Samstag, 2. November 2019 FEUILLETON 25
INTERNATIONALE AUSGABE
Diese Literatur hat Laub im Haar
Was ist ein Schaf der Vernunft? DieBerliner Autorin Marion Poschmann wird es in ihren Zürcher Poetikvorlesungen verraten
PAUL JANDL
Der Suhrkamp-Verlag hat sich ein neues
Haus gebaut. Es steht in Berlin an einer
geschichtsträchtigen Ecke, die schon
von weitem ziemlich gegenwärtig ist.
Es ist laut. DerVerkehr tost, die Cafés
und Craft-Beer-Lokale sind voll. Nur
beim Blick von derTerrasse im obers-
ten Stock sieht die Stadt beschaulich aus.
DerRosa-Luxemburg-Platz, dieVolks-
bühne. Im Hintergrund der Alexander-
platz mit demFernsehturm.
Beton und Glas, wie auch das neue
Suhrkamp-Gebäude, das einen heim-
lichen Star hat. Eine hölzerneTr eppe,
die sich von unten bis oben windet. Statt
einem Geländer nur Bücher.Viele Qua-
dratmeter Bücher. Halt in einem höhe-
ren Sinn, und irgendwo hier stehen auch
dieWerke von MarionPoschmann, die
seit 2010 beimVerlag und an diesem
sonnigen Herbsttag auch hier ist.
Dämmerstundeder Romantik
Das alte Suhrkamp-Haus in der Ber-
linerPappelallee, ein ewiges Proviso-
rium, habe sie gemocht, weil dort frü-
her einmal ihrFinanzamt gewesen sei.
Man war immer sehr freundlich zu ihr.
Poschmann trägt einen schweren Schal,
der zu ihr passt. Und zu einer Literatur,
die immer so wirkt, als käme sie gerade
von draussen. Diese Literatur hatLaub
im Haar.Eskreuchtund fleucht in ihr,
und das nimmt auch die Menschen nicht
aus, die beiPoschmann immer seltsam
klein wirken.Jedenfalls nicht viel grös-
ser als die Natur, die sie umgibt.
In Zürich wirdMarionPoschmann ab
nächsterWoche ihrePoetikvorlesungen
halten und sich dabei auf listigeWeise
dreiTieren widmen. Dem«Wappentier
Qualle», der«Wolfskrankheit» und dem
«SchafderVernunft».
Den Schlaf derVernunft, der be-
kanntlich Ungeheuer gebiert,kennen
wir.Aber was gebiert das Schaf derVer-
nunft? Noch mehr vernünftige Schafe?
Rund um Berlin, wo MarionPoschmann
seit langem lebt, kann man dieTotem-
tiere ihrer Dichtung oft sehen. Sie ste-
hen in den BrandenburgerWiesen. Die
Autorin ehrt sie sogar mit einem eigenen
Band: «Grund zu Schafen». Das klingt
einfach, ist aberkompliziert, weil vieles
beiPoschmann nicht ist, was es zu sein
scheint. DieDämmerstunde derRoman-
tik spielt in ihren Büchern eine grosse
Rolle. Das Zwielicht und das Spiel aus
Licht und Schatten. Und derWitz.
Ihr erstes Gedicht hat MarionPosch-
mann zu ihrer Studienzeit in Bonn ge-
schrieben. Es wareinfach da.Abends, als
der Asphalt im Schein derLaternen wie
Wasser glänzte. Es wurde auf einem Zet-
tel notiert und zu Hause mit der Schreib-
maschine abgetippt. Seither sind vier
Romane, vier Gedichtbände und eine
Novelle erschienen.Das Bonn derPop-
pelsdorfer Allee, dieKopfsalatfelder in
Lessenich und dieWaldwege imKotten-
forst liegen weit zurück, weil sichPosch-
mann schreibend längst ganz anderen
Gegenden gewidmet hat.Im Gedicht-
band «GelieheneLandschaften» geht
es in den Bernsteinpark Kaliningrad, in
einen Kindergarten in Lichtenbergund
einen Lunapark auf Coney Island.
