Vier US-Soldaten laufen zu zwei großen
Zelten, die neben dem ummauerten Ge-
höft stehen, fordern die Menschen darin
auf, sich auszuziehen und herauszukom-
men. Dann werde ihnen nichts geschehen.
So wird es später ein Augenzeuge dem
SPIEGELschildern.
Die völlig verdutzten Menschen werden
fort vom Gehöft geführt, bekommen fluo-
reszierende Knicklichter in die Hand ge-
drückt, damit sie nicht für Ziele gehalten
werden.
Währenddessen beginnt der Angriff.
Abu Bakr al-Baghdadi, 48 Jahre alt, ist
der meistgesuchte Terrorist der Welt. Vom
Reich, das die Armee des IS 2014 erobert
hatte – etwa so groß wie Jordanien, mit
Millionen Untertanen –, ist schon seit
März nichts mehr übrig. Vom Schreckens-
regime, das der IS etablierte, das Menschen
folterte und köpfte, ganze Volksgruppen
versklavte, sind nur Trümmer geblieben.
Die Jahre auf der Flucht haben Baghdadi
vorsichtig bis paranoid werden lassen. Nie-
mand mit einem Mobiltelefon darf auch nur
in seine Nähe kommen. Mit der Außenwelt
kommuniziert er über Kuriere, die Zettel
oder mündliche Botschaften weitertragen.
Der inhaftierte IS-Kommandeur Ismail
al-Ithawy schilderte in einem Gefängnis
im Irak 2018 der »New York Times«, wie
Treffen mit Baghdadi abliefen.
Ihm und anderen hochrangigen Kadern
der Organisation seien sämtliche elektroni-
schen Geräte abgenommen worden, selbst
die Armbanduhr. Dann seien sie mit ver-
bundenen Augen in Bussen stundenlang
umhergefahren worden, ehe sie schließlich
Baghdadi gegenübersaßen, für meist 15 bis
30 Minuten währende Audienzen.
Baghdadis Sorge sei immer gewesen:
»Wer wird mich verraten?«, sagt General
Yahya Rasul, der Sprecher des irakischen
Verteidigungsministeriums. Der Terrorfüh-
rer habe fast niemandem getraut. Stets hät-
ten er und seine Leibgarde Sprengstoff-
westen getragen, um bei einem Zugriff auf
keinen Fall lebend in die Hände ihrer Geg-
ner zu fallen.
Auch in der Nacht vom 26. auf den
- Ok tober trägt Abu Bakr al-Baghdadi
eine Sprengstoffweste. US-Verteidigungs-
minister Mark Esper wird später berichten,
die Soldaten hätten den IS-Chef im Haus
aufgefordert, herauszukommen und sich
zu ergeben: »Er weigerte sich.«
Dass seine Verfolger ihn ausgerechnet
in der Provinz Idlib, nur wenige Kilometer
von der Grenze zur Türkei entfernt, auf-
gespürt haben, dürfte Baghdadi überrascht
haben. In Idlib, so sein mutmaßliches Kal-
kül, erwartete ihn niemand.
Die letzte Rebellenprovinz wird weit-
gehend von einer Dschihadistengruppe
kontrolliert, die mit Baghdadi eine gemein-
same Geschichte von engster Nähe und er-
bittertem Hass verbindet.
Vor allem in den Anfängen 2012 finan-
zierte der IS die »Nusra-Front«, weil er in
Syrien nicht unter eigenem Namen auf -
treten wollte, stattdessen lieber eine ver-
meintliche einheimische Bewegung entste-
hen ließ. Doch die Nusra-Front, in der sich
vor allem Syrer sammelten, wollte nicht
so, wie der IS wollte.
Ihre Männer drängten darauf, gemein-
sam mit anderen Rebellengruppen gegen
Syriens Diktator Baschar al-Assad zu
kämpfen. Das war nicht der Plan des IS,
den eine lange, konspirative Geschichte
der Kooperation mit Assads Militärge-
heimdienst verbindet. Die Terrormiliz und
das Regime kooperierten temporär, um an-
dere Rebellengruppen kleinzuhalten.
