LITERATUR UND KUNSTLSamstag, 2. November 2019 Samstag, 2. November 2019 ITERATUR UNDKUNST
INTERNATIONALE AUSGABE INTERNATIONALE AUSGABE
Seit den frühen fünfzigerJahrenreise ich
nach Spanien.Das bedeutet ein enormes
Reservoir an Erinnerungen.Wie könnte
ich darin eine erste wiederfinden? Ich
weiss nur noch, dass ich über die west-
lichen Pyrenäen gekommen war. Jedoch
war damals jene Abteilung,die sich da-
mit beschäftigt, Eindrücke in das zu ver-
wandeln, was dereinst unser Gedächtnis
sein wird, zu sehr in Beschlag genommen
von denen, die mich mitfahren liessen.
Nunkönnte ich sagen – undwahr-
scheinlich lügen –, dass dieFarbe dieses
ersten Eindruckes Braun war oderRost-
rot wie getrocknetes Blut, und gleich
stimmt schon gar nichts mehr, denn
im Süden der Berge, die Spanien wört-
lich von Europa abriegeln, ist dieLand-
schaft zuerst noch grün, von jenerFarbe
also, die ein sicheres Mass an Üppig-
keit undFruchtbarkeit suggeriert. Die
Farbe ist verwandt mit demLand, aus
dem ichkomme, während dieFarbe, die
ich nun, nach all denJahren undReisen,
noch immer mit Spanien inVerbindung
bringe, Braun ist, das kärgliche,ausge-
laugte Braun der «meseta», der spani-
schen Hochebenen.
Es ist dies dieraueLandschaft, die
fürmich,ob zuRechtoder nicht, das
Wesen des spanischen Charakters aus-
drückt, das, was man sieht, wenn man
von Amsterdam nach Madrid fliegt. Zu-
erst das helle heimatliche Grün derPol-
der, die dem Meer abgerungen wurden,
danach das dunklere GrünFrankreichs,
wo dieWälder noch zahlreich sind, spä-
ter die grosseTr ennmauer der Berge, be-
tont durch die blendend weissen Schnee-
gipfel, und bald danach dieFarben von
Spaniens Erde, wo die erstenWüsten-
töne sichtbar werden, Sandfarbe, die zwi-
schen den Pflanzen hindurchschimmert,
die man allerdings in wirklichenWüsten
gerade nicht antreffen würde.
Seit diesem ersten Malkomme ich
nun schon mehr als sechzigJahre nach
Spanien, inzwischen musste ich meine
Ansichtenüber dasLand schon hun-
dert Mal anpassen, weil sich auch seine
Geschichte seither bald schneller, bald
langsamer und darum auch seineFarbe
verändert hat.Das erste Mal kam ich als
jemand,der Krieg und deutsche Beset-
zung erlebt hatte. Francos Soldaten tru-
gen noch immer deutsche Stahlhelme,
das rief die Erinnerung wach.Jedoch
passte das Braunihrer Uniformen aus-
gezeichnet zu dem spanischenFarben-
spektrum, streng und hart, und dann
auch wieder zu dem, was ich über den
Bürgerkrieg zu wissen glaubte, oder zu
den Bildern ausFilmen, die ich über
Schlachten undTr uppen in gerade die-
senLandschaften gesehen hatte.
Psychologische Kenntnis
Denn einst, das hattest du in der Schule
gelernt, war auch deinLand besetzt ge-
wesen: von Spaniern. Jedoch wusstest du
damals noch nicht, dass dieseTr uppen
zum grösstenTeil nicht aus Spaniern be-
standen, sondern aus einem bunten Hau-
fen angeheuerter und bezahlter Söldner.
Man erzählte dir von demgrausamen
Herzog vonAlba und seinem Blutgericht,
aber nicht, dass du dereinst mit einem
Nachfahren des Herzogs, der deinVer-
leger geworden war, durch den Madri-
derPalacio de Liria gehen und die Bilder
betrachten würdest, die noch immer dem
Hause Alba gehören. Und ebenso wenig
wusstest du, dass der Oberbefehlshaber
der spanischenTr uppen jener längstver-
gangenenTage der spanischeKönig war,
der als Philipp IV.vonseinemFreund
Velázquez mehrmals porträtiert worden
war, dem gleichenVelázquez, der auch
«Die Übergabe von Breda», den spa-
nischen Sieg und unsere Niederlage so
strahlend gemalt hatte.
