Süddeutsche Zeitung - 02.11.2019

(Barré) #1
interview: claudio catuogno

A

n diesem Sonntag findet auf der
Rennbahn in München-Riem
der „Große Preis von Bayern“
statt, das letzte Gruppe-I-Ren-
nen der deutschen Galopp-Sai-
son. Dann gilt es Bilanz zu ziehen: Hat sich
der Rennsport wenigstens ein bisschen
vom Abgrund entfernt? Findet er Wege aus
der Abwärtsspirale? Dafür zuständig ist
seit anderthalb Jahren Michael Vesper, 67.
Im Sport ist Vesper gut bekannt, von 2006
bis 2017 war er Generaldirektor, dann Vor-
standschef im Deutschen Olympischen
Sportbund (DOSB). Davor: Minister für
Städtebau und Wohnen sowie stellvertre-
tender Ministerpräsident für die Grünen
in Nordrhein-Westfalen. Im März 2018
wurde Vesper überraschend zum Präsiden-
ten des Direktoriums für Vollblutzucht
und Rennen (DVR) gewählt – er ist jetzt der
oberste Repräsentant des deutschen Ga-
lopprennsports. Nicht, weil Vesper ein
Galopp-Fachmann gewesen wäre. Eher ist
er ein Fachmann für schwierige Fälle.


SZ: Herr Vesper, der Galopprennsport ist
ein spezielles Milieu: Millionäre mit ihren
Gestüten prallen auf Trainer, Stallmen-
schen. Dazu die Wetter. Und die edlen Voll-
blüter mit ihren Zuchtlinien. Können Sie
schon anerkennend mitder Zunge schnal-
zen, wenn ein Pferd von Soldier Hollow
oder Acatenango abstammt?
Michael Vesper: Für mich war das am An-
fang eine neue und extrem spannende
Welt. Ähnliches habe ich in der Politik und
später beim DOSB aber auch erlebt: dass
ich mich in ein Thema und mit ihm in ein
Umfeld neu einfinden musste. Und ja: Bei
manchen Namen – der Hengst Waldgeist
etwa, der gerade in Paris den Prix de l’Arc
de Triomphe gewonnen hat, oder Laccario,
der Sieger des Deutschen Derbys –, da krie-
ge auch ich schon Gänsehaut.
Sie sind häufig bei den Renntagen.
Ja, ich kenne nun die Akteure, die Besitzer
und Züchter, die Jockeys und Trainer und
auch die Gestüte. Und ich habe mittlerwei-
le ein Feeling dafür, was Vollblutzucht be-
deutet. Wir haben vor drei Wochen 150 Jah-
re Schlenderhan gefeiert, das älteste priva-
te Gestüt in Deutschland. Man kann da
alles zurückverfolgen auf bestimmte Mut-
terstuten und Hengste – wie gesagt: eine
faszinierende Welt.
Zu der auch das Wetten gehört. In Ihrem
alten Job, beim Olympia-Sport, waren
Sportwetten eher verpönt ...
... aber bei Galopprennen ist Wetten wirk-
lich das Salz in der Suppe. Für die zwei
Minuten des Rennens ist man gewisser-
maßen ein heimlicher Mitbesitzer des Pfer-
des, auf das man setzt.


Ihr bisher höchster Gewinn?
Es geht mir ja nicht ums Geldverdienen,
sondern um den Kitzel. Den hat man schon
mit kleineren Beträgen. Ich setze in der
Regel bis zu zehn Euro. In Hamburg habe
ich aber mal eine Zweierwette getroffen ...
... also den Sieger und den Zweiten richtig
getippt ...
... da habe ich richtig was rausbekommen.
Sicher kriegen Sie jetzt die Geheimtipps!
Die sogenannten todsicheren Tipps, die
ich tatsächlich kriege ... sagen wir mal so:
Die führen auch nicht immer zum Erfolg.
Ihr Vorgänger Albrecht Woeste stammte
aus einer Industriellenfamilie, er hat im
Zweifel auch mit Privatvermögen die Lö-
cher gestopft. Das ist bei Ihnen nicht mehr
das Jobprofil, Sie machen das beruflich.
Es ist weiterhin ein Wahlamt, aber meine
Tätigkeit wird – wie übrigens auch schon
vor Herrn Woeste – vergütet.
Wie sehr kriegen Sie zu spüren, dass Sie
keinen Stallgeruch mitbringen?
Ich fühle mich längst im Stall angekom-
men und angenommen! Als ich für das
Amt angesprochen wurde, war klar: Man
wollte nicht einen weiteren Galoppfach-
mann, sondern einen Präsidenten, der den
Sport insgesamt repräsentiert, gegenüber
Öffentlichkeit und Politik, und der über
ein Netzwerk verfügt.
In Ihren Gremien sitzen viele Leute, die
den Sport als Ganzes im Blick haben sol-


