Süddeutsche Zeitung - 02.11.2019

(Barré) #1

Bonn– Die Tür öffnet sich, ein hagerer
Mannbetritt den Gerichtssaal, er hat jetzt
seinen ersten öffentlichen Auftritt, zeigt
erstmals sein Gesicht. Ein Blick in die Sitz-
reihen, dann eilt er zum Zeugenstand, ein
violetter Stuhl, auf dem er stundenlang sit-
zen wird. Drei Jahre hatte er Zeit bis zu die-
sem Tag, fast tausend Seiten Verneh-
mungsprotokolle hat er gefüllt, hat er-
zählt, wie er als Anwalt reich wurde und es
immer wieder schaffte, dem Staat einen
Schritt voraus zu sein, bis eines Morgens
um sechs Uhr die Polizei bei ihm klingelte.
Auf dem Durchsuchungsbefehl stand et-
was von Cum-Ex-Geschäften, und spätes-
tens da muss S. klar geworden sein, dass er
und sein Umfeld ein gewaltiges Problem
bekommen. Die Strafverfolger hatten ange-
fangen, einen Jahrhundertskandal aufzu-
arbeiten, die Liste der Beschuldigten wur-
de immer länger. Banker, Anwälte und rei-
che Investoren, Mitglieder der Finanzelite,
sollen sich in halb Europa an den Steuer-
kassen bedient haben, mit scheinbar un-
durchschaubaren Aktiengeschäften und
dem Trick, sich Steuern erstatten zu las-
sen, die niemand gezahlt hatte.
Dass man das heute versteht, hat viel
mit S. zu tun. Der wichtigste Zeuge in die-
sem Skandal um steuergetriebene Aktien-
geschäfte hat den Saal S 0.11 des Bonner
Landgerichts an diesem Dienstag für sich.
Es ist seine Bühne für diesen Verhand-
lungstag im ersten Cum-Ex-Strafprozess,
in dem zwei britische Aktienhändler ange-
klagt sind, in einem Prozess mit Strahl-
kraft. Links und rechts von S. sitzen seine
Verteidiger, zwei Schwergewichte des Wirt-
schaftsstrafrechts. Drei Tage sind ange-
setzt für seine Aussagen. Sie werden am En-
de nicht reichen, weil er so viel zu erzählen
hat, meist in ausufernden Erklärungen,
Schachtelsatz an Schachtelsatz, für Unbe-
teiligte unspektakulär, nachgerade lang-
weilig. Und doch sind seine Sätze explosiv.


S. hat als erster von einem guten Dut-
zend Beschuldigter ausführlich ausge-
packt, hat den Ermittlern rund um die Köl-
ner Oberstaatsanwältin Anne Brorhilker
geholfen, das System Cum-Ex zu überbli-
cken. Ein System, das den Griff in die
Staatskasse zum Geschäftsmodell machte,
mit einem Schaden in zweistelliger Milliar-
denhöhe allein in Deutschland. „Es ging
einzig und allein darum, Erstattungen zu
bekommen, und dass der Profit vom Staat
kommt. Im Großen und Ganzen hatte jeder
Beteiligte eine Vorstellung davon“, sagt S.
im Gerichtssaal. Er spricht von einem „in-
dustriellen Phänomen“, das aber nur als
solches erkennbar ist, wenn man hinter die
Kulissen schauen kann.
Brorhilker schaffte das, auch mithilfe
der beiden in Bonn Angeklagten, Martin S.
und Nicholas D., beides britische Ex-Invest-
mentbanker, die erst bei der Hypo-Vereins-
bank arbeiteten und dann bei einem eige-
nen Hedgefonds. Nun sind sie wegen
schwerer Steuerhinterziehung angeklagt.
Der Zeuge S. aber, der viele der Deals mitge-
staltet hat, wurde als Erster schwach. An ei-
nem kalten Montag im November 2016 er-
schien er im Düsseldorfer Landeskriminal-
amt. Acht Stunden dauerte die erste Ver-
nehmung. Anne Brorhilker nahm teil, eine
zweite Staatsanwältin, ein Oberstaatsan-
walt und zwei Kriminalhauptkommissare.
Die Ermittler legten ihm Seite um Seite,
Mail um Mail, Rechnung nach Rechnung
vor, und ihm wurde klar, dass er mit Sala-
mitaktik keine Chance haben würde.
„Ich habe am Anfang die Hose bis zu den
Knien runtergelassen“, sagt S. dem Ge-
richt, „das hat aber nicht gereicht.“


