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02.11.19 Samstag, 2. November 2019DWBE-HP
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DWBE-HP
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02.11.1902.11.1902.11.19/1/1/1/1/Pol5/Pol5 RWAHLISS 5% 25% 50% 75% 95%
8 POLITIK *DIE WELT SAMSTAG,2.NOVEMBER
G
eçmiş olsun“, lautet eine
türkische Redewendung,
die wörtlich „es möge vor-
bei sein“ bedeutet und mit
„gute Besserung“ nur un-
zureichend übersetzt ist. Denn diese
Formel benutzt man nicht allein für
Genesungswünsche, sondern auch sonst,
wenn jemandem unschöne Dinge wider-
fffahren sind – ein Unfall, eine private oderahren sind – ein Unfall, eine private oder
berufliche Trennung oder ein Gefängnis-
aaaufenthalt.ufenthalt.
Gefängnis hat Mustafa Yeneroglu nicht
hinter sich. Aber eine schmerzliche Tren-
nung: Am Mittwoch erklärte der in Köln
aaaufgewachsene Jurist und Politiker seinenufgewachsene Jurist und Politiker seinen
AAAustritt aus der Partei für Gerechtigkeitustritt aus der Partei für Gerechtigkeit
und Entwicklung (AKP). In den vergange-
nen zwei, drei Jahren habe ihm „die Be-
schädigung unserer demokratischen
Institutionen und die Verletzung der
Menschenrechte“ Sorge bereitet. Inzwi-
schen habe er die Hoffnung auf einen Po-
litikwechsel verloren. Und zuletzt habe
Erdogan ihn persönlich dazu aufgefor-
dert, künftig zu schweigen oder die Partei
zu verlassen. Yeneroglu entschied sich ge-
gen das Schweigen.
Mit ihm verliert der türkische Staats-
präsident seinen wichtigsten Fürsprecher
in Deutschland. Hierzulande bekannt
wwwurde er durch feurige Auftritte in Polit-urde er durch feurige Auftritte in Polit-
Talkshows, bei denen er sich schon mal
mit allen übrigen Gästen und den Mode-
ratoren anlegte. Im persönlichen
Gespräch ist er viel moderater, sodass
deutsche Korrespondenten in Istanbul
regelmäßig seine Meinung einholten.
Manche konnten kaum noch einen Be-
richt abliefern, in dem sie nicht Yeneroglu
namentlich oder in anonymisierter Form
zitierten.
Diesen Status hat sich Yeneroglu nicht
bloß deshalb erarbeitet, weil er überhaupt
mit Journalisten – mit den meisten jeden-
fffalls – sprach, und das noch auf Deutsch.alls – sprach, und das noch auf Deutsch.
Im Gegensatz zu mancher AKP-Knall-
charge mit deutschtürkischem Hinter-
grund galt er auch als diskursfähig, weil er
sich, seit er im Juni 2015 erstmals für die
AKP ins türkische Parlament gewählt
wwwurde, eine gewisse Unabhängigkeit be-urde, eine gewisse Unabhängigkeit be-
wahrte und immer wieder einzelne Miss-
stände und Verfehlungen kritisierte. Un-
ter anderem meine Verhaftung.
Zunächst in Deutschland bekannter als
in der Türkei, machte Yeneroglu zuletzt
aaauch dort von sich reden. Spätestens, alsuch dort von sich reden. Spätestens, als
er öffentlich Kritik daran übte, dass Erdo-
gan sich weigerte, den Sieg des Oppositi-
onskandidaten Ekrem Imamoglubei der
Oberbürgermeisterwahl in Istanbul hin-
zunehmen und mit einer reichlich abstru-
sen Begründung deren Wiederholung an-
setzte. So avancierte Yeneroglu nicht nur
zu einem parteiinternen Dissidenten,
sondern zum letzten Ausweis dafür, dass
es sich bei der AKP überhaupt um eine
politische Partei handelte.
