenzüberschreitungen“ ha-
be er das Ansehen und die Arbeit des gan-
zen Parlaments beschädigt. Es gehe nun
darum, „dem Amt des Vorsitzenden des
Rechtsausschusses seine Würde zurück-
zugeben“, sagt Jan-Marco Luczak, CDU.
Der 53-jährige Brandner, der aus Her-
ten im Ruhrgebiet stammt, kam 2017
über die Landesliste der Thüringer AfD in
den Bundestag. Er war 1997 als Rechtsan-
walt nach Gera gezogen. Schon seine
Wahl zum Vorsitzenden zu Beginn der Le-
gislaturperiode war umstritten. Brandner
hatte in den Jahren zuvor als Abgeordne-
ter im Thüringer Landtag zahlreiche Ord-
nungsrufe für Entgleisungen kassiert. Im
Wahlkampf beleidigte er in Reden Bun-
desminister wie Heiko Maas sowie die
Kanzlerin. Bei seiner Wahl stimmten
zwölf Abgeordnete gegen ihn, zwölf ent-
hielten sich. Andere wählten ihn trotz gro-
ßer Bedenken, weil der Posten der AfD zu-
steht.
Brandner fiel seither weiter auf, vor al-
lem auf Twitter. Er nutzt das Medium viel
und neigt zu Derbheiten. In diesem
Herbst löste er Entsetzen bei vielen Abge-

ordneten aus, als er nach dem Anschlag
auf die Synagoge in Halle einen Tweet teil-
te, in dem ein Twitter-Nutzer fragte: „War-
um lungern Politiker mit Kerzen in Mo-
scheen und Synagogen rum?“ Es seien ei-
ne „Deutsche, die gern Volksmusik hörte“
und ein „Bio-Deutscher“ getötet worden.
Brandner wollte die Empörung dar-
über erst nicht verstehen, entschuldigte
sich dann aber im Bundestag. Bald kam

der nächste Tweet. Vor einigen Tagen
schrieb er eine Twitter-Nachricht über
den Sänger Udo Lindenberg, der das Bun-
desverdienstkreuz erhalten hatte. Brand-
ner sprach von einem „Judaslohn“, Lin-
denberg hatte kurz vorher Brandners Par-
teifreund Björn Höcke einen „echten Fa-
scho“ genannt.

Widerlich und unwürdig seien Brand-
ners Tweets. „Er spielt ganz bewusst mit
antisemitischen Begriffen“, sagt der
Christdemokrat Luczak. Dagegen nennt
Brandner die Vorwürfe absurd, er habe
mit dem Begriff „Judaslohn“ antisemiti-
sche Assoziationen wecken wollen. Er lis-
tet Abgeordnete anderer Fraktionen auf,
die diesen Begriff vor ihm im Parlament
verwendeten, und sendet entsprechende
Zitate aus. Seine Fraktion stützt ihn.
Nun hat der Geschäftsordnungsaus-
schuss des Parlaments entschieden, dass
man Vorsitzende abwählen kann. „70 Jah-
re stellte sich die Frage nicht, doch Brand-
ner hat sich schlicht nicht im Griff“,
schreibt dazu Marco Buschmann, Parla-
mentarischer Geschäftsführer der FDP.
Die Abwahl gilt als sicher. Danach sei es
Sache der AfD, einen neuen Vorsitzenden
zu benennen, erklärt der Christdemokrat
Luczak. jens schneider

In Berlin war die Zusammenkunft in der
Neuen Synagoge: US-Außenminister
Mike Pompeo traf Überlebende der Sho-
ah; an der Gedenkveranstaltung zum
81.Jahrestag der von den Nationalsozialis-
ten organisierten Pogrome vom 9. Novem-
ber 1938 nahm auch Bundespräsident
Frank Walter Steinmeier teil. In München
erinnerte Charlotte Knobloch, die Präsi-
dentin der Israelitischen Kultusgemeinde,
daran, dass die Verbrechen in jener Nacht
möglich waren, weil sich auch vorher fast
niemand der Entrechtung und Diskrimi-
nierung der Juden entgegenstellt hatte.
Das Gedenken an die von den Nazis zy-
nisch „Reichskristallnacht“ genannten
Zerstörungen steht in diesem Jahr im
Schatten der Feiern zum 30. Jahrestag des
Mauerfalls; trotzdem gab es am Freitag,
vor dem jüdischen Schabbat, in vielen
Städten und Gemeinden Veranstaltun-

gen. Es fehlte auch nicht an Warnungen
vor dem neuen Antisemitismus und
Rechtsextremismus: Gesellschaft und Po-
litik hätten die Pflicht, sich schützend vor
jene zu stellen, die heute angegriffen wer-
den, sagte Dietmar Woidke, der branden-
burgische Ministerpräsident und derzeiti-
ge Bundesratspräsident.
Die Frage, ob das Gedenken an den
9.November zu sehr ritualisiert ist, wird in
den jüdischen Gemeinden immer wieder
diskutiert. In Frankfurt scheiterte dieses
Jahr der Versuch, dem Tag eine andere
Form zu geben. Dort wollte die Künstlerin
Tatiana Lecomte an die Pogromnacht erin-
nern, indem an insgesamt 130 Straßen
und Plätzen für eine Stunde alle Leuchten
und Laternen ausgeschaltet werden soll-
ten. Die Stadt beschränkte, mit Bedauern,
die Kunstaktion auf wenige Plätze: Die Ver-
kehrssicherheit gehe vor. mad

„Wir sind absolut erschöpft“


Max Privorozki, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde in Halle, über den Andrang von Politikern und Reportern
nach dem Attentat von Jom Kippur – und die Frage, ob Juden sich in Deutschland noch zu Hause fühlen

