Neue Zürcher Zeitung - 02.11.2019

(Grace) #1

38 SPORT Samstag, 2. November 2019


INTERNATIONALE AUSGABE


Ein Abgeschriebener wird zum Helden

Die ewigen Verlierer der Washington Nationals t rotzen dem schlechten Karma und gewinnen die World Series im Baseball


CHRISTOF KRAPF


Als der Schlagmann des Gegners den
letztenWurf dieserWorld Series ver-
passte, brachen auf der Spielerbank der
Washington Nationals dieDämme. Ste-
phen Strasburgstürmte gemeinsam mit
den Teamkollegen auf dasBaseballfeld
im Minute-Maid-Stadion von Houston
und schrie seineFreude in den texani-
schen Nachthimmel. Soeben hatte er
mit denWashington Nationals das sie-
bente Spiel gegen die Houston Astros
gewonnen und damit dieWorld Series,
die wichtigste Baseball-Meisterschaft
der Welt.
Bis Strasburg am Ziel war, dauerte es
zehnJahre. Im Laufe derKarriere wurde
aus dem Hoffnungsträger Strasburg der
überschätzte Strasburg und schliesslich
der frustrierte Strasburg. Dass er vom
ho chbegabten Pitcher zum Champion
werden würde, daran glaubten immer
weniger Experten.


Das brennende Schiff


Seit Strasburg 2009 im Draft der Ma-
jor League Baseball (MLB) an ers-
ter Stelle von denWashington Natio-
nals ausgewählt worden war, galt er
als jenerWerfer, der die Mannschaft
aus der Hauptstadt zum ersten Meis-
tertitel in der Klubgeschichte führen
sollte. Der Pitcher Strasburg, 31 Jahre
alt, zeigte immer wieder ansprechende
Leistungen, die Karriere war allerdings
auch vonVerletzungen und vomVer-
sagen in den entscheidenden Momen-
ten geprägt. DerTV-Sender ESPN be-
zeichnete ihn als den «am meisten ge-
hypten Draft-Pick der Geschichte»; das
war kein Kompliment.
Ähnlich schwierig wie derWeg von
Strasburg verlief jener derWashington
Nationals– und zwar seit Jahrzehnten.
Vor 50 Jahren als Montreals Expos ge-
gründet und 2005 in die Hauptstadt der
USA verlegt, haftete den Nationals das
Versager-Image an. 50Jahre lang war-
tete die Baseball-Franchise auf den
Einzug in dieWorld Series, länger als
jedes andereTeam in der MLB. So-
wieso schienWashingtonkein guter
Platz fürBaseball zu sein:1924 gewan-
nen die damaligenWashington Sena-


tors dieWorld Series, danach passierte
95 Jahre lang: nichts.
EineDurststrecke von 95 Jahren,
das istBaseball-Folklore inReinkultur.
Die amerikanischenFans lieben Ge-
schichten von jahrzehntelanger Erfolg-
losigkeit, vonRückschlägen, vom gros-
sen Scheitern. Im Mai, als ein Drittel
der Baseball-Saison vorbei war, sah es
tatsächlich danach aus, als würden die
Nationals abermals versagen.
Von den ersten 50 Spielen hatte
das Team nur19 gewonnen,der Pit-
cher Strasburg und die gesamte Mann-
schaft spielten schlecht. Die Fans
waren wie gewohnt frustriert. Die Zeit-
schrift «Sports Illustrated» schrieb an-
gesichts derBaisse überWashington:
«Die Nationals sind wie ein brennen-

des Schiff, das mitten in einem Hurri-
kan gegen einen Eisberg prallt.»
Angesichts der schwachen Leistun-
gen und der vielen Niederlagen geriet
der Sportchef Mike Rizzo in die Kri-
tik. Er hatte vor der SaisonWashing-
tons Superstar Bryce Harper zu den
Philadelphia Phillies ziehen lassen und
die frei gewordenenFinanzen in Pit-
cher investiert. Rizzo verzichtete dar-
auf, jungeTalente zu engagieren.Er ver-
pflichtete stattdessenaltgediente Spieler


