Der Spiegel - 02.11.2019

(Brent) #1
Gesellschaft

D


as berührendste Dokument in
Jürgens Stasi-Akte ist drei Zeilen
lang: »Hiermit erkläre ich, Frau
Erna Bohl, geboren am 26. Au-
gust 1917 in Deutsch-Thierau, den Verzicht
auf Unterstützung, Pflege und Fürsorge
durch meinen Enkel Jürgen Bohl.« Wie hat
sich Jürgens Großmutter gefühlt, als sie
diese Erklärung unterschrieb? Da will der
Älteste ihres früh verstorbenen Sohns eine


Fotos und handschriftliche Bildzeilen aus Annette
Bruhns’ Privatalbum.


Westdeutsche heiraten. Und deshalb muss
sie, eine einst aus Ostpreußen vertriebene
Witwe, dem Staat bestätigen, dass sie den
geliebten Enkel loslassen wird. Für immer.
Denn die DDR war ein Gefängnis. Dieje-
nigen, die ihm entkommen waren, hatten
meistens kein Besuchsrecht.
Vier Monate nach Erna Bohls Verzicht-
erklärung haben Jürgen und ich geheiratet,
am 15. September 1989, auf dem Standes-
amt Prenzlauer Berg in Ost-Berlin. Keine
zwei Monate später – vor ziemlich genau
30 Jahren – fiel die Mauer. Hätten wir es

bemerken können? Die Mau er wurde nicht
gesprengt, sie erodierte. Allein der Um-
stand, dass wir binnen Monaten die Erlaub-
nis zur Heirat bekamen, zeugt vom Macht-
verlust des Honecker-Staats im letzten Jahr
seiner Existenz. Viele Ost-West-Paare vor
uns hatten jahrelang warten müssen.
Aber auch wir hatten Angst. Jürgen
wusste, dass die Stasi ihn überwachte,
dass er an seiner Berufswahl gehindert
wurde. Erst heute wissen wir, dass die Ver-
hinderung seines Theologiestudiums schon
am 12. November 1984 beschlossen wor-

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Meine Hochzeit, die Stasi


und der Mauerfall


WiedervereinigungEine Studentin aus dem Westen heiratet einen Regimekritiker in Ost-Berlin,


damit er ausreisen kann, gemeinsam erleben sie den Zusammenbruch
der DDR. Eine Geschichte über Angst, Liebe und die Revolution.Von Annette Bruhns
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