Vorn zu seiner Linken sitzt Anne Brorhil-
ker. Sonst wirkt sie betont nüchtern, jetzt
lächelt sie, blickt vom Papier auf und
schaut ihn siegesgewiss an. Sie hat ihn ge-
knackt, hat die vielen geheimen Zugänge
zu Cum-Ex gefunden, die sonst womöglich
verborgen geblieben wären. S. beschreibt
vor Gericht erneut, wie er es als Sohn eines
Heizungsbauers aus Sande in Friesland in
den innersten Zirkel einiger der gewieftes-
ten Anwälte des Planeten schaffte. Wie er
und seine Mitstreiter dann Wege suchten
und immer neue Abzweigungen fanden,
sich ohne jedes Risiko am Geld der Steuer-
zahler zu bedienen. „Wir dachten wirklich,
wir wären die Größten“, sagt er.
In seinen Vernehmungen hat er auch
verraten, was sich nur sehr schwer bewei-
sen lässt: dass es geheime Absprachen ge-
geben habe zwischen den Akteuren – und
eine vorher vereinbarte Aufteilung der Beu-
te. Allein er, so sagt S. in Bonn, habe mit
den Deals „etwa 50 Millionen Euro ver-
dient“. Aber irgendwann ging es nicht
mehr nur um die nächste Million. Es ging
darum, dass die Maschine weiterläuft. Alle
hätten eine Sehnsucht gehabt: „Es sollte
immer weitergehen“, sagt S., „und man hat
alles in Bewegung gesetzt, um immer wei-
terzumachen.“
Er hat die meisten seiner früheren Weg-
gefährten belastet, darunter Manager der
Deutschen Bank und der Privatbank War-
burg, ehemalige Händler der Hypo-Ver-
einsbank, von denen jetzt zwei als Ange-
klagte im Saal sitzen, die Anwaltskanzlei
Freshfields und vor allem seinen früheren
engsten Vertrauen, den Frankfurter Steuer-
anwalt Hanno Berger. S. und Berger waren
einst Kanzleipartner, Berger zugleich Zieh-
vater. Er gilt neben S. als Dirigent zahlrei-
cher Cum-Ex-Modelle. Seit sieben Jahren
lebt er in der Schweiz und bestreitet, je-
mals rechtswidrig gehandelt zu haben.

Die Erzählung von Cum-Ex umfasst vie-
le Kapitel und füllt etliche Regalmeter Er-
mittlungsakten. Und so, wie S. sie erzählt,
ist sie längst mehr als die Geschichte eines
beispiellosen Skandals, bei dem Banker,
Anwälte und Investoren jahrelang ungehin-
dert Rendite mit Steuermilliarden machen
konnten, weil die Finanzämter nicht durch-
blickten und weil das Bundesfinanzminis-
terium schlechte Gesetze geschrieben hat-
te. Es ist eine Geschichte über die Gedan-
ken- und Gefühlswelt hoch gebildeter Men-
schen im globalen Finanzsystem, in dem
es ständig darum geht, schlauer zu sein als
der andere, schneller und überlegen. Dar-
über, wie leicht es passiert in diesen Sphä-
ren, dass einige die Grenzen der Legalität
überschreiten, und wie schnell andere ih-
nen folgen, wenn es funktioniert. Darüber,
wie dabei mitunter „jeder jeden be-
scheißt“, sagt S. im Saal. Denn man hat ja
nicht nur den Staat, sondern sich auch ge-
genseitig ausgetrickst.
Wie sah die Cum-Ex-Welt aus, die so
heißt, weil es um den Handel von Aktien
mit (cum) und ohne (ex) Dividende geht? In
ihr bewegten sich Berater wie S., die Milliar-
däre köderten mit dem Renditeverspre-
chen von fünfzehn Prozent in drei Mona-
ten, mit dem einzigen Risiko, dass die Steu-
ererstattung nicht klappt. S. beschreibt
Mitstreiter, die stets über geplante Geset-