Bei aller reflexiven Gelenkigkeit,
die diese Gedichte haben:Das Atmo-
sphärische ist fürPoschmann wichtiger
als das Eindeutige, weiles feine Nuan-
cen hat. Gemeint ist dabei aber nicht
irgendein Stimmungskitsch, sondern es
geht um die subtile Arbeitsweise unse-
res Bewusstseins. «Die grosse Möglich-
keit der Literatur liegt ja darin, über das
scheinbarWirkliche hinauszugehen.Das
nicht Sichtbaresichtbar zu machen»,
sagt MarionPoschmann im Suhrkamp-
Haus, hinter dessen übergrossenFens-
tern man sich kaum gegen die Herbst-
sonne wehren kann.
Literatur sei«Betrachtungskunst»,
sagt MarionPoschmann auch. In einem
Aufsatz ihres Essaybandes «Mondbe-
trachtung in mondloser Nacht».Was sie
schreibt, besteht aus Bildern, deren Be-
schreibungsintensität gleichermassen
konkret wie abstrakt wirkt.Poschmanns
literarische Bilder sagen: «Schau!», und
man kippt vom blossen Schauen ins Er-
kennen und wieder zurück.Poschmann
kann über russische Industrieruinen,
überParkhäuser, japanische Steingärten
oder ein Holundergebüsch schreiben, an
dem eine Plastiktüte flattert. Der Effekt
lässt nicht nach.
Er summiert sich zu einem grösseren
Ganzen. In den kürzesten Gedichten
oder in ihrem grossartigen letztenRo-
man,«Die Kieferninseln», der auf der
Shortlist zum Man Booker International
Prize stand. Gilbert Silvester ist Privat-
dozentaneiner unbedeutenden deut-
schen Universität undhat mit letzter
Kraft einForschungsprojekt überBärte
anLand gezogen.Weil er einemTr aum
glaubt, der ihm sagt, dass seineFrau ihn
betrüge, setzt er sich ins Flugzeug und
fliegt weit weg.NachJapan.Dortkommt
dieser Herr in mittlerenJahren sich nä-
her, indem er fast ganz verschwindet.
In Mythologien und in den Haikus des
DichtersBashō.InTeezeremonien und
beim Kabuki-Theater.
Die japanischen Schwarzkiefernauf
den Kieferninseln sind ein Inbegriff von
Schönheit, «wie vomWindgekämmte
Gedanken». Wilde Gedanken. Weil
bei der1969 imdeutschen Essenge-
borenen Schriftstellerin die Gedanken
immerwild sind.Weil sie sichdurch
das Dickicht aus Natur und Psycholo-
gie schlagen, bis man eines vom ande-
ren nicht mehr unterscheiden kann.
Marion Poschmann sucht die Sedi-
mente der Empfindungen, um sie beim
Schreiben noch einmal neu aufeinan-
derzuschichten.
Schürzenwie Leichentücher
Wenn Marion Poschmann über ihre
Kindheit erzählt, dann auch über die frü-
henVersuche, sich selbst in dieWelt hin-
einzubuchstabieren.Aus Kindersendun-
genkennt sie das Alphabet, malt es ab
und findetunter Anleitung der Mutter
heraus, wie die Buchstaben in denWör-
tern zusammenhängen.Weil das her-
anwachsende Kind nicht weiss, was es
lesen soll, und in der örtlichen Biblio-
thekdie Bücher nur nüchtern alphabe-
tisch nebeneinanderstehen, besorgt es
sich einenRomanführer und beginnt
mit Dostojewski. Irgendwann müssen
noch dieRomantiker dazugekommen
sein.Vielleicht war eine schiefe prole-
tarischeRomantik in derRuhrpottstadt
Essen ja auch immer schon da.
Nur dass der Nebel dort Smog hiess.
Dass die Schule ausfiel und man im Haus
bleiben musste, wenn er zu stark war. Für
den Bronchialkatarrh derKohlearbei-
terkinder gab esKuren in Mülheiman
derRuhr.Dampfende Solebäder und
einen Nebel, der so dicht war, dass man
sich selbst nicht mehr sehenkonnte. Man
musste Schürzen tragen.«Wie Leichen-
tücher», sagtPoschmann.
Esgibt einen wunderbarenAufsatz
von ihr zumThema Schönheit undTod.
Er ist allen Übelmeinenden ins Stamm-
buch geschrieben, die dieseLiteratur
bisweilen als Literaturliteratur be-
zeichnen undvor machtlos machen-
der Schönheit warnen: «Der schöneRo-
man»,heisst es da, ziehe dem zweifels-
frei an sich glaubenden Ich «den Boden
unter denFüssen weg.Aber er lässt die-
ses Ich nicht fallen,sondern schweben.»
