Süddeutsche Zeitung - 02.11.2019

(Barré) #1
von jan schwenkenbecher

D

urch einen Tunnel fährt er auf
ein starkes Licht zu. Dort sind
auch andere Leute, die er aber
nicht erkennen kann. Dann
landet er in einer kristallenen
Stadt, durch sie hindurch schlängelt sich
ein Fluss mit wunderbar klarem Wasser.
Wunderschöne Menschen laufen umher
und singen wunderschöne Lieder, ihm
kommen die Tränen. Aber dann entschei-
det Gott, dass seine Zeit noch nicht reif ist


  • und der Mann kehrt auf die andere Seite
    des Lebens zurück. Dort spürt er, wie je-
    mand stark auf seinen Brustkorb drückt.
    Er sieht einen Mann in blauer Arztklei-
    dung, einen dicken Mann, unter dessen
    Mütze er eine Glatze erkennt. Und von ir-
    gendwoher hört er eine Stimme: „Schockt
    den Patienten!“
    Der Mann, der dieses Erlebnis schil-
    dert, ist nicht irgendein Patient, er ist der
    Star-Patient der sogenannten Aware-Stu-
    die, der wohl größten und aufwendigsten
    Untersuchung zum Thema Nahtoderfah-
    rung. Der US-amerikanische Psychiater
    Raymond Moody prägte in den 1970er-Jah-
    ren den Begriff als eine „bewusste Wahr-
    nehmungserfahrung, die während eines
    Ereignisses stattfindet, in dem eine Per-
    son sehr leicht sterben oder getötet wer-
    den könnte, aber dennoch überlebt“. Moo-
    dy stellte auch gleich eine Liste zusammen
    mit Dingen, die diese „bewusste Wahrneh-
    mungserfahrung“ sein können.
    So hören einige Menschen während ei-
    ner Nahtoderfahrung, also auf der Schwel-
    le zwischen Leben und Tod, bestimmte Ge-
    räusche, oft ein Surren oder Klingeln, an-
    dere wollen eine Art Tunnel mit einem hel-
    len Ausgang gesehen haben. Wieder ande-
    re fühlen sich extrem entspannt, schmerz-
    befreit und friedlich. Ein paar treffen auch
    andere Menschen oder steigen in den Him-
    mel auf. Immer wieder beschreiben Patien-
    ten sogenannte „außerkörperliche Erfah-
    rungen“, bei denen der Sterbende die Um-
    welt um sich herum zwar wahrnimmt, da-
    bei aber empfindet, er habe seinen eige-
    nen Körper verlassen und schwebe im
    Raum.
    Psychiater Moody kam auf diese Liste,
    nachdem er etwa 150 Menschen befragt
    hatte, wie das so sei: dem Tod nahe zu sein.
    Er wollte nichts weniger, als eine Antwort
    auf die Fragen aller Fragen zu finden: Was
    genau ist eigentlich der Tod? Und wie fühlt
    er sich an? Bei seinen Untersuchungen leg-
    te Moody keinen allzu großen Wert auf Sta-
    tistik, was ihn aber nicht davon abhielt, sei-
    ne Ergebnisse 1975 in einem Buch mit dem


schönen Titel „Life after Life“ zu veröffent-
lichen. Und trotz wissenschaftlicher Unge-
nauigkeiten schaffte er es damit, das The-
ma „Nahtoderfahrungen“ gleich auf zwei
große Bühnen zu heben.
Die erste große Bühne war die der Wis-
senschaft. Fortan – so schien es – zeigten
sich Forscher diverser Disziplinen interes-
siert an dem Thema. Bis zum Jahr 2005
sollten schließlich, wie man im „Hand-
book of Near-Death Experiences“ nachle-
sen kann, etwa 600 wissenschaftliche Auf-
sätze zu dem Thema erscheinen. In ihnen
analysieren die beteiligten Forscher etwa
3500 Nahtod-Berichte.
Die zweite Bühne, und diese scheint bei
diesem Thema nicht weniger wichtig zu
sein, ist die der Popkultur. Seit jeher be-
geistern sich zahlreiche Buchautoren und
Fernseh-Programmdirektoren für die
Schwelle ins Jenseits. Nicht immer geht es
dabei wissenschaftlich fundiert zu. Licht
am Ende des Tunnels, außerkörperliche