  • dasTeam der Nationals hatte in die-
    ser Saison das höchsteDurchschnitts-
    alter der Liga.
    DieWende zum Guten folgte imJuni
    und ist eng mit Stephen Strasburg ver-
    knüpft. EinemTrainer der Nationals
    war aufgefallen, dass Strasburg unbe-


wusst mit Gesten und derKörperspra-
che zeigte, wie er denBall werfen würde.
Für die Gegner, die Strasburg aufVideo
studiert hatten, war er einoffenes Buch.
Zusammen mit demTrainer arbeitete
der Pitcher daran, die Schwäche abzu-
trainieren. Strasburg spielte plötzlich
besser, und auch Max Scherzer, der auf
dem Papier besteWerfer der Nationals,
erreichte wieder das gewohnte Niveau.
Im Lauf der Saison formierte sich in
Washington die besteWerfergruppe der
ganzen Liga.
Der Plan des General Managers
Rizzo ging auf, das Team fing sich und
zog in dieWorld Series ein, den gros-
sen Final. Doch in der Serie gegen die
HoustonAstros drohten dieWashington
Nationals abermals zurLachnummer

zu werden. Sie gewannen zwar die ers-
ten beiden Spiele auswärts in Houston
und hatten die Chance, im eigenen Sta-
dion den Meistertitel zu gewinnen – vier
Siege braucht es dafür.
Weil inWashington aber niemand
Erfahrung hatte, wie man den Gewinn
der World Series gebührend feiert, setz-
ten dieVerantwortlichen eine Probe der
Meisterfeier an. EinVideo davon fand
denWeg ins Internet;der Spott der eige-
nen und der gegnerischenFans war den
Nationals sicher. Eine solche verfrühte
Probe sei «schlechtes Karma», schrieb
ein Nutzer aufTwitter .Und mit dem
Karma ist imBaseball nicht zu spassen.
Kaum eine Sportart ist derart vonAber-
glauben durchzogen. StrasburgsTeam-
kollege Scherzer isst beispielsweise vor
jedem Spiel einRoastbeef-Sandwich.
Und während einer Siegesserie werden
die Trikots , die Helme und dieBaseball-
Caps nicht gewaschen.

Die Stunde von Strasburg


Ein Fan bracht dieÄusserungen von
seinesgleichen und Experten aufTwit-
ter auf denPunkt: «DerBaseball-Gott
runzelt ob dieser Probe die Stirn.» Und
tatsächlich: Die Nationals verloren drei
Heimspiele in Serie und lagen in der
Serie plötzlich 2:3 zurück. Houston
fehlte noch ein Sieg zum Meistertitel.
Ein einziger Sieg.
Doch dann schlug die Stunde des Ste-
phen Strasburg. Im sechsten Spiel ge-
lang ihm eine phantastische Leistung;
Houston erzielte nur zwei Punkte und
brachtelediglich fünfWürfe von Stras-
burg insFeld. Endlich hatte Strasburg
im entscheidenden Moment brilliert;er
sollte später zum wertvollsten Spieler
der World Series gewählt werden. Die
«WashingtonPost» bezeichnete seinen
Auftritt als «legendär».
Die Nationals gewannen auch die
entscheidende siebentePartie in der
Nacht auf Donnerstag und holten den
ersten Meistertitel – dank vierAuswärts-
siegen.Eine Best-of-7-Serie ohne Heim-
sieg für sich zuentscheiden, das hat bis-
her weder einTeam in der MLB noch
in der NBA oder der NHL geschafft.
Auch das passt zumWeg derWashing-
ton Nationals und ihres Pitchers.