Denn trotz der Dominanz, die Erdogan
als Liebling der Massen stets innehatte,
war die AKP in ihren ersten Jahren weder
reine Führerpartei noch eine homogene
VVVeranstaltung, sondern beherbergte wieeranstaltung, sondern beherbergte wie
jede demokratische Partei innerhalb eines
gesetzten Rahmens unterschiedliche poli-
tische Strömungen und repräsentierte
verschiedene gesellschaftliche Milieus:
die islamistische Milli-Görüs-Bewegung,
sie sich anschickte, zu einer „muslimi-
schen Version der europäischen Christ-
demokratie“ zu werden, aber auch wirt-
schaftsliberal-konservative Kräfte, links-
liberale Intellektuelle und muslimische
Menschenrechtler. Das ist längst passé.
Die meisten haben sich angepasst, andere
sind gegangen. Doch während einst füh-
rende AKP-Politiker wie Abdullah Gül, Ali
Babacan oder Ahmet Davutoglu so gut
wwwie nie öffentlich ein Wort der Kritik for-ie nie öffentlich ein Wort der Kritik for-
mulierten, bis sie im Sommer dieses Jah-
res austraten, zog es Yeneroglu vor, in der
Partei zu bleiben und dort – zuletzt auf
verlorenem Posten – zu kämpfen.
Mit seinem Austritt hört die AKP auf,
in wahrnehmbarer Weise als Partei zu
existieren. Bis auf wenige schweigende
Reste besteht die Partei aus einem Hau-
fffen von Claqueuren, die – ob aus Ergeben-en von Claqueuren, die – ob aus Ergeben-
heit an den Führer, Opportunismus oder
beidem – jede atemberaubende Wendung,
beispielsweise in der Kurdenpolitik, be-
klatschen und sich ansonsten ganz der
persönlichen Vorteilsnahme und Berei-
cherung widmen. Yeneroglu hingegen
wwwurde nie Korruption oder Nepotismusurde nie Korruption oder Nepotismus
vorgeworfen; auch politische Gegner hal-
ten ihn für über jeden Verdacht erhaben.
Dass er sich nicht korrumpieren ließ, war
die Voraussetzung dafür, dass er inner-
halb gewisser Grenzen Widerspruch arti-
kulieren konnte.
AAAnders als zuweilen kolportiert, ist Ye-nders als zuweilen kolportiert, ist Ye-
neroglu kein Kurde, sondern stammt aus
der nordostanatolischen Provinz Bayburt,
einem schönen, aber auch erzkonservati-
ven Landstrich. Und er ist ein genuines
Gewächs der Milli-Görüs-Bewegung, der
er als Generalsekretär diente, ehe er als
AAAbgeordneter in die Türkei wechselte. Ye-bgeordneter in die Türkei wechselte. Ye-
neroglu war einer der maßgeblichen
Funktionäre aus der zweiten Einwande-
rergeneration, die die Milli-Görüs-Orga-
nisation in Deutschland modernisierten.
Doch den nationalistischen und milita-
ristischen Kurs, den Erdogan seit dem En-
de der Friedensverhandlungen mit der
militanten Kurdischen Arbeiterpartei
(PKK) im Sommer 2015, spätestens aber
seit dem Putschversuch im Jahr darauf
verfolgt, hat Yeneroglu nur widerwillig
mitgetragen. So, wie er zu Erdogans altem
VVVerbündeten, der Gülen-Organisation,erbündeten, der Gülen-Organisation,
stets Distanz wahrte, wurden auch dessen
neue Bündnispartner, die nationalisti-
schen Kräfte des Ancien Régime im
Staatsapparat sowie die rechtsextreme
Partei der Nationalistischen Bewegung
(MHP), nicht zu seinen Freunden – eben-
so wenig wie die einflussreiche und skru-
pellose Clique um Erdogans Schwieger-
sohn Berat Albayrak. Yeneroglu war der
letzte Vertreter des modernisierten poli-
tischen Islam in der AKP, der sich nicht
mit den neuen Verhältnissen arrangiert
hatte. Der Rest, einschließlich Erdogan,
ist nicht mehr, sondern weniger islamisch
- und darüber hinaus bloß korrupt, auto-
ritär und nationalistisch.
