Der Spiegel - 02.11.2019

(Brent) #1
Diskurs nach rechts verschoben hat. AfD-
Politiker sagen Dinge, die schon lange
nicht mehr laut gesagt wurden; man könn-
te argumentieren, dass sie die Meinungs-
freiheit etwas breiter gemacht haben und
andererseits diese Debatten nutzen, um
die Meinungsfreiheit als eingeschränkt dar-
zustellen – eine sich selbst bestätigende
Prophezeiung.
Am Samstag, dem Tag vor der Wahl in
Thüringen, steht Björn Höcke, Galions -
figur des völkisch-nationalen »Flügels« der
AfD, auf einer Bühne in Erfurt, extra für
ihn aufgebaut am prominentesten Platz
der Stadt. Rechts und links der Bühne ste-
hen zwei junge Männer mit riesigen
Deutschlandfahnen auf Fahrzeugen. Wenn
Höcke eine Pointe macht, schwenken sie
das Schwarz-Rot-Gold.
Meinungsfreiheit gehört zu Höckes
Lieblingsthemen, sie passt gut in seine Stra-
tegie: Er will das Vertrauen in die Demo-
kratie, die etablierten Parteien, die Medien
schwächen. Und so sagt er: »Wir sehen,
wie die einzige relevante Oppositions-
kraft – und das ist die AfD – von einem
politisch-medialen Establishment be-
kämpft wird.« Das zentrale Recht in einer
Demokratie, die Meinungsfreiheit, werde
mithilfe der politischen Korrektheit unter-
drückt. Dann setzt er seine Pointe: »Das

politmediale Establishment dieses Landes
hat unsere Demokratie in einen Gesin-
nungsstaat verwandelt.«. Die Fahnen wer-
den geschwenkt, das Publikum buht und
applaudiert.
Höcke selbst ist Gegenstand eines inte-
ressanten Rechtsfalls um Meinungsfreiheit,
der vor dem Verwaltungsgericht im thü-
ringischen Meiningen ausgetragen wurde.
Es ging um die Frage, ob man Höcke bei
einer Kundgebung als Faschisten bezeich-
nen dürfe. Die Stadtverwaltung Eisenach
hatte dies untersagt, unterlag aber Ende
September vor Gericht.
In ihrer Urteilsbegründung betonen die
Richter, dies sei kein aus der Luft gegriffe-
nes Werturteil, das anfechtbar wäre, es
gebe eine überprüfbare Tatsachengrund-
lage für diese Behauptung. Die Urteilsbe-
gründung verweist auf ein Interviewbuch
Höckes, das im Juni des vergangenen Jah-
res erschienen ist. Dort heißt es: Ein neuer
Führer sei letztlich erforderlich. Teile der
Bevölkerung sollten ausgeschlossen wer-
den, insbesondere Migranten. Höcke trete
für »die Reinigung Deutschlands« ein. Mit
starkem Besen sollten eine »feste Hand«
und ein »Zuchtmeister« den Saustall aus-
misten. Zu Hitler erklärte er, dass er »als
absolut böse dargestellt wird« und dass es
nicht so »schwarz und weiß« sei.

Man darf Höcke also einen Faschisten
nennen. Es lebe die Meinungsfreiheit. Erst
recht, wenn sie sich auf Tatsachen stützt.
Am Abend der Wahl in Thüringen wird
das zum geflügelten Wort: Höcke, der Fa-
schist. Annalena Baerbock, Vorsitzende
der Grünen, nennt ihn als Erste so, viele
folgen ihr. Höcke, der Faschist, dies zu sa-
gen an diesem Abend, das hat etwas von
Erschrecken, aber auch von Genugtuung.
In der Liverunde der Spitzenkandidaten
im MDR sagt es ihm die Grüne Anja Sie-
gesmund sogar ins Gesicht.
Und Höcke? Hat diesen flackernden
Blick. Aber er zeigt keine Empörung sei-
nerseits, kein Erschrecken. Stattdessen fast
so etwas wie ein Lächeln, als ob es ihn
freue, dass man ihn beschimpft.
Höcke und Lucke trennen viel mehr
als nur ein paar Buchstaben, sie haben
kaum etwas gemein, der eine ist ein Fa-
schist, der andere nicht. Eine Lektion aber
haben sie gelernt in diesem Theaterstück
namens Meinungsfreiheit: Je lauter man
sie als das Böse beschimpft, desto mehr
nutzt es ihnen.
Tobias Becker, Anna Clauß, Silke Fokken,
Lothar Gorris, Armin Himmelrath,
Peter Maxwill, Ann-Katrin Müller, Miriam
Olbrisch, Klaus Wiegrefe

Titel

zusammen.


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