Meisterpitcher Stephen Strasburg: So dynamischkann Baseball sein. BILL STREICHER / REUTERS

Erschöpft und angeschlagen, aber im Halbfinal


Belinda Bencic übersteht am WTA-Finalturnier die Gruppenphase – andere müssen kapitulieren


PHILIPPBÄRTSCH


Als einen Bonus hatte Belinda Ben-
cic die erstmaligeTeilnahme am WTA-
Finalturnier der besten achtFrauen der
Tennissaison bezeichnet. Nach ihrem
letzten Gruppenspiel in Shenzhen steht
bereits fest,dass dieser Bonus üppig aus-
fallen wird, sportlich und finanziell.
Zuerst zumFinanziellen, denn damit
macht sich dasTurnier wichtig bei der
Premiere amneuen Standort im «Sili-
con Valley der Hardware», wie die süd-
chinesische Boomstadt auch genannt
wird.EinenAnteil von 995000US-Dol-
lar amRekord preisgeld von14 Millio-
nen (inklusive Doppelturnier) hat Ben-
cic auf sicher. Gewinnt die 22-jährige
Ostschweizerin am Samstag den Halb-
final gegen dieTitelhalterinJelinaSwi-
tolina,ist das weitere 1,1 Millionen wert.
Vor Jahresfrist in Singapur war derTre-
sor noch halb so gut gefüllt gewesen.Die
Spielerinnen verdanken dieVerdoppe-
lung dem Engagement eines neuen
Titelsponsors aus derKosmetikbranche.


Fieber- undBlutdruckmesser


Mit demWeiterkommen in die Halb-
finals ist Bencic etwas gelungen, das
nach der Startniederlage am Sonntag
gegenAshleighBarty scheinbar in ziem-
lich weiteFerne geraten war. Bencic
hatte sich mit Schmerzen an derFerse
des linken Fusses herumgeplagt. Doch
am Dienstag bezwang sie die zweifache


WimbledonsiegerinPetra Kvitova und
am Donnerstag Kiki Bertens.
Die Niederländerin führte 5:3, ehe
sie fünf Games in Serie abgab und beim
Stand von 5:7, 0:1 aufgab. Bertenswar
auf dem Platz mitFieber- und Blut-
druckmesser untersucht worden.Dass
sie kränkelt, kann nicht erstaunen, seit
EndeAugust und dem US Open hat
sie keine turnierfreieWoche gehabt. In
Shenzhen war Bertens zunächst Ersatz-
spielerin,doch als sich Naomi Osaka vor
dem zweiten Einsatz wegen einer Schul-
terverletzung zurückzog, rückte sienach.
Am Freitag erhielt auch noch die zweite
Ersatzspielerin SofiaKenin eine Spiel-
gelegenheit, da die US-Open-Siegerin
Bianca Andreescu wegen einer Knie-
verletzung ausfällt.
Dass sich dieVerletzungen auf der
Zielgeraden der langen Saison häufen,
ist eine ganz normale Abnormalität.
«Ich denke, dass jede von uns erschöpft
und angeschlagenist», sagte Bencic nach
der halbenPartie gegen Bertens.«Jetzt
ist alles eineFrage der mentalen Stärke,
solche Probleme zu überwinden.» Ben-
cic kündigte an, sie werde nach dem
Finalturnier zwei Monate zu Hause
bleiben,keinen Koffer packen undkein
Flugzeug besteigen.
Noch aber tragen sie die jüngsten Er-
folge mit demTurniersieg in Moskau,wo
sie sich auch die Qualifikation für das
Finalturnier gesichert hatte (aufKosten
von Bertens). «Ich bin sehr stolz darauf,
wie ich mit dem Druck in Moskau um-

ging», sagte Bencic, «ich war noch nie in
meinem Leben so nervös gewesen.»
Nun steht Bencic im zweiten grossen
Halbfinal ihrer Karriere, knapp zwei
Monate nach dem ersten am US Open.
Die vierte Halbfinalistin nebenBarty,
Switolina und Bencic haben amFreitag
Simona Halepund Karolina Pliskova
im Direktduell ermittelt.Kommen ihr
die Fussprobleme nicht nochmals in die
Quere, kann Bencic jede dieser Spiele-
rinnen schlagen. Seit die Dominanz von
SerenaWilliams zu Ende gegangen ist,
gewinnen immer wieder andere Spiele-
rinnen die grossenTitel. 2017 und 2018
gab es an den vier Grand-Slam-Turnie-
ren sowie am WTA-Finalturnier jeweils
fünf verschiedene Siegerinnen, nun sind
es nach den vier Majors auch schon wie-
der vier verschiedene.Bencic hat mitt-
lerweile das Leistungsvermögen, um es
in diesen Kreis zu schaffen.

