Neue Zürcher Zeitung - 02.11.2019

(Grace) #1

LITERATUR UND KUNSTLSamsta g, 2. November 2019 Samsta g, 2. November 2019 ITERATUR UNDKUNST


INTERNATIONALE AUSGABE INTERNATIONALE AUSGABE


DichteWohnformeninSiena, gesehenvon derTorre del Mangia mitAussichtüber dieDächer der Altstadt. IMAGO

Für eine


dauerhafte,


dichte und


sparsame


Architektur


Mit langlebigen Häusern würdigen Städtebauer


nicht nur die Traditionen der Vergangenheit.


Vielmehr zeigen sie mit solchen Bauten Respekt


für die kommenden Generationen. Ein Plädoyer.


Von Vittorio Magnago Lampugnani


Zu den abgedroschensten Klischees, die
so gut wie jedes zeitgenössischeBau-
vorhaben bemüht, gehört die forsche
Selbstauskunft, es sei nachhaltig. Doch
wenn Nachhaltigkeit bedeutet, beim Er-
füllen der Bedürfnisse unserer Genera-
tion die Möglichkeiten künftiger Gene-
rationen nicht zu beeinträchtigen, haben
Architektur und Städtebau kaumVeran-
lassung, sich mit dem Attribut zu schmü-
cken. Die Bauwirtschaft verbraucht
weltweit immens viel Material und
Energie, produziert Berge von teilweise
hochgiftigem Abfall und ist für über die
HälftejenesAusstosses vonTreibhaus-
gasen verantwortlich, der unser Klima,
unsere Erde,unsere Existenz und unsere
Zukunft bedroht.


Langlebigkeit


als ökologische


Strategie


Wie lässtsich dieseUmweltbelastung
reduzieren? Unteranderem und viel-
leichtvor allem durch langlebige Ge-
bäude. Je länger ein Haus hält, desto
ökonomischer sind seineRessourcen
eingesetzt. Es verbraucht imVerhält-
nis zu seiner Nutzung in der Zeit weni-
ger Material, benötigt weniger Ener-
gie beim Abriss und erzeugt weniger
Abfall.Dafür muss es freilich dauer-
haft sein. Es muss sokonstruiert sein,
dass es ohne besondere Pflege lange
hält; mit einerTechnik ausgestattet
sein, die nicht schnell überholt ist oder
mitgeringemAufwandausgewechselt
werden kann; räumlich hochgradig
zweckmässig organisiert sein und zu-
gleich offen genug, um Nutzungsände-
rungen geschmeidig aufzunehmen;
nicht modischgestaltet sein, sondern


in einer substanziellen, klassischen
Ästhetik, deren man nicht überdrüs-
sig wird. Das verlangt vom Architek-
ten besonderes baumeisterlichesKön-
nen. Zugleichverlangt es vomAuf-
traggeber eineWeitsicht und ein En-
gagement, die über das Gewöhnliche
hinausgehen: Denn er muss bereit sein,
etwas mehr zu investieren als das, was
ein zerbrechliches, dünnhäutiges Ge-
bäudekosten würde, und sein Haus
regelmässig unterhalten.
Beide müssen den Alterungspro-
zess in das Bauprojekt einbeziehen:
Der Architekt, indem er Benutzungs-
spuren undPatina zu Entwurfselemen-
ten macht, die derBauherr seinerseits
nicht als Mängel, sondern als Bereiche-
rung versteht und akzeptiert. Demkom-
men traditionelle, nachhaltigeBaumate-
rialien entgegen:Während eine Blech-
fassade Dellen undRostflecke schlecht
verträgt, wird ein Kalkputz durchAus-
bl eichen und Haarrisse nur lebendiger
undkostbarer.
Die Kurzlebigkeit der heutigen
Architekturen ist allerdings nicht oder
in nurgeringem Mass handwerklicher
Unzulänglichkeit oder bauherrschaft-
licher Knausrigkeit geschuldet, son-
dern eher dem ökonomischen Druck.
Einwandfrei erhaltene, ganz und gar
brauchbare und oftauch schöne Häu-
ser werden abgerissen,ummit Ersatz-
neubauten, wie sie verschämt genannt
werden, ein paar Quadratmeter mehr
auf dem gleichen Grundstück zureali-
sieren – und damit mehrRendite.
Überhaupt gehen die heutigen Ab-
schreibungsmechanismen von der zu-
nehmend raschen Entwertung von
Immobilien aus. Gebäude, die lediglich
eine Modernisierung der Haustechnik
und eineAuffrischung der Innenräume
benötigen würden, um weiterhin taug-
lich zu sein, werden nach fünfzehn oder
zwanzigJahren als wertlos eingestuft und

ohne Not zerstört.Und durchBauten er-
se tzt, die von vornherein als klapprige
Wegwerfarchitekturkonzipiert und mit
einemVerfallsdatum versehen werden.