Marion Pos chmann widmet ihre erst e Poetik-
vorlesun g am 7. November dem «Wappentier
Qualle». Eine Woche später wird sie über die
«Wolfskrankheit» reden. Die dritte und ab-
schlie ssende Vorlesung am21.November han-
delt vom «Schaf der Vernunft». Alle Vorlesun-
gen finden i m Literaturhaus Zürich statt,
jeweils 20 Uhr.
Licht und Schattensind in MarionPoschmannsBüchernzentral. SILAS STEIN / DPA / KEYSTONE
Jetzt beginnt das Abenteuer
Paavo Järvi eröffnet einen grossen Tschaikowsky-Zyklus mit dem Tonhalle-OrchesterZürich – und mit erst en klaren Weichenstellungen
CHRISTIAN WILDHAGEN
Wer Wind sät, wird Sturm ernten – so
weiss es bereits das AlteTestament.Und
so tat esPaavo Järvi, der soeben erfolg-
reich bestallte Musikdirektor desTon-
halle-Orchesters Zürich: Er säteWind
und öffnete auch gleich noch die ima-
ginärenFenster desKonzertsaals, um
die frische Luft einer neuen Zeit her-
einwehen zu lassen in die derDurch-
lüftung und Erfrischung überaus bedürf-
tigeTonhalle Maag.
Järvi tat es am Mittwoch wortwört-
lich: mit dem 20 15 von ihm inParis ur-
aufgeführten Stück «Sow theWind...»
seines estnischenLandsmannes Erkki-
SvenTüür, der während derKonzert-
saison 2019/20 den «Creative Chair» der
Tonhalle innehat. Knapp zwanzig Minu-
ten langentfachtTüürsTongemälde aus
anfänglichem Säuseln undWehen einen
veritablen Höllensturm:Dabläst und
tost es, dass der Saalboden vibriert; da-
zwischen aber vernimmt man das Sum-
men von riesigenBienenschwärmen,
ein GlucksenvonwildenBächen, ein
Oszillieren des Lichts in zerzausten
Baumkronen, wie man es aus den bes-
ten Naturmusiken derRomantikkennt.
Und prompt ist danach die Atmosphäre
imRaum wie ausgewechselt. Hört doch,
scheintJärvi dem verdutzten Publikum
zuzurufen: So aufregend, so beredt kann
zeitgenössische Musik klingen!
Järvi lüftetbei den jüngsten beiden
Konzerten, seinem zweiten und dritten
Programm seit Amtsantritt, freilich auch
im übertragenen Sinne gründlich durch.
Und zwar von Anfang an.Dagibt es
kein Zögern,kein behutsames Abtasten
der Möglichkeiten; das Orchester und
sein neuer Chefkennen sich bereits seit
gut einemJahr – entsprechend geht es
in mediasres. Schon amFreitag vergan-
generWoche,beiPeter Tschaikowskys
grosser Orchesterfantasie «Francesca
da Rimini», die den furiosenAuftakt
bildete für einen Tschaikowsky-Schwer-
punkt, in dessenRahmen unter anderem
alle sechs Sinfonien aufgeführt und mit-
geschnitten werden sollen.
Euphoriedes Anfangs
Auch in dieser ausladendenTondich-
tung nachDantes «GöttlicherKomö-
die» stürmt es infernalisch –kein Zufall
gewiss, wenn manJärvisraffinierte Pro-
grammkonzeptionen an früherenWir-
kungsstättenkennt. Und auch hierregen
sich zwischendrin lieblichereTöne, die
das Orchester mit lange so nicht mehr
gehörter Klangsinnlichkeitauskosten
darf. Järvi belebt und aktiviert quasi mit
dem erstenTaktdas gesamteAusdrucks-
und Dynamikspektrum: vom Pianissi-
mo-Hauchbis zum druckvoll-gestütz-
ten dreifachenForte, und schlagartig
wirkt es, als sei der gräuliche Schleier,
der sich nach und nach über den edlen,
warmen Klang desTonhalle-Orchesters
gelegt hatte, buchstäblich weggeblasen.