Später würdest du in Manuel Rios
Mazcarelles Buch «La Casa deAus -
tria. Una dinastia enferma» (Das Haus
Österreich. Eine kranke Dynastie) le-
sen, dass dieserKönig, den du aufgrund
der meisterhaftenPorträts für so mäch-
tig gehaltenhattest, so mächtig gar
nicht war, dass er gerade wie seinVater,
Philipp Nummer III, zwarregierte,aber
eigentlich fast nichtregierte, stattdes-
sen mit einer heiligen Nonnekorre-
spondierte und die Herrschaft wie das
Kriegsgeschäft lieber seinem Mentor
überliess, dem ebenfalls vonVelázquez
porträtierten Herzog von Olivares.
Velázquez musste eine unfehlbare
psychologischeKenntnis haben, nicht
nur seinesKönigs, der den Krieg von
seinemVater undseinem Grossvater
geerbt hatte, aber auch der Menschen,
die ihn umgaben,gleichgültig ob Zwerge
und Narren oder adlige Berater wie Oli-
vares. Es genügt ein einziger Blickauf
dasPorträt dieses Olivares und darauf,
wie der Hofmaler ihn gesehen hat, um
die wahren Machtverhältnisse am spani-
schen Hof zu verstehen.Daist nicht nur
die geballte Macht in seinem Gesicht, da
sind auch die Schatten,die seineFüsse
und Beine auf den Boden werfen, wo
er steht.Das ist nurein Detail, aber ein
wohlbedachtes. So steht nur einer, der
dieRebellen imKönigreichkontrolliert
und die Macht auch ausübt im Namen
seinesFreundes, desKönigs.
Es waren schwierige Zeiten für Spa-
nien. Ein endloser Krieg, der noch in
meinerJugend jedem Kind als der acht-
zigjährige bekannt war;ein Krieg,der die
Niederlande entstehenund Spanienun-
geachtet des unermesslichen, aber infla-
tionärenReichtums aus denKolonien
verarmen liess; ein Krieg, der in den
Niederlanden fortlebt inFiguren wie
Philipp II. oder Herzog von Alba oder
in Schlüsselereignissen wie der Silber-
Mein Spanien
leuchtet
in vielen Farben
Spanisch habe ich auf der Strasse gelernt, und das
alte Spanien habe ich in nächtlichen Gassen en tdeckt.
Die Seele des Landes un d ein Stüc k von mir selber
aber fand ich in den Gemälden der alten Meister.
Von Cees Nooteboom
Die Anmut des Schwans verwandelt sichineine zugleichverängstigte wie wütende Raserei.JanAsselijn: «Der bedrohteSchwan»,um1650, Öl auf Leinwand (144×171 cm). RIJKSMUSEUM AMSTERDAM
Rembrandt
neben Velázquez
rbl.·Das Amsterdamer Rijksmuseum
inszeniert derzeit ein niederländisch-
spanisches Gipfeltreffen. Als Hommage
an dasvor 200 Jahrengegründete Prado-
Museum in Madrid zeigt es rund sechzig
Werkeniederländischer und spanischer
Meister aus dem17.Jahrhundert, allen
voran Bilder vonRembrandt undVeláz-
quez sowie von Murillo, Hals, Zurbarán
undVermeer. DieAusstellung dauert bis
zum19.Januar.
Der vorliegende Text des niederländischen
Schriftstellers Cees Nooteboom erschien als
Beitrag im Katalog zu der Ausstellung. – Aus
dem Niederländischenvon rbl.
flotte von Piet Hein, der Enthauptung
von Egmont und Hoorne,der Belage-
rung von Leiden, der spanischen Brand-
schatzung, vor allem aber in der geheim-
nisvollen Zeile unseres psalmenartigen
langenVolkslieds, in dem wir singen, dass
wir denKönig von Spanien immer geehrt
hätten, wo wir doch fast einJahrhundert
lang mit ihm und seinen Nachfolgern um
unsere Unabhängigkeitrangen.
