LITERATUR UND KUNSTLSamsta g, 2. November 2019 Samsta g, 2. November 2019 ITERATUR UND KUNST
INTERNATIONALE AUSGABE INTERNATIONALE AUSGABE
Die Anmut des Schwans verwandelt sichineine zugleichverängstigte wie wütende Raserei.JanAsselijn: «Der bedrohteSchwan»,um1650, Öl auf Leinwand (144×171 cm). RIJKSMUSEUM AMSTERDAM
weggerückt, ich hatte genug zu tun mit
allenneuen Eindrücken.Das Spanien
des längst vergangenen Krieges be-
stand nicht mehr, ich musste für mich
ein neues Spanien erfinden, ich sah Bil-
der von strengen Mönchen in strengen
Klöstern, Herrscher hoch zu Pferd, ge-
marterte Heilige, die nackte Essenz ele-
mentarer Stillleben, gepuderte Gesich-
ter der von Goya gemalten Bourbonen,
aber auch seine schneidendenRadie-
rungen vom Krieg.
Nur war das längst ein anderer
Krieg geworden, das war nicht mehr
der unsere, der fast einJahrhundert ge-
dauert hat.Vor allem aber sah ich das
Museum selbst, die Macht des Gebäu-
des, die hohenRäume, dieVielfalt der
Exponate, das war in sich selbst schon
eine Herausforderung, als müsste man
einen Gipfel erklimmen.
Aber wenn ich es mir nun überlege,
war der erste Eindruck dann doch ein
anderer, es warein niederländischerMa-
ler, der mich in jenenTagen am meisten
beschäftigte: Hieronymus Bosch. Ist das
wahr? SechzigJahre später bat mich der
Prado, an einem Dokumentarfilm über
Bosch mitzuwirken. In «Eine düstere
Vorahnung», dem Buch, das ich danach
dem Malerwidmete,zitierte ich gleich
zu BeginnRolandBarthes, der einmal
gesagt hatte, eskönnekeine einzige Er-
innerung wahrheitsgetreu wiederge-
geben werden, immer stehe uns etwas
imWege, wir verwandeln unsere Erin-
nerungen, wir schmücken sie aus, lügen,
ohne es zu wissen, manipulieren, was wir
für unser Gedächtnis halten, beschrei-
ben eineWahrheit, die es nie gegeben
hat, und leben damit weiter.
Würde mich jetzt jemand nach meinen
Assoziationen zum Prado fragen, würde
ich vielleicht etwas über die Stillleben
von Meléndez oder Cotán sagen, über
dierätselhaften «Las Meninas»,die ich
immer zuerst aufsuche, oder über den so
ganz anderen Maler, der Murillo war, auf
jedenFall aber würde ich über Zurbarán
und Goya sprechen.Warumalso Bosch
beim ersten Besuch?Weil er aus’s-Her-
togenbosch kam, aus derProvinz Bra-
bant, wo auch meine Eltern herkamen?
Ich glaube nicht. Es müssen Boschs
seltsameVisionen gewesen sein, seine
Phantasie erregte mich, sie schien mir da-
mals so modern, ein Mann mit Schweins-
kopf und darauf eine Eule, ein Priester,
der in einem blauen Buch mit hingetupf-
ten Goldlettern las und davoreinen
albernen Kneifer auf seinem schmalen
Hundekopf mit deutlich gemalterTon-
sur,die mich an die Mönche in meinem
Internat erinnerte. Das hatte mit der nie-
derländischen Malerei, die ich damals
kannte,überhaupt nichts zu tun, aber
ebenso wenig mit der so ganz anderen
Heftigkeit der spanischen Malerei im sel-
ben Gebäude, auch wenn es bei dem pro-
minenten Platz, den sie dem Niederlän-
der einräumten,schien, dass die Spanier
Bosch für sich gekapert hatten.