Mitunter geht dieserAnsatz, der den
Klangraum bis in dynamische Extreme
auslotet, sogar über die akustischen
Möglichkeiten der Maag-Halle hin-
aus.Womöglich hatJärvi dabei grössere
Säle wiedie Pariser Philharmonie (wo er
lange gewirkt hat) oder bereits die his-
torischeTonhalle im Sinn, wohin man
im März 2021 gemeinsamzurückkehren
will. Der leichte Überschwang,der sich
in beidenKonzerten manifestiert, ist si-
cher auch dem euphorischen Geist die-
ser Anfangszeit geschuldet, in der das
Orchester spürbar jede Erinnerung an
die vergangenenKrisenjahre vergessen
machen will.
Zugleich hat die Intensität, mit der
hier gemeinsam musiziert wird, etwas
unmittelbarMitreissendes.Daskommt
einem oft geschundenenWerk wie
TschaikowskysVierter zugute. Deren
stilistische Gegensätze zwischenTr a-
gik,Fatalismus, Tanz- und Zirkusmusik
mildertJärvi nicht etwa ab, erkostet
sie in ihrer ganzenWidersprüchlichkeit
aus. Das ist ein Drahtseilakt, denJä rvi
aber mit einer aussergewöhnlich klaren
Formdisposition und deutlich unter-
schiedenen, meist straffenTempi meis-
tert. Zudem lässt er die einzelnen Sätze
ohne längereRäusperpausen aufeinan-
derfolgen.Dahinter steht offenkundig
die Idee einer übergreifenden sinfoni-
schen Erzählung, die dasWerk als Ein-
heit fassbar macht.
Besonders bezwingend gelingt dies
bei Tschaikowskys «Pathétique», die
das Mittwochskonzert beschliesst. Über
die nahezu ohne Unterbrechunginein-
andergreifenden vier Sätzespannt sich
ein atemberaubender Bogen – von der
requiemartigen Einleitungbiszumver-
löschendenHerzschlag-Pulsieren der
Bässe am Schluss desFinales. Dazwi-
schen schillert die Musik in ihrer gan-
zen Ausdrucksfülle:leidenschaftlich,
doch immer vorwärtsdrängend das Rin-
gen imKopfsatz; von kantabler Eleganz
der ebenfalls sehr fliessende 5/4-Takt-
Walzer des zweitenSatzes; mit beein-
druckenderVirtuosität zum (voreili-
gen)Tr iumph gesteigert der Geschwind-
marsch des dritten.
Gleichwohl meidetJärvi die beidie-
semautobiografischkonnotierten Opus
ultimum übliche Ergriffenheitsgeste
und jeglicheLarmoyanz.Vielmehr setzt
er dem Schicksalsraunen nicht zuletzt
klanglich klareVorgaben entgegen:
einerseits einen herrlich aufblühenden,
aber bis insVibratokontrollierten Strei-
cherton; andererseits ein ungewohnt,ja
manchmal irritierend scharf akzentuier-
tes Blech, das jede Idylle – wie später
bei Schostakowitsch – bedrohlich durch-
kreuzt. Straff und unerbittlich führtJärvi
damit seine Erzählung bis zum bitteren
Ende und lässt das Publikum zunächst
in atemloser Stille zurück, bevor sichJu-
belBahn bricht.
Kaffeehausund Konzert
Abgerundet wurden beideKonzerte
jeweils durch solistischeWerke.Vo r
Tschaikowskys Vierter hauchte der
Schwede MartinFröst dem einst für
Benny Goodmankomponierten Kla-
rinettenkonzert von Aaron Copland
dezent jazzige und impressionistische
Töne ein und begeisterte anschliessend
noch mit einerebenso stilsicheren Klez-
mer-Zugabe. Am zweiten Abend nahm
sich derFinnePekkaKuusisto in Erst-
aufführungen der selten zu hörenden
Humoresken und Serenaden fürVio-
line und Orchester vonJean Sibelius an.
Diese kurzen Stücke,teilweise wäh-
rend des ErstenWeltkriegs zum Brot-
erwerb entstanden,sind Nebenwerke –
wie BeethovensViolinromanzen–zum
grossen Solokonzert. Knapp, lakonisch,
skizzenhaft. DochKuusisto macht dar-
aus mit geigerischerFinesse und souve-
räner Selbstironie Kabinettstückeeiner
reizvoll zwischen Kaffeehaus undKon-
zertsaal changierenden Unterhaltungs-
musik.Järvi und die feinsinnig beglei-
tendenTonhalle-Musiker greifen diesen
Ton mit Humor und Charme auf. Mehr
frischerWind ist am Beginneiner Ära
kaum denkbar.