Man kann Yeneroglu vorhalten, dass er
zu selten Kritik geübt hat. Dass er sich
seine Kritikfähigkeit erkauft hat, indem er
oft schwieg, etwa bei der Verhaftung sei-
ner Abgeordnetenkollegen aus den Rei-
hen der prokurdischen HDP, oder indem
er derlei Maßnahmen gar rechtfertigte.
Dass sich seine Einwände fast nie gegen
Entscheidungen der obersten Führung
richteten, sondern lediglich gegen be-
stimmte Auswüchse. Dass er im Ausland
als Feigenblatt eines autoritären Regimes
diente und sich besonders um die Krimi-
nalisierung der HDP bemühte. Und er
muss sich die Frage gefallen lassen, wa-
rum er sich erst von Erdogan zum Aus-
tritt auffordern lassen musste. Anderer-
seits hat sich Yeneroglu mit seiner Ent-
scheidung, so lange wie möglich innerhalb
der AKP zu streiten, nicht für den leich-
testen Weg entschieden.
WWWas Yeneroglu in seiner Erklärungas Yeneroglu in seiner Erklärung
nicht erwähnte, aber einem gläubigen
Menschen wie ihm ebenfalls Sorgen be-
reiten muss: Nicht nur um Demokratie,
Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte
ist es nach fast zwei Jahrzehnten
AKP-Herrschaft in der Türkei schlecht be-
stellt, sondern auch um den Zustand der
Religion. Oberflächlich betrachtet hat
sich die türkische Gesellschaft stark isla-
misiert. Da sind die Staatsempfänge, auf
denen Koranverse rezitiert werden, die
aaabnehmende Zahl von Gaststätten, in de-bnehmende Zahl von Gaststätten, in de-
nen Alkohol ausgeschenkt wird, ein Fern-
sehen, das in Filmen, auch bei alten türki-
schen Produktionen, unter dem Vorwand
des Jugendschutzes jeden Kuss und jeden
Drink verpixelt und jedes noch so harmlo-
se Schimpfwort übertönt.
Doch trotz – und wegen – dieser zur
Schau gestellten Religiosität nimmt ins-
besondere in der jüngeren Generation
die Religiosität ab, wie Untersuchungen
zeigen. Eine ähnliche Erfahrung muss-
ten auch die Kemalisten machen, die in
den 80er- und 90er-Jahren Kinder und
Jugendliche so sehr mit dem Staats-
gründer Atatürk malträtierten, dass sie
das genaue Gegenteil von Ehrerbietung
erreichten. Und dass sich viele AKP-Po-
litiker so verhalten, als seien Kopftuch,
Fasten und regelmäßige Freitagsgebete
gleichbedeutend mit einer Lizenz zum
Klauen, Lügen und Unterdrücken, muss
wahrhaft fromme Menschen alarmie-
ren. Nie wurde in diesem Land der sun-
nitische Islam derart diskreditiert wie
unter der AKP.
In einer Hinsicht aber ist Yeneroglu
nicht vorsichtig: wenn es gilt, Rassismus
und Islamfeindlichkeit in Deutschland
und Europa zu kritisieren. Als strenggläu-
biger Muslim spürt er womöglich besser
als linke, atheistische Deutschtürken,
dass im politischen Diskurs in Europa die
berechtigte Kritik an Erdogan so man-
chem als Deckmantel für ordinären Hass
aaauf Türken und Muslime dient.uf Türken und Muslime dient.
WWWer Yeneroglu er Yeneroglu auf Twitter folgt, kann
den Eindruck gewinnen, in Deutschland
seien die Gaulands und Höckes bereits an
der Macht. Tatsächlich sind Übergriffe
aaauf Moscheen und Diskriminierung vonuf Moscheen und Diskriminierung von
Muslimen keine Einzelfälle. Doch das Ge-
genteil von Einzelfall ist meistens auch
nicht der Regelfall. Wie in der Demagogie
der deutschen Rechtspopulisten Millio-
nen von Dschihadisten und kriminellen
Messerstechern durchs Land streifen, tut
die türkische Regierungspropaganda so,
als bestehe die Lebenswirklichkeit von
Muslimen in Deutschland aus nichts als
Feindseligkeiten aller Art.