len, aber immer mitdenken: Was bringt
mir dieses und jenesals Besitzer,als Züch-
ter? Wie schwer ist es, dieses Geflecht aus
Privatinteressen aufzubrechen?
Es ist sicher eine Eigenart dieses Univer-
sums, dass hier fast jeder mehrere Hüte
aufhat. Die Züchter sind meist auch Besit-
zer, viele sitzen wiederum in den Präsidien
der Rennvereine. Also geht es oft darum,
Interessen auszugleichen. Ich profitiere da
übrigens von meiner Erfahrung in zehn
Jahren rot-grüner Koalition in NRW, als es
oft darum ging, Kompromisse zu finden.
Überschneidungen mit Ihren Aufgaben
beim DOSB gibt es aber nicht so viele?
Doch, durchaus. Wir hatten ja auch im
olympischen Sport ein Aufmerksamkeits-
defizit jenseits der Spiele. In den vier Jah-
ren dazwischen kommen viele Sportarten
medial fast nicht vor. Wir haben damals
das „Team D“ geschaffen und den DOSB
neu gebrandet – Dinge, die jetzt im Direkto-
rium auch anstehen, und bei denen ich mei-
ne Erfahrungen einbringen kann.
Aber die großen Baustellen liegen doch
woanders. Der Galoppsport finanziert
sich ganz überwiegend aus den Wettum-
sätzen, und die sind in den letzten 25 Jah-
ren um etwa 80 Prozent zurückgegangen.
Zumindest auf den Rennbahnen ist das so,
da haben wir derzeit etwa 25 Millionen Eu-
ro Wettumsatz pro Jahr, es waren schon
mal deutlich mehr als 150 Millionen.
Neues Branding wird da nicht reichen.
Deshalb sprechen wir über ein ganzes Maß-
nahmenbündel. Vor allem muss es uns ge-
lingen, aus dem Rennbahnbesuch wieder
ein trendiges Ereignis für die ganze Fami-
lie zu machen. Wir haben dazu zwei Stu-
dien in Auftrag gegeben. Bei beiden ist her-
ausgekommen, dass es Riesenpotenziale
gibt. 14 Prozent der 16- bis 65-Jährigen ha-
ben angegeben, dass sie sich für Galopp-
rennen interessieren, das sind mehr als sie-
ben Millionen Menschen. Mehr als ein Drit-
tel der Bevölkerung hat schon mal eine
Rennbahn besucht, vor allem zusammen
mit Freunden oder dem Partner, der Part-
nerin. Es handelt sich um ein urbanes sozia-
les Gemeinschaftserlebnis. Die Atmosphä-
re wird geschätzt. Rund drei Viertel der Be-
sucher wollen wiederkommen und den Be-
such weiterempfehlen.
Jetzt müssen Sie dieses potenzielle Publi-
kum aber noch überzeugen. Wie?
Über das Weitererzählen, persönlich, aber
auch in den sozialen Netzwerken. Die Renn-
bahnen müssen vor Ort wieder stärker ins
Zentrum des Bewusstseins rücken. Es gibt
Bahnen, die neben den Rennen ein hochat-
traktives Programm haben, Konzerte,
Events. In Köln haben wir während der
Fußball-WM 2018 Deutschland-Spiele
übertragen. Und warum soll man nicht mal
ein Pferd gegen einen Radrennfahrer antre-
ten lassen? Man muss den Mut haben,
auch ungewöhnliche Angebote zu machen.
Wenn Sie das in den Gremien vortragen,
sagen bestimmt viele: Das haben wir aber
die letzten 35 Jahre auch nicht gemacht.
Ich erlebe im Rennsport eine große Aufge-
schlossenheit für Neues.
Sie haben die digitalen Verbreitungswege
angesprochen, gerade, wenn es um neues
Publikum geht. Da konkurrieren Sie mit
Netflix, YouTube, Instagram um die raren
Aufmerksamkeitsfenster der Leute.
Richtig. Gerade im Digitalen, aber auch im
Fernsehen, müssen die Leute angelockt
werden durch die Bilder, die sie von Ga-
lopprennen sehen. Deswegen werden wir
demnächst unsere Bildproduktion sub-
stanziell verbessern. Die war bisher allein
auf die Wetter ausgerichtet, fast immer
werden die Rennen in der Totalen gezeigt.
Jetzt arbeiten wir an Formaten, bei denen
man die Faszination, die von der gemeinsa-
men Bewegung von Tier und Mensch aus-
geht, wirklich miterleben kann. Durch Ka-
meras in der Startbox, durch Nahaufnah-
men, Zeitlupen. Auch durch Grafiken, wel-
ches Pferd gerade an erster, zweiter, drit-
ter Stelle liegt. Wir wollen den modernen
Sehgewohnheiten entsprechen.
Was die Wettumsätze auf den Bahnen an-
geht,haben Sie jüngst eine erfreuliche Mel-
dung herausgegeben: Von fünf Prozent
Umsatzplus war die Rede, bei Sieg- und
Platzwetten von fast 20 Prozent. Sie nann-
ten das „die erhoffte Trendumkehr“ und
„die höchste Steigerung seit 27 Jahren“.
Wie haben Sie das erreicht? Indem Sie we-
niger Kosten abziehen – und die Wetter
mehr herauskriegen aus dem Topf?
Ohne es zu kompliziert zu machen: Bei den
Sieg- und Platzwetten, also den Standard-
Wettarten, sind früher 22 Prozent und
mehr abgezogen worden, wir haben das