Antrag abgelehnt


Bamf verweigert Clan-Chef Asyl – Gericht muss entscheiden


Revolte für die Würde


Der Rechtsausschuss des Bundestags will den AfD-Politiker Stephan Brandner abwählen


Gedenken und Warnungen


Berlin–Die Entschädigungen für Opfer
von Gewalttaten oder Terrorakten wer-
den erhöht und verbessert. Der Bundes-
tag beschloss am Donnerstagabend in
Berlin mit breiter Mehrheit eine Moder-
nisierung des sozialen Entschädigungs-
rechts. Traumatisierten und durch Ge-
waltakte geschädigten Menschen soll
künftig schneller und gezielter geholfen
werden. Fallmanager sollen Betroffene
bei der Antragstellung und im Verfahren
begleiten. Auch Menschen, die sexuellen
Missbrauch erlitten haben, können künf-
tig Entschädigungsleistungen beanspru-
chen. Das Gesetz von Bundessozialminis-
ter Hubertus Heil (SPD) sieht auch höhe-
re Geldleistungen für Hinterbliebene
wie Waisen, Witwen und Witwer sowie
die Geschädigten selbst vor. epd


Berlin– Der Bundesrat hat am Freitag
einem Gesetzespaket für weniger Büro-
kratie zugestimmt. Danach wird künftig
die Krankmeldung auf Papier durch eine
digitale Bescheinigung für den Arbeitge-
ber ersetzt. Wer sich bisher vom Arzt
krankschreiben lässt, bekommt mehre-
re Bescheinigungen. Eine muss an den
Arbeitgeber geschickt werden, eine an
die Krankenkasse. Bundesgesundheits-
minister Jens Spahn (CDU) hatte bereits
eine Neuregelung auf den Weg gebracht,
wonach die Arbeitsunfähigkeits-Beschei-
nigungen ab dem Jahr 2021 von den
behandelnden Ärzten an die Krankenkas-
sen nur noch digital übermittelt werden.
Mit dem jetzt beschlossenen Gesetz
informiert die Kasse den Arbeitgeber
elektronisch über Beginn und Dauer der
Arbeitsunfähigkeit – die bisherigen
„gelben Scheine“ sollen wegfallen. dpa


Tel Aviv– Die Menschenrechtsbeauf-
tragte der Bundesregierung, Bärbel
Kofler, hat Israel aufgefordert, den Regi-
onaldirektor der Menschenrechtsorgani-
sation Human Rights Watch, Omar Sha-
kir, nicht auszuweisen. Israel solle „ein
klares Zeichen für die Bedeutung der
Arbeit von unabhängigen und kritischen
Menschenrechtsorganisationen“ setzen.
„Ich beobachte Gesetze, die dazu beitra-
gen können, die freie Meinungsäuße-
rung und die aktive Zivilgesellschaft
einzuschränken, mit großer Sorge“, er-
klärte die SPD-Bundestagsabgeordnete.
Das Oberste Gericht in Israel hatte die
Ausweisung des US-Bürgers bestätigt.
Ihm werden Boykottaufrufe gegen Israel
vorgeworfen. Er soll bis Ende November
das Land verlassen. afs


München– Die Hochschulrektorenkon-
ferenz (HRK) will die von Bundesbil-
dungsministerin Anja Karliczek favori-
sierten Bezeichnungen „Bachelor Profes-
sional“ und „Master Professional“ ver-
hindern. Die HRK forderte am Freitag in
einem Schreiben den Bundesrat „drin-
gend auf zu verhindern, dass die Begrif-
fe im neuen Berufsbildungsgesetz An-
wendung finden“. Die neu kreierten Titel
für Fortbildungsabschlüsse sind Be-
standteil des kürzlich vom Bundestag
verabschiedeten Gesetzentwurfs zur
Modernisierung und Stärkung der beruf-
lichen Bildung. Am kommenden Montag
berät der Kulturausschuss des Bundesra-
tes über den Entwurf. Die HRK kritisier-
te, die neuen Begriffe stellten etablierte
Titel wie „Betriebswirt“ ohne Not in-
frage und seien verwirrend, weil „Bache-
lor“ und „Master“ europaweit akademi-
sche Titel sind. Zudem sei der Vorschlag
ein „rechtswidriger Eingriff“ in die föde-
rale Kompetenzverteilung. skle


8 POLITIK HF3 Samstag/Sonntag, 9./10. November 2019, Nr. 259 DEFGH


Medienarbeit selbst im Türrahmen noch: Max Privorozki, 56, im Gespräch mit Reportern, die zu seiner Synagoge gekommen sind; hier zwei Tage nach dem Anschlag
im Oktober. FOTO: REGINA SCHMEKEN

Diffamierende Tweets: Stephan Brand-
ner,Vorsitzender des Rechtsausschus-
ses, löst oft Empörung aus. ANDERSEN/AFP

„Er spielt ganz bewusst
mit antisemitischen Begriffen“,
sagt ein CDU-Abgeordneter

Mehr Geld für Gewaltopfer


Digital krank schreiben


Appell an Israel


Sorge um akademische Titel


Angaben in Prozent (in Klammern: Veränderung zu
Mitte Oktober 2019 in Prozentpunkten)

Wenn am nächsten Sonntag
Bundestagswahl wäre...

CDU/CSU
27
(-2)


AfD
14
(+1)

Grüne
22
(-2)

FDP
7
(+1)

Sonstige
6
(±0)

SPD
14
(±0)

Linke
10
(+2)

Schwankungsbereich
nach oben und unten

SZ-Grafik; Quelle: Repräsentative Umfrage der Forschungsgruppe Wahlen, 1250 Befragte

INLAND

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