Lange Zeit war Yeneroglu Teil dieser
Propaganda. Umso bemerkenswerter ist
seine Rücktrittserklärung, die sich an ei-
ner entscheidenden Stelle wie eine Lie-
beserklärung an seine zweite Heimat
Deutschland liest; freilich an das Deutsch-
land, dass sie in der AfD verachten: „Das
ist eine Frage der Sozialisation“, antwor-
tete er auf die Frage, warum diejenigen
seiner Parteifreunde, die ähnlich denken
wwwie er, dies nicht offen aussprechen. „Ichie er, dies nicht offen aussprechen. „Ich
bin nicht in einem autoritären Bildungs-
system aufgewachsen. Ich wurde in einem
individualistischen, antiautoritären Um-
fffeld dazu erzogen, überall meine eigeneeld dazu erzogen, überall meine eigene
Meinung zu sagen und dafür zu
kämpfen.“
In der AKP ist dieser Kampf nun been-
det. Geçmiş olsun.
Er entschied
sich, nicht zu
schweigen
Mit dem Austritt von Mustafa Yeneroglu aus
der AKP verliert Erdogan seinen wichtigsten
Fürsprecher in Deutschland. Und die Partei den
letzten Vertreter des moderaten politischen
Islam in der Türkei. Der Rest der AKP ist weniger
religiös – aber korrupt, autoritär und
nationalistisch. VonDenizYücel
Mustafa Yeneroglu diente Erdogans AKP als Feigenblatt. Aber er nahm sich auch immer wieder die Freiheit, der Regierungslinie zu widersprechen
PICTURE ALLIANCE / BERND VON JUT
/DPA PICTURE-ALLIANCE / BERND VON JUTRCZENKA
E
ben hat Frank-Walter Steinmeier
den Doppel-Schreibtisch von
Marcel Breuer betrachtet. Jetzt
steht er in dem Wohnzimmer mit sei-
nen riesigen Fenstern, vor einem Ka-
min, zwischen Stühlen und Tischen von
Breuer und allerhand moderner Kunst.
Der Bundespräsident und seine Ehefrau
Elke Büdenbender sind zwei Tage lang
zu Gast in den USA, in Lincoln, vor den
Toren Bostons, besucht das Präsiden-
ten-Paar das ehemalige Wohnhaus von
Walter Gropius und dessen Familie.
VON DANIEL-FRIEDRICH STURM
AUS BOSTON
Der berühmte Bauhaus-Architekt leb-
te hier nach seiner Flucht vor den Nazis
1937 bis zu seinem Tode. Erika Pfam-
matter, eine Enkeltochter von Gropius,
begrüßt Steinmeier. Sie berichtet von
Großvater und Großmutter, deren Phi-
losophie. „Der Geist ist wie ein Fall-
schirm“, zitiert Pfammatter am Ende
Walter Gropius: „Er kann nur funktio-
nieren, wenn er offen ist.“ Pfammatter
hat mit diesem Gropius-Diktum gewis-
sermaßen zwei Motive von Steinmeiers
Besuch auf den Punkt gebracht. Ers-
tens: Den Bundespräsidenten treibt der
Aufstieg des Populismus um, die Gefah-
ren für die offene Gesellschaft. Diese
Phänomene beschränken sich nicht auf
die USA. Zweitens: Steinmeier redet,
wie Pfammatter, in den USA viel von ei-
ner glorreichen Vergangenheit. Eine er-
hebliche Enttäuschung schwingt da mit.
Auf die Bedrohungen der liberalen,
westlichen Demokratie, die Verachtung
von Kompromissen und das Phänomen
von Echokammern beschreibt Stein-
meier. Am Donnerstagmorgen hat er
deutsche und amerikanische Wissen-
schaftler zu einem Gespräch über „Po-
pulismus und Polarisierung“ eingela-
den. Beide Phänomene spalteten die
Gesellschaft, sagt der Bundespräsident.
Ein amerikanischer Wissenschaftler wi-
derspricht Steinmeier. Nicht Populis-
mus per se sei eine schlechte Sache,
sondern nur ein Populismus, der andere
Meinungen als Bedrohung dämonisiere.