Die sehrspezielle Konstellation


Bencic hat zuKonstanz und Stabilität ge-
funden in den gut zweiJahren, seit sie
wegen einerVerletzungsserie und feh-
lerhafter Karriereplanung auf den 318.
Platz der Weltrangliste zurückgefal-
len war. 2019 ist ihr bisher erfolgreichs-
tes Jahr, und es ist ihr in einer sehr spe-
ziellen personellenKonstellationgelun-
gen. Dass Spitzensportlerinnenentweder
vom Vater oder vom Lebenspartner be-
treut werden, istgang und gäbe. Bei Be-
linda Bencic sind gleich beide an vor-

dersterFront involviert, derVater Ivan
Bencic alsTenniscoach und derFreund
Martin Hromkovic alsFitnesstrainer.
Wie es den Involvierten bisher gelingt,
die beruflichen und die privatenRollen
auseinanderzuhalten,ist bemerkenswert.
Die Irrungen undWirrungen in der
Zeit vor dieser Zusammenarbeit waren
gleichwohl wichtig für die Entwicklung
vom talentiertenTeenager zur selbst-
bestimmtenFrau.Als Bencic kurzfristig
eine Wild Card für dasTurnier in Mos-

kau annahm, um sich imErfolgsfall doch
noch fürdas Finalturnierin Shenzhen
zu qualifizieren, machte derVater die
Reise nicht mit. So rief sie jeweils den
Freund auf den Platz, wenn sie während
einerPartie Zuspruch brauchte. Martin
Hromkovic hat wie Ivan Bencickeine
Vergangenheitals Tennisspieler, aber
mit Pausen-Ansprachenkennen sich
beide aus, zumindest als Zuhörer. Hrom-
kovic war früherFussballer,Vater Ben-
cic Eishockeyspieler.

Wawrinkastark –Nadal stärker


(sda)·Stan Wawrinkaist amMasters-
1000-Turnier inParis-Bercy in denAch-
tel finals mit 4:6, 4:6 anRafael Nadal ge-
scheitert.Der 34-jährigeWaadtländer
hat damit auch theoretischkeine Chance
mehr, sich für dieATP Finals der besten
acht Spieler desJahres zu qualifizieren.
Nadal zeigte sich in seinem ersten
Turnier seit demTriumph am US Open
nicht unbedingt stärker, aber effizienter
und kaltblütiger als der Schweizer.Wäh-
rend Wawrinka bei einigenAufschlag-
spielen des Spaniers gute Möglichkei-
ten nicht nützenkonnte, packte Nadal
seine ersten Break-Chance (zum 2:1) im
ersten Satz.Beide gewannen zwar gleich
viele Punkte, Nadal aber die wichtigen.
Im zweiten Satz ein ähnliches Bild.
Wawrinka führte 4:3 und 30:0 beiAuf-
schlag desSpaniers. Dann entschied

Nadal aber 12 der nächsten14 Punkte
für sich und sicherte sich so nach knapp
eineinhalb Stunden den Sieg.Wawrinka
liess sich zwar deutlich mehrWinner als
Nadal notieren und zeigtekeine Nach-
wehen der Rückenbeschwerden, die
ihn an denSwiss Indoors gegenRoger
Federer zumVerzicht zwangen, aber in
den entscheidenden Momentenkonnte
sich Nadal auf seinen Linkshänder-Auf-
schlag verlassen.
Im Viertelfinal trifft der 33-jährige
Spanier nun auf denFranzosenJo-Wil-
fried Tsonga. Nadal wird am Montag
auf jedenFall Novak Djokovic wieder
an der Spitze derWeltrangliste ablösen.
Wenn er inParis-Bercy den Titel holt,
kann er auch an denATP Finals in Lon-
don ab dem 10.November nicht mehr
als Nummer 1 verdrängt werden.
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