Für Zurbaráns mystische Strenge
hatte ich dasAuge noch nicht, das kam
erst später, in Guadalupe oder Sevilla,
und auchnicht fürseine Mönche, die gli-
chen noch zu sehr den Mönchen mei-
ner Klosterschule, ausserdem hatte ich
wohl noch kaum über alle dieZusam-
menhänge nachgedacht.
Ein verschwundenes Land
Madrid war aufregend, Getränkekos-
teten nichts, ich sah überall das andere,
Fremde, wasich nicht kannte.Wenn ich
nachts in der stillen Strasse,wo meine
Pension war, in die Hände klatschte,
kam ein Mann heraus mit einem Schlüs-
selbund und liess mich herein, den
«sereno» gibt es heute auch nicht mehr.
Und vielleicht liegt darin das Problem
mit den frühen Erinnerungen.Hinter
meinem heutigen Blick ist dieser ge-
heimnisvolle Nachtwächter ausgelöscht,
so wie die alteFrau verschwundenist,
die abends durch das Stadtzentrum irrte
mit ein paar Puten, die man kaufen und
schlachten lassenkonnte, oder auch die
altenFrauen, die einzelne Zigaretten
verkauften.
Das Spanien von damals gibt es nicht
mehr, es ist mitFranco verschwunden
und hat einen grossenTeil der sicht-
baren Armut mitgenommen, es ist ein
europäischesLand geworden, es liegt
nicht mehr hinter Schneebergen, es ge-
hört dazu, mit allem, was das bedeu-
tet.Dabei ist es auch einLand mit zwei
Klimazonen geworden, hier die mediter-
raneKüste, da die stets leerer werdende
Mitte, «la Españavacía», die gerade bei
den letztenWahlen wegen der Entvölke-
rung eineso wichtigeRolle spielte.
Aber was stimmt an den Klischees,
die man von einemLand zusammen-
trägt? Die protestantischen Kirchen
in den Niederlanden seien karg und
leer? Aber wie will man die viel älte-
ren schlichten Kirchen und Klöster der
Zisterzienser in Kastilien nennen? Die
waren auch streng, ohne Zierrat, eine
bewusste Kargheit.
In einemFilm, den ich unlängst wie-
dergefunden habe, sah ich die tod-
krankeTeresa vonAvila in einer selbst-
auferlegten Busse durch das kahle kas-
tilische Hochlandreiten und in den lee-
ren, nüchternenRäumen derAdligen
im Licht einer flackerndenKerze über-
nachten. Sie war geradeso schwarz ge-
kleidet, wieVelázquez etwa Doña Anto-
ni a deIpeñarrieta undDonDiego del
Corral in einem strengen, unerbittlichen
Schwarz gemalt hatte,das den weissen
Kragen, die Manschetten und das her-
vorstechende Hosenband von Marten
Soolmans und Oopjen Coppit beiRem-
brandt ostentativ nach südlichem Über-
schwang aussehen lässt.Was ist hier das
Gegenteil von was?
Später erst dachte ich daran,dassich
durch Spanien gereist bin wie einst Sten-
dhal durch Italien oderTurner durch die
Schweiz. AndereTouristen gab es noch
nicht,und die Diktatur erlebte gerade
ihre letztenTage. Ich liess mich von
Lastwagenchauffeuren mitnehmen und
fischte mit ihnen im Guadalquivir nach
Flusskrebsen, die es da nicht mehr gibt.
Es war einLand, das gerade noch ein
wenig in verschwundenen Zeiten ver-
harrte und daran festhielt, solangees
ging,und wo Menschen einem in den
Waggons dritter Klasse ihr mitgebrach-
tes Essen anboten, weil man einFremd-
ling war.Vergangene Zeiten.
