Deeb, Mitte vierzig, stammt ursprünglich
aus dem Altstadtbezirk Schaar in Aleppo.
In einem Video, das seit vergangenem
Sonntag im Internet kursiert, wird ein
Kampfname von ihm genannt, Moham-
med Salam al-Halabi, was es anfangs
schwierig macht, ihn zu identifizieren.
Schon früh hat sich Deeb dem IS ange-
schlossen, der so ganz anders plant, ope-
riert als sonstige islamistische Fanatiker-
truppen, und der seit 2013 die Rebellen-
gebiete im Norden Syriens unterwandert,
ohne sich zu erkennen zu geben. Deeb ist
mit dabei.
Anfang Januar 2014 schlagen die sonst
unkoordiniert nebeneinanderher kämpfen-
den Rebellengruppen jählings gemeinsam
los gegen den IS. Sie haben spät erkannt,
dass sich hier eine mörderische, hoch or-
ganisierte Gruppierung ihr eigenes Reich
erobern will. Geeint sind die Rebellen stär-
ker, vertreiben den IS aus Idlib, Aleppo.
Deeb muss fliehen.
Erst drei Jahre später taucht er wieder
auf: in Barischa. Er hat reichlich Geld. Wo-
her, weiß keiner der Männer, mit denen
der SPIEGELsprach. Er gibt sich unpoli-
tisch, sagt, er kenne sich aus mit Schafen
und Oliven, verschweigt seine Zugehörig-
keit zum IS.
Etwas außerhalb des Ortes kauft er ein
Stück Land mit einem zweistöckigen Roh-
bau zwischen Olivenbäumen, bezahlt in
bar, 25 000 Dollar. Später wird er einen
Laden im Nachbarort Sarmada betreiben,
dort Linsen, Bohnen sowie Milch und
Käse seiner Schafe verkaufen.
Er heuert Männer an aus dem Ort, sein
Haus auszubauen, aufwendig mit Marmor,
einer hohen Mauer um einen Teil des
Grundstücks. Es gerät etwas groß für ihn
und die Familie seines Sohnes Moham-
med. Aber das wundert niemanden.
Jeder in Idlib hat irgendwo Verwandte,
heiratet trotz des Krieges oder vermietet
Räume an Flüchtlinge. Bald leben so viele
Zugezogene im Dorf, dass die alte, engma-
schige Verbundenheit sich auflöst. Keiner
in Barischa kann sich daran erinnern, dass
der kleine Weiler von Bomben getroffen
worden wäre. Zu nahe liegt er an der tür-
kischen Grenze, zu unwichtig ist er auch.
Ein perfekter Ort zum Untertauchen.
Am Samstag vergangener Woche zwi-
schen 16 und 18 Uhr kommt ein diskreter
Gast zu Salam Hadsch Deeb. So berichten
es mehrere Zeugen aus Barischa später
dem SPIEGEL.
Wer er ist, wissen die Menschen zu-
nächst nicht. Nur dass er zwei Frauen da-
beigehabt habe sowie einige Männer. Und
Kinder. Der meistgesuchte Terrorist der
Welt ist soeben eingetroffen mit Teilen sei-
ner umfangreichen Familie und der engs-
ten Leibwache.
Baghdadi dürfte zu diesem Zeitpunkt
nicht ahnen, dass der Countdown längst
begonnen hat. Noch sechs bis acht Stun-
den, dann werden er und fast alle seine
Begleiter tot sein.
Seit Jahren haben die USA den Anfüh-
rer des »Islamischen Staats« gejagt, haben
aus der Luft Tausende der Kämpfer um-
gebracht, die Großstädte Mossul und Rak-
ka befreit und dabei zu Trümmern ge-
bombt.
Nur die Nummer eins auf ihrer Liste
bleibt wie vom Erdboden verschluckt.
Trotz 25 Millionen Dollar Kopfgeld. So
viel wie für den Qaida-Chef Ayman al-Za-
wahiri, aber der wird nicht so aufwendig
gesucht.
Seit Mai haben die Amerikaner eine hei-
ße Spur. Der Geheimdienst ihrer syrischen
Verbündeten, der Kurdenmiliz YPG, hat
Baghdadis Fluchtroute rekonstruiert. Zum
ersten Mal gibt es Hinweise darauf, wo er
sich aufhält.
Demnach hat er die irakische Provinz
Anbar verlassen. Dorthin war er nach Ge-
heimdienstberichten im Januar geflohen,
um dem Untergang von Baghus, der letz-
ten Bastion des IS-»Kalifats« in Syrien, zu-
vorzukommen. In der Wüste von Anbar,
vermuteten alle, werde er sich mit einer
Handvoll Vertrauter verborgen halten, ir-
gendwo in einem der Dörfer abwartend.