Die Begegnung mitdem Wort
Was ging mir von all dem durch den
Kopf, als ich1954 zum ersten Mal durch
Spanien trampte?Vielleicht wäre, denke
ich nachträglich, der Schock weniger
gross gewesen, wäre ich nicht katholisch
gewesen und nicht auch noch in einer
Klosterschule von Mönchen erzogen
worden, die ich nun in Spanien einfach
auf der Strasse herumlaufen sah:Fran-
ziskaner. SpanischenFreunden fällt in
den Niederlanden immer auf,dass die
Kirchen gross wie Kathedralen sind,
aber ohne Bilder, und dass die Kirchen,
gerade weil sie so gross und mächtig
sind, umso stärker dasFehlender Bil-
der bemerken lassen.Auch der Altar
steht nicht mehr an seinem Platz, und
die Beichtstühlesindverschwunden.
Im frei gewordenenRaum, der aus-
sieht wie Leere, istnun der Ort desWor-
tes, aber dasWort an sich ist unsichtbar,
man kann es nicht anbetenwie ein Hei-
ligenbild, man muss darauf hören oder
es aussprechen, und einmal ausgespro-
chen, galt es zur Zeit des Krieges als
ketzerisch und alsRebellion gegen die
fremde Herrschaft. Nirgendwokommt
di esdeutlicher zur Geltung als in der
geometrischen Leere von Pieter Saen-
redams Kirchen.
Die Heiligen hatten zwischen den
Menschen und Gott vermittelt und
brachten sie dem Heil näher. Nun waren
sie verschwunden, ein wütender Sturm
hat sie als Götzen, die einen von dem
einzigen Gott fernhielten, aus dem Got-
teshausgejagt.WerdasWeisseals Ab-
wesenheit vonFarbe definiert undFarbe
alsVerzierung und damit als Zerstreu-
ung, der gehört hierhin.
Es sind helleRäume, ohne die Ablen-
kung durch Heiligenbilder mit ihren Ge-
schichten und den dazugehörigen Ge-
sichtern, den bald theatralischen, bald
beiläufigen Gesten von Anbetung oder
Unterwerfung, ohne die Legenden von
Martyrium und Demütigung,keine Er-
zählung soll den Geist verführen, in die-
semRaum zählt allein die Begegnung
mit demWort, das in dem leerenRaum
nachhallt alsWort der Bibel, die Gott
selbereingegeben hatte.
Was für ein grosser Unterschied zwi-
schen Saenredams Kirchen und einer
Kathedrale in Burgos oder Sevilla: das
Weisse und Stille eines auf seine Essenz
reduziertenRaumes hier, Gold und
Weihrauch da. Mit den Heiligen ver-
schwand auch das Gregorianische, doch
die Sinnlichkeit lateinischer Gesänge
warkein Ersatz für die Sinnhaftigkeit
der muttersprachlichenWorte.
In Saenredams Kirche sind dieVor-
steher derTuchmacherzunft zu Hause
mit ihren schwarzenRoben und den
weiss leuchtenden Beffchen oder die
ebenso strammenVorsteherinnen des
Haarlemer Oude Mannenhuis, aberkein
Heiliger wie Ambrosius mit dem bro-
katverziertengoldenenGewand,auch
wenn sein Gesicht nicht weniger ernst
und weltfern ist als jenes derVorstehe-
rinnen.Was würde geschehen, wenn man
ihm das goldene Gewand nähme und ihn
schwarz kleidete wie die Zunftmeister?
Hieronymus Bosch imPrado
Wie kommt es,dass ich in Spanien über
solche Dinge nachzudenken beginne?
Philipp bekämpfte dieKetzer und Cal-
vinisten im Norden. Dieser Norden ge-
hörte zu seiner Herrschaft, und alstief-
gläubiger Katholik aus Kastilien war er
fest entschlossen, diese neue Lehre in
seinemReich nichtzudulden. Es ging
ja nicht nur umReligion, sondern auch
um Herrschaft und politische Macht, der
unverhohleneAufstand in den Nord-
provinzen war ein unerhörter Angriff
auf die bis dahin absoluteRegentschaft.
Bei meinem ersten Besuch im Prado
hatte ich Zeit, über all das nachzuden-
ken. Fiel mir damals auch noch der acht-
zigjährige Krieg ein? Nein,er war weit
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