Es gibt Gemeinsamkeiten
Im gleichenLand sah ich prachtvolle
Paläste, die es zu Hause nicht gab. Bei so
vielVergangenheit fällt es imRückblick
auch nicht leicht, zu sagen,wann Ver-
änderungen sichtbar wurden. Ich kam
jedesJahr, lernte die Sprache auf der
Strasse und unterwegs, sah neue Zeitun-
gen entstehen, ich lasvon neuen Dich-
tern und Malern, vonRegisseuren wie
Pedro Almodóvar oderKünstlern wie
AntoniTàpies.Aber es gab nochimmer
Klöster und Stierkämpfe, die Sommer
wurden heisser und der Boden trocke-
ner und brauner, dasLand näherte sich
derWüste, oder dieWüste kam, zusam-
men mit den Migranten, insLand,und
noch immer waren Spanier andere Men-
schen als die Niederländer.
Oder etwa nicht? Gehört das auch
schon derVergangenheit an?Könnte es
sein, dass sich dort, wo ich nur Gegen-
sätze sah, auch Übereinstimmungen
verbargen? Gibt es einen substanziel-
len Unterschied in der Intensität, mit
derVelázquez undRembrandt, die fast
Zeitgenossen waren,sich in ihren Selbst-
porträts anschauen? Ist das Genie nicht
machtvoller als die Herkunft?
Wenn ich spanischeFreunde frage,
ob für sie der achtzigjährige Krieg noch
eine Bedeutung habe, lautet die Ant-
wort meistens Nein. Und wenn ich ihnen
erzähle, dass in den Niederlanden mehr
Muslime in die Moscheen gehen als
Christen in die Messe, ruft das bei ihnen
keineVerwunderung hervor.Denn auch
in Spanien schwinden die Gläubigen in
den Kirchen und bröckelt die Macht des
Klerus.Andere Götter haben ihre Stelle
eingenommen:Mobiltelefone, Tablets,
künstliche Intelligenz, Algorithmen. Das
ist in Spanien nicht anders als bei uns.
Ob tatsächlich allmählich alles Eigen-
tümliche,alles Eigene abgeschliffen wird,
wörtlich:die eigene Art – das ist dieFrage.
Erkennt ein Spanier sich noch in Zurba-
ráns Mönchen, in einemPorträt der Mys-
tikerinTeresa vonAvila? Oder, um die
Frage ganz anders und mit Blick in die
Vergangenheit zu stellen:Warum sehe ich
Übereinstimmungen zwischen Zurba-
ráns genialemPorträt des heiligen Sera-
pion und dem dreissigJahre später ent-
standenen «Bedrohten Schwan» vonJan
Asselijn? Der Grundton beider Bilder ist
Weiss, und diesesWeiss lässt die verängs-
tigte wie zugleich wütendeRaserei des
Schwans mit der Ergebenheit des zuTode
gefolterten Mönchskorrespondieren.
Rembrandt wiederum malte sei-
nen SohnTitus als frommen, besinn-
lichen Mönch im Braun derFranziska-
ner-Kutte. Würde dieses Bild in einem
spanischen Kloster auffallen? Ein Hei-
liger, der nach der Legende mit denVö-
geln gesprochenhat, wirdsich von dem
stillenLachen nicht erschrecken lassen,
das doch sein eigenes war. Und hatte
Frans Hals’ «Mulatte» von1627 etwa
nicht lachen müssen über den penetrant
wissenden Blick des Narren Sebastián
de Morra, denVelázquez1644 gemalt
hatte? Hals hatte einen anderen Cha-
rakter alsVelázquez, aber beide ver-
mochten sie den Menschen, die sie mal-
ten, in die Seele zu schauen.
Und worin liegt denn, sieht man ein-
mal ab von Maltechnik und kunsthistori-
schen Einzelheiten, der Unterschied zwi-
schen CarelFabritius’ «Abraham dePot-
ter» undVelázquez’ «Ritter des Ordens
von Santiago»? Doch nicht darin, dass der
eine noch eine Halskrause trägt und der
andere bereitseinen flachen Kragen, der
damalsamspanischen Hof in Mode kam,
so dass derKopf, wie bei denPorträts von
Philipp IV., wie in einer Schale liegt und
darum besser gemalt werden kann?