Im April 2013 kam es zum Bruch zwi-
schen dem IS und der Nusra-Front, die an-
schließend für eine Weile al-Qaida die
Treue schwor. Die IS-Führung ließ eine
Reihe von Nusra-Kommandeuren ermor-
den, brachte 2014 sogar den offiziellen
Vertreter von al-Qaida in Syrien um.
Brüder im Geiste, Todfeinde im Felde.
Nusra, mittlerweile umbenannt in »Haiat
Tahrir al-Scham«, HTS, hat sich zur mäch-
tigsten Rebellenfraktion in Idlib hochge-
kämpft. Und unlängst bis zu tausend ge-
flohene IS-Anhänger festgesetzt. Ausge-
rechnet hier würde niemand Abu Bakr al-
Baghdadi erwarten.
Ein Mann zumindest tut es doch. Sein
Gastgeber der letzten Nacht. Salam Hadsch
DER SPIEGEL Nr. 45 / 2. 11. 2019 83
Ausland
Die Amerikaner haben
eine heiße Spur. Die YPG
hat Baghdadis Flucht -
route rekonstruiert.
E
ines Tages würden sie kommen,
ihn zu holen. Das muss ihm klar
gewesen sein. Außer ihm waren ja
schon alle anderen tot, die den »Is-
lamischen Staat« groß und ihn zu dessen
Kalifen gemacht hatten. Verbrannt und
zerfetzt von den Raketen der US-Drohnen,
erschossen von syrischen Rebellen. Nur er
war noch übrig nach mehr als fünf Jahren
unaufhörlicher Jagd: Abu Bakr al-Baghda-
di, Anführer des »Islamischen Staats«.
Aber irgendwann würden sie auch ihn
finden. Zeugen sagen, dass er immer ner-
vöser wurde, wenn er das Geräusch der
Hubschrauber hörte. Vielleicht ahnte er,
dass es sich irgendwann nicht mehr verlie-
ren würde. Sondern dass es näherkommen
würde, immer näher.
Dass ihm die Amerikaner in diesem
Herbst auf der Spur sind, kann Baghdadi
kaum wissen. Seit Monaten haben Spio-
nagesatelliten und Drohnen Aufnahmen
in der Provinz Idlib, im Nordwesten Sy-
riens, gemacht, wo sich der IS-Chef zuletzt
versteckt hält. Bis sie immer enger zirkeln
über einem Gehöft am Westrand des Dor-
fes Barischa.
Die Nacht zum Sonntag, dem 27. Okto-
ber, ist kühl, die herbstlichen Regenfälle
haben in der Vorwoche begonnen. Nach
Mitternacht wird die Stille der Olivenhaine
zerrissen vom Tosen der riesigen zwei -
motorigen CH-47 »Chinook«-Transport -
helikopter und begleitenden »Apache«-
Kampfhubschrauber. Insgesamt acht He-
likopter kreisen über dem unauffälligen
Haus.
Die Explosionen, die kurz darauf folgen,
treffen eine Mauer des Hauses. Die Spezi-
alkräfte der Delta Force wollen nicht durch
die Tür hineinstürmen, denn sie befürch-
ten Sprengfallen. Noch vor dem Landen
wird deshalb aus etwa 50 Meter Höhe ge-
feuert.
Es geht alles glatt. Die »Chinooks« lan-
den, die Elitesoldaten springen ins Freie,
von einem der mitfliegenden Übersetzer
kommt eine Lautsprecherdurchsage auf
Arabisch mit jordanischem oder saudi-ara-
bischem Akzent: Alle Bewohner sollen in
ihren Häusern bleiben!
- Mit dem Nationalen Sicherheitsberater Robert
O’Brien, Vizepräsident Mike Pence, Verteidigungs -
minister Mark Esper, Generalstabschef Mark Milley,
Brigadegeneral Marcus Evans am 26. Oktober.
»Wer wird mich verraten?«
TerrorAbu Bakr al-Baghdadi war jahrelang der meistgesuchte Terrorist der Welt. Nun haben
US-Elitesoldaten den Anführer des »Islamischen Staats« in einem Gehöft
in Syrien gestellt. Die Geschichte einer dramatischen Operation. Von Christoph Reuter