zesänderungen Bescheid wussten und Ein-
fluss nahmen über Lobby-Kanäle wie den
Bankenverband. Es gelang ihnen so, Geset-
ze oder Rundschreiben an Finanzämter zei-
tig abzumildern.
„War in all der Zeit eine mögliche straf-
rechtliche Haftung ein Thema?“, fragt die
Verteidigerin von Martin S.
„Nein“, sagt der Zeuge, „seinerzeit
nicht.“ Er habe sich dazu damals keine Ge-
danken gemacht.
Die einzige Rendite der mit Milliarden-
renditen aufgepumpten Geschäfte waren
Steuergutschriften. Das ist der Kern. Da-
mit es zur doppelten Erstattung kam, wi-
ckelten die Akteure komplizierte Aktienge-
schäfte ab. Vereinfacht gesagt täuschten
sie vor, mehr Kapitalertragsteuer gezahlt
zu haben, als es tatsächlich der Fall war. Fi-
nanzgerichte haben das im Nachhinein als
illegal abgeurteilt; jetzt geht es ums Straf-
recht. Die Bonner Kammer klärt als erste
überhaupt, wer sich mit Cum-Ex-Deals
möglicherweise strafbar gemacht hat: Die
angeklagten Händler Nick D. und Martin
S.? Was ist mit den Fonds, die Anwälte wie
der Zeuge S. erdacht haben? Was ist mit
den Anwälten selbst? Wer trägt die Verant-
wortung in den Banken, die mitmachten?
Die Summe, um die es in Bonn geht, ist
schwer zu fassen, mehr als 400 Millionen
Euro Schaden. Aber auch das ist nur ein

kleiner Ausschnitt dessen, was S. und ande-
re Akteure angerichtet haben sollen. Mehr
als zehn Milliarden Euro sollen zwischen
2006 und Ende 2011 aus der Staatskasse ab-
geflossen sein, am Ende oftmals verbucht
in Firmen in der Karibik, steuerfrei.
Die beiden Angeklagten Martin S. und
Nick D. waren einst Händler, Investment-
banker. Sie hätten auch ohne Cum-Ex Kar-
riere machen können. Martin S., sagt der
Zeuge S., sei ihm als „Mastermind“ be-
schrieben worden. „Er war wirklich ein
Meister seiner Zahlen.“ Mehrmals wäh-
rend des Prozesses hat Martin S., 41, schon
komplexe Details erklärt, gerechnet, hat
gezeichnet und gezeigt, wo welche Gewin-
ne anfielen. In diesen Momenten wirkt es,
als wäre er ein Sachverständiger.
Sein Mitangeklagter Nicholas D., Rufna-
me Nick, 39, wirkt unscheinbar, fast jun-
genhaft. Als sei er bei einem Wochenend-
ausflug in Bonn falsch abgebogen und nun
im Landgericht gelandet. Er hat sich hoch-
gearbeitet vom Büroboten in einer Bank in
Australien bis zum Trader in London, ins
Herz der Finanzindustrie. Erst bei der Hy-
po-Vereinsbank und später in einer eige-
nen Firma. Ballance nannten sie den La-
den. Es ging um Cum-Ex-Geschäfte im gro-
ßen Stil. Zahlenmeister Martin S. war Grün-
dungsgesellschafter, Nick D. später ange-
stellter Händler. Auch sie haben schon vor
dem Prozess umfassend ausgesagt.
Hinter ihnen sitzen je nach Prozesstag
bis zu neun Anwälte. Sie vertreten fünf Ban-
ken und Investmentgesellschaften. Diese
sollen von den Geschäften profitiert haben
und müssen möglicherweise hohe Millio-
nenbeträge zurückzahlen. Für die Hambur-
ger Warburg-Gruppe, die bis hin zur frühe-
ren Konzernspitze in den Skandal ver-
strickt sein soll, könnte es in diesem Pro-
zess an die wirtschaftliche Substanz ge-
hen. Im Raum steht eine mögliche Rückfor-

derung von mehr als 100 Millionen Euro.
Dass sich bei Warburg jemand strafbar ge-
macht haben könnte, bestreitet die Bank.
Auch die mögliche Vermögenseinziehung
hält man in Hamburg für unbegründet.
Sehr intensiv soll Warburg laut S. im
Kontakt mit Hanno Berger gestanden ha-
ben, dem Paten des Cum-Ex-Marktes. S.
nennt ihn heute „König der Steuerbera-
tungsindustrie“. Um ihn zu charakterisie-
ren, erzählt er, wie Berger mit Zweiflern
umgegangen sein soll. Stellte sich in Be-
sprechungen jemand quer, wegen des Ein-
drucks, die Geschäfte seien gesetzeswid-
rig, soll er die ganze rhetorische Wucht Ber-
gers abbekommen haben. Angeblicher Hö-
hepunkt: „Dann sagte er: ‚Wenn jemand
ein Problem hat, dass wegen unserer Ar-
beit weniger Kindergärten gebaut werden


  • da ist die Tür‘“, erzählt S., wobei Berger
    solcherlei bestreitet. Er sieht sich verleum-
    det und wehrt sich vehement gegen jeden
    Vorwurf, sich strafbar gemacht zu haben.