Velázquez schaute durch die Mode
hindurch, er sah anderes in seinem
Gegenüber, das ihn auch anschaute.
Darumkonnte der Maler den leisen
Argwohn im Blick bemerken und ma-
len und also für alle Zeiten festhalten,
zusammen mit den zwei schlanken gol-
denen Linien auf dem massiven, mäch-
tigen Schwarz seiner Kleidung, die das
Bild luxuriöser erscheinen lässt, der
Niederländer hingegen erzielte dieglei-
cheWirkung mit der doppelt gerollten
Krause, die den stummen Ernst noch be-
tont, umso mehr, als dePotter den Ma-
ler nicht anschaut.
Können wir sehen, was die beiden
Männer glaubten, oder drückt sich in
diesen Bildern eher ihr Status,ihre
Machtposition in der Gesellschaft aus?
Wir sehen nicht bloss, was die Maler
sahen, sondern wie sie schauten. Oder
könnte es sein, dass, wie sie schauten, das
war, was sie sahen, da manche Maler tie-
fer blickenkönnen, als was sich dem ers-
ten Blick zeigt?
Es gibt zwei Bilder, auf denen die
beiden ZeitgenossenRembrandt und
Velázquez nicht nur sich selber, sondern
auch uns anschauen. Selbstporträts, ge-
wiss – doch einanderkonnten sie nicht
sehen. Mitunter möchte man wissen, wie
sie sich gegenseitig gesehen hätten.Was,
wennRembrandtVelázquez hätte ma-
lenkönnen?
Die Magie desSelb stporträts
Und was wäregewesen, wennVelázquez
Rembrandt hätte anschauenkönnen,
wie er Philipp IV. sah?Velázquez gibt
demspanischenKönig ein eher nörd-
lichesAussehen, durch sein Haar schim-
mert es blond wie bei seinen österreichi-
schenVorfahren, daneben sieht der Her-
zog von Olivares wie ein echter Spanier
aus.Vor vielenJahren, es war1981, sah
ich in derFrick Collection ein Selbst-
porträt von Rembrandt. Fünfzigjäh-
rig war ich, und vermutlich zum ersten
Mal wurde mir bewusst, wie geheimnis-
voll die Entstehung eines Selbstporträts
ist.Das Bild ist von1658. Sich so ma-
len zukönnen, ist schonWunder genug.
Aber wie gut muss man sich selberken-
nen, um den späteren Entdeckungen der
Psychoanalyse zuvorzukommen?
Damalsschrieb ich: «Es klingt idio-
tisch, so etwas zu sagen, aber das volle
Verständnis dessen, was ein Selbstporträt
bedeutet, war nie ganz zu mir durch-
gedrungen.Ein Maler malt sich selbst,
aber wie macht er das?Das hat etwas
Grauslichesansich. Die ganze Zeit muss
er sich selber anschauen, bis auf der Lein-
wand vor ihm ein ausFarbe erschaffener
Doppelgängerentstanden ist, der nicht
nur er selbst ist, dem er vielmehr noch
hinzufügt, waserüber sich selbst denkt.»
Spanische Leidenschaften, vielleicht,
und niederländischeVernunft: hier die
extreme Materialität der Stillleben, etwa
die noch immer essbaren Spargeln von
Adriaen Coorte, aberauch dieKonfron-
tation mit der Einsamkeit des Dings an
sich,und da Zurbaráns unvergleichliche
Wasserschüssel. Spanien und die Nie-
derlande, zwei Grossmächte des17.Jahr-
hunderts, die beide einenTeil derWelt
erobertund wiederverloren hatten. Nie
aber werden sie dieKunst verlieren,
die noch heute im Prado und im Rijks-
museum hängt.
Später erst dachte ich
daran, dass ich
durch Spanien gereist
bin wie einst Stendhal
durch Italien oder
Turner durch die
Schweiz. Andere
Touristen gab es
noch nicht.
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