Erfahrungen und schöne umherlaufende
Menschen – das klingt sehr nach dem, wie
sich viele Menschen den Weg in den Tod
vorstellen und auch wünschen. Es ist der
Wunsch nach einem friedlichen Ende oh-
ne Schmerz und Qual, einem Ende, nach
dem etwas Neues, Schönes und auch Span-
nendes beginnt. Hauptsache etwas und
nicht nichts. Und viele jener Menschen,
die eine solche Nahtoderfahrung beschrei-
ben, sehen in ihren Erlebnissen die ultima-
tive Antwort auf eine weitere große Frage
der Menschheit: „Ja, es gibt Gott“, sagen
sie, „es gibt ein Jenseits!“
„Heavenly Tourism“ wird gar als eige-
nes Buchgenre gehandelt, nicht immer
mit vollem Ernst. Besonders erfolgreich
sind dabei allerdings vor allem jene Him-
melsberichte, die von Wissenschaftlern
stammen. 2012 veröffentlichte etwa der

Neurochirurg Alexander Eben das Buch
„Proof of Heaven“, dessen deutsche Über-
setzung mit „Blick in die Ewigkeit“ etwas
zurückhaltender betitelt ist. Eben schil-
dert darin seine persönliche Nahtoderfah-
rung, ausgelöst durch eine bakterielle Me-
ningitis, die ihn ins Koma brachte. Auf sei-
nem Weg in Richtung Tod will er das Jen-
seits betreten haben, mehr noch, er habe
Gott getroffen. Man mag diese Schilderun-
gen für Hokuspokus halten und vermu-
ten, dass ein solches Buch schnell auf dem
Flohmarkt in der Wühlkiste landet. Doch
es kam anders: „Proof of Heaven“ stand
über Monate auf derNew York Times-Best-
sellerliste für Nonfiction.
Ähnlich bekannt wurde 2012 das Buch
„Einmal Himmel und zurück“ von der
Chirurgin Mary Neal. Auch sie schildert ih-
re Nahtoderfahrung, als sie bei einem Ka-
jakunfall minutenlang unter Wasser ge-
drückt wurde. Beide Bücher waren ein Er-
folg, der Umsatz beachtlich, und so legten
beide Autoren weitere Titel nach.
Auch wegen solcher Bestseller sieht
sich die evidenzbasierte Wissenschaft im-
mer mehr mit der Frage konfrontiert: Was
soll man seriös antworten, wenn Men-
schen nach den letzten Dingen beim Ster-
ben fragen? Denn es liegt nun mal in der
Natur der Wissenschaft, dass sie niemals
beweisen können wird, dass es keinen
Gott und kein Jenseits gibt. Was sie aber
kann: erforschen, wie sich die Erfahrungs-
berichte der Menschen, die sich übrigens
auffällig häufig ähnlich sind, erklären las-
sen.
Das Problem ist, dass eine seriöse For-
schung, die zu diesem Thema reproduzier-
bare und vergleichbare Daten erzeugen
möchte, extrem schwierig ist. Denn Men-
schen, die dabei sind, die Schwelle zum
Tod zu überschreiten, tun dies in aller Re-
gel nicht im Labor unter kontrollierten Be-
dingungen, sondern eher im Straßengra-
ben oder auf der Intensivstation.
Dennoch gibt es mittlerweile einige Er-
kenntnisse. Etwa die, dass Nahtoderfah-
rungen gar nicht so selten sind, wie es den
Anschein haben mag. Anfang des Jahres
veröffentlichten zwei Mediziner der Unikli-
nik Kopenhagen die Ergebnisse einer Stu-
die, für die sie 1034 Personen aus 35 Län-
dern zu Nahtoderfahrungen befragt hat-
ten. 289 von ihnen gaben an, schon einmal
eine solche erlebt zu haben. Diesen Men-
schen legten die Wissenschaftler die
„Greyson Near Death Experience Scale“
vor – einen Fragebogen, den der US-Psych-
iater Bruce Greyson Anfang der 80er-Jah-
re entwickelte, um Nahtoderfahrungen et-
was genauer einstufen zu können. 106 Teil-

nehmer erreichten sieben oder mehr von
32 möglichen Punkten und überschritten
damit die von Greyson einst festgelegte
Grenze: Jeder zehnte Patient der Aus-
gangsstichprobe hatte der Skala zufolge
tatsächlich eine Nahtoderfahrung gehabt.
Die Ergebnisse bestätigten frühere Stu-
dien, die auf ähnliche Werte kamen, ihre
Ausgangsstichproben allerdings oftmals
beschränkten, etwa auf Patienten mit ei-
nem Herzstillstand.
So war es auch in der größten bisher
durchgeführten Studie zum Thema, der
Aware-Studie – ein Versuch, wissenschaft-
liche Erklärungen für die Nahtodschilde-
rungen zu finden. Hierfür schlossen sich
15 Kliniken aus den USA, Großbritannien
und Österreich zusammen und protokol-
lierten vier Jahre lang den Verlauf von ins-
gesamt 2060 Patienten mit Herzstillstand.
Viele Studienteilnehmer verstarben, ohne
dass man sie hätte befragen können. Und
von jenen Patienten, die überlebten,