Der Vorsitzende Richter Roland Zickler
befragt S. geduldig, lässt ihn erzählen und
erklären. Er hat viele Monate gewartet auf
die erste von vielen zu erwartenden Ankla-
gen wegen Cum-Ex. Er schaukelt in sei-
nem Sessel, lehnt sich weit zurück, manch-
mal grinst er, und wenn er eine Frage stellt,
dann schaut er zur Decke, weil er beim For-
mulieren denkt. Es geht lange um die Kon-
takte von S. und Berger zur Warburg-
Bank. Etwa um ein Treffen mit dem heuti-
gen Aufsichtsratschef Christian Olearius
und Geschäftsführer Peter Schmid in Ham-
burg, bei dem ein Butler mit Glacéhand-
schuhen Kaffee in Tassen mit Warburg-Lo-
go serviert haben soll. Bei solchen Treffen
soll ausführlich über Cum-Ex gesprochen
worden sein, und stets sei allen klar gewe-
sen, worum es gegangen sei, erklärt S. dem
Richter. Olearius, Schmid und andere War-
burg-Verantwortliche bestreiten das.
„Wir reden ja von einer Privatbank, die
einen Ruf hat, die verwurzelt ist“, fragt
Richter Zickler kurz darauf, „und jetzt kom-
men Sie da an mit ihrem rhetorischen
Freund und verkaufen denen den Griff in
die Staatskasse. Und da geht keinem die Au-
genbraue hoch?“
„Tja...“, sagt S., und pausiert. „Ich habe
in ganz wenigen Fällen nur erlebt, wie die
Augen hochgegangen sind. Warum? Alle
hatten nur ein Ziel: Profitmaximierung.
Man hat alles an die Seite gedrängt, was
dem im Weg stand.“
Wollten vielleicht viele aber auch ein-
fach nicht so genau wissen, was da passier-
te? Er habe selbst Jahre gebraucht, um alle
Details zu verstehen, sagt S.. „Deswegen
ziehen sich heute so viele auf die Schutzbe-
hauptung zurück, sie hätten ja gar nicht ge-
wusst, wie das alles funktioniert.“
S. ist für seine Aussage aus der Schweiz
angereist. Er hat seinen Auftritt so minuti-
ös vorbereitet, dass die Staatsanwältin am
Ende keine Fragen mehr stellt. Seine An-
wälte gehören zu den besten ihres Fachs
und sicher nicht zu den günstigsten. Sie
weichen ihm nicht von der Seite. Als PR-Be-
rater hat er einen Mann dabei, der früher
die Kommunikation von Konzernen mit
Milliardenumsätzen leitete – und dann
noch dazu zwei Medienrechtsanwälte. So-
lange es geht, er nicht angeklagt oder gar
verurteilt ist, soll sein Name nicht in Verbin-
dung mit Cum-Ex in die Öffentlichkeit,
nicht zuletzt wegen seiner neuen Existenz
in der Schweiz, mit einer neuen Anwaltsfir-
ma. Deren Webseite zeigt links oben das
Bid eines Vogelkäfigs, der an einem Seil
baumelt. Die Tür des Käfigs steht offen,
und ein kleiner Vogel fliegt davon.

Und dann sagte er:
‚Wenn jemand ein Problem damit hat,
dass wegen unserer Arbeit weniger Kindergärten
gebaut werden: Da ist die Tür.‘“

Der Kronzeuge über seinen Ziehvater

32 WIRTSCHAFT REPORT Samstag/Sonntag,2./3. November 2019, Nr. 253 DEFGH


Die Kölner Staatsanwältin Anne Brorhilker (rechts) hat etliche Cum-Ex-Beteiligte
zum Reden gebracht. Sie ermittelt in mehreren Dutzend Verfahren.

Sie stellen sich der Anklage: Zu den Prozesstagen reisen die Angeklagten Martin S.
(nicht im Bild) und Nick D. aus Großbritannien und Irland an.

„Alle wussten Bescheid“: Drei Tage lang sitzt ein Mann im Zeugenstand, der die Aufklärung der größten Steueraffäre entscheidend vorangebracht hat. Der Auftritt des Rechtsanwalts wirkt einstudiert. FOTOS: LUKAS SCHULZE

Der erste Zeuge


Banken, Top-Anwälte und Aktienhändler haben jahrelang mit


Steuertricks die Staatskasse geplündert. Nun gibt ein Insider im ersten


Cum-Ex-Strafprozess einen schonungslosen Einblick in den Finanzskandal



  • und in die Gedankenwelt von Geldjongleuren, für die ihr Profit alles ist


von jan willmroth und nils wischmeyer


Irgendwann ging es nicht mehr


um dienächste Million. Es ging


darum, dass es weiterläuft


Die Webseite seiner neuen
Kanzlei zeigt einen Käfig,
aus dem ein Vogel entfliegt
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