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Deutschland
DER SPIEGEL Nr. 45 / 2. 11. 2019
D
rei Wochen lag der Terroranschlag in Halle zurück,
als am Mittwoch drei zufriedene Minister in der
Bundespressekonferenz saßen. Innenminister Horst
Seehofer (CSU), Justizministerin Christine Lam-
brecht und Familienministerin Franziska Giffey (beide SPD)
verkündeten, was die Regierung im Kampf gegen Rechts -
extremismus und Hasskriminalität zu tun gedenke. Neun
Punkte hatten sie auf ihrer Liste: Es geht vor allem um neue
Befugnisse für das Bundeskriminalamt, um mehr Ressourcen
für den Verfassungsschutz, um schärfere Gesetze und um
erweiterte Straftatbestände.
Darunter sind sinnvolle Maßnahmen, aber sie haben einen
Makel: Sie greifen erst, wenn es zu spät ist. Wenn ein Hass-
täter bereits auffallend radikalisiert
ist. Oder wenn er schon zugeschlagen
hat. Dabei ist klar, dass man nicht
jeden frühzeitig identifizieren kann,
der sich zu radikalisieren droht.
In Zeiten, in denen Synagogen und
Dönerläden wie in Halle angegriffen
werden, in denen junge Menschen in
Scharen eine Partei mit Rechtsextre-
men wie Björn Höcke und Andreas
Kalbitz an der Spitze wählen, in die-
sen Zeiten geht es nicht nur um eine
effizientere Arbeit von Justiz und
Sicherheitsbehörden. Es müsste viel
mehr darum gehen, junge Menschen
nicht in die stramm rechte Ecke ab-
driften zu lassen.
Umso erstaunlicher ist, dass sich
nur einer der neun Punkte mit Prä-
vention befasst. Dafür gibt es sogar
etwas mehr Geld: Das Programm
»Demokratie leben«, das in Giffeys
Ministerium angesiedelt ist, bekommt bis 2023 jedes Jahr
mindestens 115,5 Millionen Euro. Es fördert Vereine und Ini-
tiativen, die Demokratie erklären, Kampagnen für mehr To-
leranz organisieren, Jugendliche vor dem Abrutschen in eine
rechts- oder linksextreme Szene retten – oder ihnen später
beim Ausstieg helfen.
Köthen zum Beispiel ist seit Januar Teil des Programms.
Jene Stadt in Sachsen-Anhalt, in der vergangenes Jahr Tau-
sende Rechtsextreme demonstrierten, weil ein Deutscher
nach Gewalt durch zwei Flüchtlinge gestorben war. 150 000
Euro bekam die Stadt vom Bund, 95 Prozent der Mittel sind
bereits abgerufen, 16 Projekte wurden unterstützt: darunter
Workshops an Schulen zu Hatespeech, ein Kunstprojekt von
Schülern zum Grundgesetz, Hörspiele zu 30 Jahre Mauerfall
oder ein Theaterstück, das zwei Schulen gemeinsam mit
einem Altenheim und lokalen Politikern erarbeitet haben.
All das hätte es ohne das Programm – und die Aufmärsche
im September vergangenen Jahres – nicht gegeben.
Doch steht dem Familienministerium längst nicht genug
Geld zur Verfügung, um alle Anträge zu bewilligen, die es
verdient hätten. Dafür seien mindestens 200 Millionen Euro
pro Jahr nötig, heißt es aus Giffeys Haus. Doch schon die
jetzt beschlossene Erhöhung der Gelder für die nächsten vier
Jahre gilt als Verhandlungserfolg Giffeys. Ohne den Anschlag
von Halle hätten sich die Union und SPD-Finanzminister
Olaf Scholz wohl weiter quergestellt.
Noch problematischer ist, dass ein Bundesprogramm nur
Modellprojekte fördern darf. Das heißt: Selbst jene Projekte,
die erfolgreich waren, müssen immer wieder neue Anträge
mit frischen Ansätzen einreichen, um weiterlaufen zu können.
»Aufgrund rechtlicher Vorgaben können gute Projekte nicht
einfach weitergefördert werden, nur weil sie gut sind, auch
wenn wir das gerne machen würden«, klagt Giffey. Die Ini-
tiativen können nicht längerfristig planen, jederzeit kann der
Stecker gezogen werden, egal wie sinnvoll ihre Arbeit auch
ist. Eine verlässliche Stellenplanung
ist so nicht möglich. Man findet gute
Mitarbeiter aber nur schwer, wenn
man ihnen bei ohnehin meist gerin-
ger Bezahlung nur befristete Verträge
anbieten kann.
Dabei gäbe es einen Weg aus die-
sem Dilemma: Ein »Demokratie -
fördergesetz«, das der NSU-Unter -
suchungsausschuss des Bundestags
schon im August 2013 gefordert hatte.
Gäbe es ein solches Gesetz, müssten
die Mittel im Bundeshaushalt nicht
jedes Jahr neu erstritten werden. Die
Organisationen könnten dauerhaft
gefördert werden und würden weni-
ger Zeit mit dem Schreiben von An-
trägen vergeuden. Vor allem aber:
Erfolgreiche Projekte könnten wei-
tergeführt werden, müssten nicht alle
paar Jahre ihr Konzept umbauen
oder sich anderweitig Geld suchen.
Der Wunsch nach einem solchen Gesetz schaffte es zwar
in den Koalitionsvertrag von Union und SPD aus dem Herbst
- Doch ein Referentenentwurf des SPD-geführten Fami-
lienministeriums wurde vom CDU-geführten Innenministe-
rium zurückgewiesen. Die Juristen dort hatten verfassungs-
rechtliche Bedenken. Man würde quasi eine »fünfte Gewalt«
installieren, hieß es. Im aktuellen Koalitionsvertrag taucht
das Demokratiefördergesetz dann gar nicht mehr auf. Giffey
setzt sich dennoch weiter dafür ein.
Innenminister Seehofer überraschte am Mittwoch mit der
Aussage, dass er bereit sei, die rechtlichen Grundlagen zu
prüfen. Er sagte aber, dass seine Fraktion »davon weniger
hält«. Der Vizevorsitzende der Fraktion, Thorsten Frei, be-
gründet das so: »Das von der Familienministerin geplante
Demokratiefördergesetz würde das Budgetrecht des Bundes-
tags beträchtlich einschränken.«
Wenn in Zukunft gefragt wird, wie sich rechtsextreme Ideo-
logie in Deutschland sieben Jahrzehnte nach dem Ende des
Nationalsozialismus derart verbreiten konnte, hier ist zumin-
dest eine Erklärung. Ann-Katrin Müller
Mail: [email protected]
Twitter: @akm0803
Sanft gegen rechts
AnalyseDie Bundesregierung will Extremismus und Hasskriminalität bekämpfen.
Doch die Union und Finanzminister Scholz behindern nachhaltige Prävention.
HERMANN BREDEHORST / POLARIS / LAIF
Ministerin Giffey