Solche Diskussionen mag Steinmeier.
Emotionale, anti-aufklärerische Poli-
tik hingegen kann er nicht ertragen. Es
dauert während dieser Gesprächsrunde
nur ein paar Minuten, da erwähnt Stein-
meier „Tweets“, die Aufregung auslös-
ten. Jeder im Raum weiß, dass er damit
Donald Trumps Twitter-Botschaften
meint, auch wenn er den Namen des
amerikanischen Präsidenten ver-
schweigt. Doch Steinmeier greift über
Trump hinaus. Abschottung, Echokam-
mern und Vorurteile seien keine Phäno-
mene, die auf die derzeitige US-Regie-
rung begrenzt seien. All diese Erschei-
nungen, prognostiziert er, würden
„auch nach der nächsten Wahl nicht
verschwinden“.
Der Bundespräsident weilt in Boston
unter anderem, um das „Deutschland-
jahr“ des Auswärtigen Amtes in den
USA offiziell zu beenden. Über 2000
jahr“ des Auswärtigen Amtes in den
USA offiziell zu beenden. Über 2000
jahr“ des Auswärtigen Amtes in den
Veranstaltungen in allen 50 Bundesstaa-
ten habe es gegeben, sagt er, mit über 1,
Millionen Besuchern. „Wunderbar to-
gether“ lautete dessen Motto. Das war
ziemlich zweckoptimistisch, wo doch
die deutsch-amerikanischen Beziehun-
gen gerade alles andere als „wunderbar“
sind. Die Regierungen in Berlin und Wa-
shington haben sich wenig zu sagen. Es
gibt diverse Konflikte, etwa bei Han-
delspolitik, Verteidigungsausgaben oder
der Ostsee-Pipeline Northstream. Alle
paar Tage reitet Trump verbale Atta-
cken gegen Deutschland.
Dass Trump das deutsche Staatsober-
haupt in den USA nicht empfängt, ist
dabei weder ein Affront noch hat es da-
mit zu tun, dass das Repräsentanten-
haus just an jenem Donnerstag formale
Impeachment-Untersuchungen gegen
Trump beschließt. Der mächtigste
Mann der Welt sah sich schon jeher, al-
so weit bevor er Trump hieß, auf einer
höheren Ebene als der nicht-exekutive
Bundespräsident. Empfänge im Weißen
Haus, wie sie Joachim Gauck 2013 und
Roman Herzog 1997 zuteil wurden, wa-
ren da eher Ausnahmen.
Ohnehin ist ein fruchtbares Gespräch
zwischen Trump und Steinmeier nur
schwer vorstellbar. Trump kann mit ab-
wägenden, nachdenklichen Rationalis-
ten nichts anfangen, schon gar nichts
mit Menschen, die mehr als ihr halbes
Leben in der Berufspolitik verbracht ha-
ben. Steinmeier mag Geduld, langen
Atem und diplomatisches Geschick be-
sitzen, und doch wäre für ihn eine Be-
gegnung mit Trump wohl eine Nerven-
probe. Ihm sind Stil und Politik Trumps
zuwider. Er verachtet Nationalisten, er
ärgert sich, wenn der politischen Gegner
zum Feind gemacht wird, und interna-
tionale Verträge einseitig gekündigt wer-
den. Das Atom-Abkommen mit dem Iran
etwa hatte ja der einstige Außenminister
Steinmeier mühsam mit ausgehandelt –
unter anderem mit seinem damaligen
US-Amtskollegen John Kerry, mit dem in
Boston am Freitag ein gemeinsames Mit-
tagessen auf dem Programm steht.
Einen „Hassprediger“ nannte Stein-
meier 2016 den damaligen Präsident-
schaftsbewerber Trump, und warnte in
diesem Kontext vor dem „Ungeheuer
des Nationalismus“. Das waren für
Steinmeier, als Außenminister ein Meis-
ter des Ungefähren, knallharte Worte.