Lange aber ist er dort nicht geblieben.
Selbst in Anbar steigt der Verfolgungs-
druck, sind amerikanische und irakische
Drohnen unterwegs, operieren die schiiti-
schen Milizen der »Volksmobilisierungs-
einheiten«.
Bald ist Baghdadi wieder auf syrischer
Seite. »Dank unserer eigenen Quellen
konnten wir bestätigen, dass Baghdadi die
Gegend von Daschischa in Deir al-Sor«,
der östlichen Wüstenprovinz Syriens, »ver-
lassen und sich nach Idlib begeben hat«,
gibt der kurdische Funktionär Polat Can
am Montag bekannt: »Seit dem 15. Mai
kooperierten wir mit der CIA, um Baghda-
di zu verfolgen.«
Quer durchs Land bis in den äußersten
Nordwesten nach Idlib zu fliehen, mindes-
tens zwei seiner Frauen, mehrere Kinder
dabeizuhaben sowie weitere Teile seiner
Verwandtschaft in dieselbe Richtung zu
schicken – für Baghdadi ein massiver
Bruch mit seinen bisherigen Vorsichtsmaß-
nahmen.
Er wird verraten. Und das unter Um-
ständen gleich mehrfach.
Im Irak haben Geheimdienstler Muham-
mad Ali Sajid al-Zobaie festgenommen, ei-
nen Schwager und Kurier Baghdadis. Er
führt sie zu einem Tunnelversteck nahe
der syrisch-irakischen Grenze, in dem sie
religiöse Schriften, eine Waffe und mehre-
re medizinische Notfallsets finden, aber
auch eine kleine Tasche mit handgezeich-
neten Karten und Aufzeichnungen.
Die syrischen Kurden werden später
stolz behaupten, sie hätten einen Infor-
manten in Baghdadis direktem Umfeld
platziert. Und, vermutlich in einem ver-
lassenen Quartier, eine Unterhose Baghda-
dis gefunden, die den Amerikanern helfen
soll, seine DNA zu bestätigen.
Die Frauen von zwei Brüdern Baghda-
dis werden angeblich auf der Flucht auf-
gespürt, ein Neffe des Terrorchefs festge-
nommen. Ein wichtiger Schmuggler packt
aus.
Doch was genau auf wessen Konto geht,
welchen Anteil die syrischen Kurden, wel-
chen die irakischen Geheimdienste an der
Operation gegen den Terrorchef haben, ist
schwer zu klären. Beide Seiten wetteifern
darum, die entscheidenden Hinweise ge-
liefert zu haben.
Sicher ist, dass die Amerikaner Baghda-
di ab dem Sommer so dicht auf der Spur
sind wie nie zuvor. Im September schon
soll sich der IS-Anführer in Idlib aufgehal-
ten haben. Aber dann torpediert US-Prä-
sident Donald Trump auf einmal die ge-
plante Operation.
Am 7. Oktober kündigt er auf Twitter
den Abzug der US-Soldaten aus Nordost-
syrien an: Es sei an der Zeit, »aus diesen
lächerlichen, endlosen Kriegen herauszu-
kommen«. Eine Kettenreaktion ist die Fol-
ge: Türkische Truppen marschieren in die
Region ein, die Kurden rufen Assad zu Hil-
fe, die Russen übernehmen die Lufthoheit
über den Nordosten von den USA. Die
Jagd auf Baghdadi steht kurz davor, ein
weiteres Mal zu scheitern.
Doch trotz des Chaos im Norden Sy-
riens reißt die Überwachung des IS-Chefs
nicht ab. Am Donnerstag, dem 24. Okto-
ber, wird das Weiße Haus von den Geheim-
diensten informiert, dass Baghdadi »mit
hoher Wahrscheinlichkeit« ein bestimmtes
Gehöft in Idlib aufsuchen werde. Am Frei-
tag werden Trump die militärischen Op-
tionen vorgelegt.
Am Samstagmorgen habe »actionable
intelligence« vorgelegen, erzählen Regie-
rungsvertreter später: belastbare Hinweise,
dass der meistgesuchte Mann der Welt
zum Greifen nah sei. »Kayla Mueller«
wird die Operation benannt, nach der ame-
rikanischen Menschenrechtlerin, die vom
IS verschleppt, nach Aussagen weiblicher
Mitgefangener von Baghdadi selbst verge-
waltigt wurde und unter ungeklärten Um-
ständen ums Leben kam.
Während Donald Trump am Freitag-
abend in Camp David den 10. Hochzeits-
tag seiner Tochter Ivanka und Jared
84 DER SPIEGEL Nr. 45 / 2. 11. 2019
Ausland
Die Jagd auf Baghdadi
steht kurz davor,
ein weiteres Mal zu
scheitern.