Kreisläufe sindnotwendig


Den Speisesaal des New College in
Oxford, 1379 gegründet und damiteines
der ältesten der britischen Universitäts-
stadt, überspannt ein riesigerDachstuhl
aus gewaltigen Eichenbalken, 60 auf 60
Zentimeter stark und über 13 Meter
lang. Um1860 stellte man fest, dass die
Holzkonstruktion von Insekten befal-
len war und ersetzt werden musste. Das
warf das Problem auf, eine beträcht-
liche Anzahl von ausserordentlich gros-
sen Holzbalken zu beschaffen. Zunächst
erschien es aussichtslos. Dann erinnerte
man sich daran, dass das CollegeLän-
dereien besass, und man fragte beim
Förster an, ob er dort ausgewachsene
Eichenbäume habe.
Die gelassene Antwort lautete, es
gebe davon einen ganzenWald, 500
Jahre zuvor eigens dafür angelegt, Holz
für den Ersatz desDaches vorzuhalten.
Die damaligen Erbauer hatten bereits
den Zerfall vorgesehen und dieWieder-
herstellungdes Dachstuhls vorbereitet.


  • Diese Geschichte ist in weitenTeilen
    erfunden. Gleichwohl ist sie eine wun-
    derbareParabel für das Planen lang-
    lebigerBauten und für nachhaltiges
    Denken im umfassendsten Sinn.Frei-
    lich hat dieDauer vonBauten, selbst
    dann, wenn sie solidekonstruiert, neu-
    tral organisiert und zeitlos gestaltet
    sind, Grenzen. Diesekönnen zuguns-
    ten einer längeren Lebenszeit verscho-
    ben werden: indem man die Gebäude
    neuen Bedürfnissen und Bedingungen
    dadurch anpasst, dass man sierepariert,
    umbaut und verändert.
    Tatsächlich ist es meist unkomplizier-
    ter, schneller und billiger, etwas Neues


abs eits von etwas Altem zu bauen,als
das Alte zurenovieren oder zu ergän-
zen. Nicht zufälligstehen vor allem im
suburbanenRaum immer wieder Häu-
ser, Fabrikanlagen, Lagerhallen leer und
werden einem mehr oder minderkon-
trolliertenVerfall preisgegeben, wäh-
rend daneben Neubauten für genau den
gleichen Zweck aufgerichtet werden.
Die baurechtlichen und steuerlichen
Mechanismen, die dies ermöglichen und
sogar befördern,sind ungleich obsole-
ter als dieBausubstanz, die sie aufzu-
geben veranlassen: Denn sie berück-
sichtigen nicht den Bodenverbrauch, die
Ressourcenverschwendung und die Um-
weltbelastung. Sie müssenradikal aktua-
lisiert werden.

Reparieren, umbauen


Gleichermassenrevisionsbedürftig ist
die Haltung der Gesellschaft und des
Berufsstands gegenüber derWieder-
verwendung von alterBausubstanz: Sie
gilt gemeinhin als zweitbeste Lösung
gegenüber einem Neubau und als un-
liebsame Pflichtübung. Dabei hat der
Umgang mit Bestehendem in Archi-
tektur und Städtebau brillante histori-
scheVorbilder. Die grossenBautender
Vergangenheit, die Kirchen, Schlösser
undPaläste, waren fast immer Gemein-
schaftswerke, an denen unterschiedliche
Architekten unterschiedlicher Genera-
tionen nacheinander und jeweils auf
dasWerk desVorgängers aufbauend
gearbeitet haben, meistens für unter-
schiedlicheBauherren.
Zu den erstaunlichstenBeispielen ge-
hört dieBasilika von SanktPeter inRom,
an deren Neubau weit über einJahrhun-
dert lang geschaffen wurde und zu der
Baukünstler desRangs von Donato Bra-
mante, Giuliano und Antonio da San-
gallo, BaldassarrePeruzzi, Michelan-
gelo Buonarroti, GiacomoBarozzi da

Vignola,Gian Lorenzo Bernini undFran-
cesco Borromini beitrugen – mehr oder
minder einvernehmlich.Auch moderne
Architekten wie KarlFriedrich Schinkel
und Walter Gropius standen nicht an, Be-
stehendes zu übernehmen und zu über-
formen:ErstgenannterbeimPalais Re-
dern in Berlin von1830 bis1833, Letzt-
genannter beimTheater inJena von 1921
bis 1922, beides Umbauten.Wir sind gut
beraten, an diese nobleTradition anzu-
knüpfen und im Umgang mit Bestehen-
demkeine Einschränkung undkeinen
Notbehelf zu sehen, sondern eine Her-
ausforderung, die besonders vielKönnen
und Kreativität verlangt.
Auf dieseWeise kann die ökologische
Forderung nach langlebigen Bauten
eine kulturelleKomplexität und Dichte
wiederaufleben lassen, die in unserer
schnelllebigen Zeit verloren zu gehen
droht. Sie kann jeneDürftigkeit vieler
zeitgenössischer Architekturenablösen,
die, zu eilig entworfen und gebaut, sich
hinter ihren oberflächlich einnehmen-
denFassaden unweigerlich als dünn wie
hochvergrösserte Modelle entpuppen.
Und zueiner Erneuerungim Bauen füh-
ren, die nicht schlauenVermarktungs-
tricks oder individuellen Eitelkeiten ge-
schuldet ist, sondern einerrealen und
gemeinschaftlich getragenen Notwen-
digkeit: der Schonung unserer Erde.

Dichte heisst


zusammenrücken


Unsere wohl wichtigsteRessource ist
die Landschaft: der Ort unserer Lebens-
mittelproduktion, unserRohstoffliefe-
rant, unser Erholungsraum, aber auch
ein wichtiges Stück unserer Geschichte,
unsererKultur und unserer Identität.
Das Bauen bildet die unmittelbarste

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