In Boston, am Donnerstag, denkt er gar
nicht daran, dieses Wort zu wiederho-
len oder etwas ähnlich Ätzendes direkt
über Trump zu sagen. Und dennoch
sind die Botschaften des Bundespräsi-
denten ziemlich eindeutig. Gewisser-
maßen befindet sich, wo immer auch
Steinmeier auftritt, Trump stets im
Raum. Ob im Gespräch mit den Wissen-
schaftlern oder bei der Wiedereröff-
nung des Goethe-Instituts am Donners-
tagabend. Eine Enttäuschung über die
gegenwärtig schlechten Beziehungen
zwischen Berlin und Washington ist bei
Steinmeier nicht zu überhören.
Differenzen bestimmten das Alltags-
bild der transatlantischen Beziehungen,
sagt Steinmeier in Goethe-Institut. Als
Bundespräsident aber wolle er „den
Blick heben, heraus aus dem täglichen
Fokus von Tweets und Tiraden, aber
auch über die häufig so erwartbare wie
fruchtlose Empörung hinaus“. Wohl je-
der im prächtigen Empfangsraum des
noblen Goethe-Instituts, in dem es
noch nach frischer Farbe riecht, kann
heraushören, auf wen sich der Präsident
bezieht. Knapp 30 Jahre nach dem Fall
der Mauer würdigt Steinmeier das Ame-
rika der Vergangenheit. Er preist die
USA des 19. Jahrhunderts, während des
Zweiten Weltkrieges, der Luftbrücke,
von John F. Kennedy und Ronald Rea-
gan und natürlich während der Vereini-
gung Deutschlands 1989/90. Es klingt
wie eine Vorlesung in Geschichte.
„Dieses Amerika hat der Welt die Au-
gen geöffnet für die unbändige Kraft der
Freiheit“, sagt Steinmeier: „Dieses
Amerika hat uns Deutschen die Demo-
kratie aufs Neue zugetraut. Und diesem
Amerika verdankt Deutschland seine
Einheit in Freiheit. Diesem Amerika
sind wir tief verbunden, und wir bleiben
es. Danke, Amerika!“ Von „diesem“
Amerika also spricht Steinmeier, nicht
etwas vom heutigen oder gegenwärti-
gen Amerika, dem von Trump geführten
und repräsentierten Land.
Wer diese Trennschärfe nicht heraus-
hören kann, für den wird Steinmeier
noch deutlicher. „Diesem Amerika war
das vereinte Europa immer ein Anlie-
gen. Dieses Amerika wollte echte Part-
nerschaft und Freundschaft im gegen-
seitigen Respekt.“ Diesmal verwendet
der Bundespräsident nicht nur das ab-
grenzende „diesem“, sondern zudem
die Vergangenheitsform. Es war einmal.
Und die Konsequenz der beklagenswer-
ten Lage? „Europa muss stärker und
selbstbewusster werden. Aber Europa
soll nicht stark sein ohne Amerika – und
erst recht nicht gegen Amerika.“ Für
seine Rede im Goethe-Institut erfährt
Steinmeier kräftigen Applaus.
In Boston für die liberale Demokratie
einzutreten und die traditionelle trans-
atlantische Partnerschaft zu werben, ist
freilich keine große Kunst. Es gibt ande-
re Orte in den USA, man denke nur an
das ländliche Amerika, wo das Interesse
an Deutschland und beiderseitigen Be-
ziehungen womöglich deutlich geringer
ist. Orte, in denen über die Demokratie
anders gedacht wird – und in denen die
Zahl der Trump-Anhänger erheblich
größer ist. Ein solch ländlich geprägter
Bundesstaat jenseits der Küsten, gewis-
sermaßen Trump-Land, wäre eigentlich
mal eine Reise wert.
Als wäre Trump beim Besuch
Steinmeiers stets dabei
Der Bundespräsident singt in Boston ein Loblied auf die
früheren USA. Und kritisiert, ohne Namen zu nennen
KKKleine Zeitreise: Bundespräsident Frank-leine Zeitreise: Bundespräsident Frank-
WWWalter Steinmeier in Bostonalter Steinmeier in Boston
D
PA
/BRITTA PEDERSEN
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