waren viele nicht fit genug für die intensi-
ven Befragungen oder konnten sich
schlicht nicht an Todesszenen erinnern.
Übrig blieb nur ein einziger Patient, er wur-
de zum Star der Studie, und dieser schil-
derte schließlich die eingangs erwähnte
Szene.
Tatsächlich schien der Star-Patient, das
ergab der Abgleich seines Berichts mit
dem dokumentierten Behandlungsproto-
koll, etwa drei Minuten seiner eigenen Wie-
derbelebung mitbekommen zu haben.
Und das, obwohl er nicht bei Bewusstsein
gewesen zu sein schien. Zu diesen Erinne-
rungen mischten sich dann anscheinend
Eindrücke, die im Gehirn des Patienten
entstanden waren.
Ein gängiger Erklärungsversuch für die
Schilderungen von Nahtod-Patienten ist
nämlich eine überhöhte neuronale Aktivi-

tät in verschiedenen Hirnregionen. Das be-
rühmte Tunnel-Erlebnis etwa könnte auf-
kommen, weil es im Gehirn mehr Zellen
für den mittleren Sehbereich gibt. Durch
willkürliches Neuronen-Gefeuer könnte
so eine Art Tunnelmuster entstehen: in-
nen mehr, außen weniger. Die „außerkör-
perliche Erfahrung“ wiederum ließe sich
mit einer Hyperaktivität im temporoparie-
talen Übergang erklären, also in jenem
Teil des Gehirns, der wesentlich für das
Selbstkonzept des Menschen mitverant-
wortlich ist. Die Visionen und Erinnerun-
gen in den späteren Stadien entstehen
durch Überaktivität in den Temporallap-
pen, die Emotionen aus einer Flut von En-
dorphinen, die auch durch Sauerstoffman-
gel ausgelöst wird.
Susan Blackmore, Professorin für Psy-
chologie an der Universität von Plymouth,
sieht besonders im Sauerstoffmangel, wie
er etwa durch einen Herzstillstand ent-
steht, einen Erklärungsansatz. Denn wenn
das Gehirn kein Blut und damit auch kei-
nen Sauerstoff mehr bekommt, schaltet es
binnen Sekunden in eine Art Energiespar-
modus. Zwar können die Zellen so einige
Minuten überleben, doch wenn auch die
letzten Ressourcen aufgebraucht sind,
fällt die Spannung zwischen den Nerven-
zellen in sich zusammen. Im EEG kann
man das als Welle beobachten, die sich
über das Gehirn hinweg ausbreitet – For-
scher haben das zunächst bei Ratten und
Katzen beobachtet, später bei Affen. 2018
gelang es einem Team der Berliner Chari-
té, die Welle auch bei Patienten zu messen.
Noch aber herrscht Unklarheit, ob es sich
hierbei um ein letztes Aufbäumen des ster-
benden Gehirns handelt, also um jenes
Neuronenfeuer, das die geschilderten Er-
lebnisse erklären könnte.
Auch könnte die jeweilige kulturelle Prä-
gung des Patienten eine Rolle spielen. „Es
gibt gläubige Christen, die erzählen, sie ha-
ben an der Pforte zum Himmel gestan-
den“, sagt Susan Blackmore.
Außerdem scheinen sich Berichte über
den Nahtod ausgerechnet in einer Zeit zu
häufen, in die Medizin immer professionel-
ler wird. Denn auch das Sterben hat sich
im Zeitalter einer Hightechmedizin verän-
dert. Mit einem engen Netz aus Rettungs-
dienst, Schockraum und Intensivmedizin
gelingt es heute deutlich besser als früher,
sehr kranke oder schwer verletzte Patien-
ten am Leben zu halten. Sterben ist kein Zu-
stand, sondern ein Prozess, und es ist die
große, bislang unbeantwortete Frage, was
genau eigentlich passiert, wenn man in die-
sen Prozess von außen mit Beatmungsma-
schine und Herzdruckmassage eingreift.

von christian weber

M


ag sein, dass es sie tatsächlich
gibt, die, nun ja, kalten Glaziolo-
gen, die es gar nicht stört, wenn
ihr Forschungsobjekt schmilzt, im Gegen-
teil: Was sich da nicht alles tut im gestör-
ten Ökosystem! Tieren und Pflanzen wan-
dern, Wasserkreisläufe und Mikroklima
ändern sich. So ein Gletscher im Wandel
ist wissenschaftlich viel interessanter als
ewiges Eis, das so vor sich hinruht. Das ist
wie bei den Linguisten an den Universitä-
ten, die eher mit Interesse als Bestürzung
den Sprachwandel beobachten und ge-
nervt reagieren, wenn Zusammenrottun-
gen organisierter Deutschlehrer den Du-
den mit der Bibel verwechseln.
Und doch ist es wahrscheinlich für die
meisten Wissenschaftler ein Unter-
schied, ob sie den Niedergang des Geni-
tivs oder jenen des Great Barrier Reefs do-
kumentieren. „Der Verlust geschätzter
Spezies, Ökosysteme und Landschaften
löst tiefe Trauer in Menschen mit einer
emotionalen Verbundenheit zur Natur
aus“, warnt jetzt zu Recht ein Autoren-
team um den Marinebiologen Tim Gor-
don von der britischen University of Exe-
ter im WissenschaftsmagazinScience.
Tatsächlich sind wohl die meisten Um-
weltwissenschaftler eher Naturliebha-
ber, die unter ihren manchmal bedrü-
ckenden Erkenntnissen zur Zukunft des
Planeten gar nicht selten auch psychisch
leiden. Erste Studien deuten darauf hin.
Es ist ein Thema, das man nicht ignorie-
ren oder unterdrücken sollte, bloß weil
Emotionen in der Wissenschaft angeb-
lich nichts zu suchen haben.


Zum einen geht es um die Forscher
selbst. Sie haben es, so wie jeder Mensch,
verdient, dass man ihr Leid ernst nimmt.
Man kann sicher streiten, ob man des-
halb gleich, so wie es dieScience-Autoren
vorschlagen, eine psychologische Betreu-
ungskette für Klimaforscher und Ökolo-
gen aufbauen sollte, ähnlich wie im Katas-
trophenschutz oder bei militärischen Ein-
sätzen. Ein psychiatrisches Debriefing
nach jeder Polar-Expedition scheint ein
wenig übertrieben. Viel gewonnen wäre
bereits, wenn die Forscher frei über ihre
psychische Belastungen reden könnten,
vielleicht mal in einem eigenen Forum
auf der nächsten Konferenz?
Zugleich aber könnten die Sorgen der
Umweltforscher ein Anlass sein, um über-
haupt mal systematisch nachzudenken
über die Rolle von Emotionen im Prozess
der Erkenntnisgewinnung. Analysieren
ließe sich etwa, wie Geltungssucht For-
scher auf falsche Fährten führt. Oder wie
die Sorge um Natur und Menschen einen
Forscher nicht nur lähmen, sondern auch
beflügeln kann. Vieles spricht dafür:
Wer eine gelungene emotionale Bezie-
hung zum Objekt seiner Forschung entwi-
ckelt, wird wahrscheinlich erfolgreicher
sein als ein gefühlskalter Buchhalter der
Wissenschaft, sei es im Labor oder in der
Natur.


DEFGH Nr. 253, Samstag/Sonntag, 2./3. November 2019 33


WISSEN


Christian Weber wünscht
sich, dassForscher offen
über ihre Gefühle sprechen.

In Berichten zum Nahtod ist oft die Rede von Geräuschen oder einem Tunnel mit hellem Ausgang. FOTO: IMAGO

178 Meter lang und martialisch
bewaffnet: Russlandbaut ein
gigantisches U-Boot  Seite 34

Meeresmonster


Am Ende das Licht


VieleMenschen wollen an der Schwelle zum Tod bereits das Jenseits und Gott gesehen haben.


Neurowissenschaftler bevorzugen für solche Nahtoderfahrungen allerdings eher simple Erklärungen


GEFÜHLE

Heult doch,


ihr Forscher


UNTERM STRICH

ZEIT

122 Tage
würde die Lektüre der 32 Bände
derEncyclopædia Britannica mit ihren
44 Millionen Wörtern dauern

(*250 Wörter pro Minute, 24 Stunden pro Tag)
SZ-Grafik: Sead Mujić; Quelle: Wikipedia / eigene Berechnung

25,1 Jahre
bräuchte ein durchschnittlicher Leser* für
dieLektüre der gesamten englischsprachigen
Wikipedia mit ihren 3,3 Milliarden Wörtern

Man sollte systematisch über


die Rollevon Emotionen in der


Wissenschaft nachdenken


Viele sehen in ihren
Erlebnissen die ultimative
Antwort auf eine
der größten Fragen
der Menschheit

Übersinnliche Erfahrungen im
Krankenbett häufen
sich in einer Zeit,
in der die Medizin
immer professioneller wird
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