auf einheitlich 15 Prozent reduziert. In der
Hoffnung, dass dadurch die Angebote at-
traktiver werden, die Umsätze steigen –
und sich das Ganze von selbst trägt. Wenn
wir auf Dauer weniger attraktive Quoten
haben als die Buchmacher oder ausländi-
sche Wettveranstalter, dann ist das eben
ein Problem. Das war eine Riesenoperati-
on, die wir lange und kontrovers diskutiert
haben, und dann haben wir sie gewagt.
Wenn man zwar etwas mehr Umsatz
macht,davon aber deutlichweniger einbe-
hält – dann macht man doch erst mal weni-
ger Gewinn. Oder?
Der Break-even dieser Maßnahme ist noch
nicht erreicht, deshalb haben wir einen fi-
nanziellen Ausgleich zur Verfügung ge-
stellt für die ersten beiden Jahre. Danach
muss sich das selbst tragen. Entscheidend
aber ist schon jetzt, dass es eine Aufbruch-
stimmung gibt. Der Rennsport war es zu-
letzt gewohnt, dass die Umsätze runtergin-
gen – jetzt sind sie seit Jahren erstmals ge-
stiegen. Da geht es auch um Psychologie.
Wir müssen aus dem Jammertal raus!
Als die Headhunter des Direktoriums bei
Ihnen gelandet sind, waren Ihre Kontakte
in die Politik ein Punkt. Die scheinen nö-
tig zu sein, wenn wir über ein weiteres
Thema sprechen, das den Galopp bewegt:
die Rennwettsteuer-Rückerstattung.

Da bin ich jetzt mal gespannt, wie wir die-
ses Thema verständlich rüberbringen.
Aber es stimmt, das ist eine meiner vielen
Aufgaben. Seit 2012 geht dem Rennsport
viel Geld verloren, weil damals bei der Neu-
ordnung der Sportwetten-Gesetzgebung
eine Formulierung gewählt wurde, die
nicht das aussagt, was beabsichtigt war ...
Die Gesetze, um die es geht, reichen zum
Teil zurück in die Kaiserzeit. Seit damals
ist die Vollblutzucht eine staatliche Aufga-
be, die der Staat aber an den Rennsport
delegiert hat. Und weil Sie diese Aufgabe
finanzieren müssen, fließt von den Steu-
ern, die der Staat auf Pferdewetten erhebt


  • anders als etwa bei Fußballwetten –,
    fast alles an den Rennsport zurück: 96 Pro-
    zent. 2012 sind die Steuern auf Pferdewet-
    ten gesenkt worden ...
    ... und zwar sehr deutlich: von 16,7 auf nur
    noch fünf Prozent ...
    ... im Gegenzug wurde aber festgelegt,
    dass nun auch die Buchmacherwetten von
    der Steuer erfasst werden, nicht mehr nur
    die Wetten auf den Bahnen. Auch von die-
    sen Steuern kriegt der Rennsport jetzt the-
    oretisch 96 Prozent zurück.
    Das ist die neue Gesetzeslage. Allerdings
    führt die erwähnte Formulierung dazu,
    dass die Rückerstattung nur von jenen
    Buchmachern an uns fließt, die ihren Sitz


im Inland haben. Viele haben ihren Sitz
aber aus steuerlichen Gründen etwa nach
Malta verlegt. Zwar zahlen auch sie die
Steuern, das Geld kommt bei der deut-
schen Finanzverwaltung an. Aber es fließt
nicht an den Rennsport. Erfreulicherweise
hat die Bundesregierung jetzt vorgeschla-
gen, das Gesetz entsprechend anzupassen.
Um wie viel Geld geht es da?
Wir rechnen mit etwa einer Million Euro
pro Jahr – einer Größenordnung, die für
unsere Rennvereine unglaublich wichtig
ist. Dafür kämpfen wir.
Nun hat aber der Bundesrat gerade gefor-
dert, alles so zu lassen, wie es ist.
Aber die Bundesregierung bleibt bei ihrem
Vorschlag. Jetzt liegt die Sache im Finanz-
ausschuss, dann hoffen wir natürlich, dass
der Bundestag entsprechend beschließt
und der Bundesrat am Ende zustimmt.
Wie sehr wurmt es Sie als ehemaliger grü-
ner Minister, dass das grün regierte
Baden-Württemberg im Bundesrat den
Widerstand anführt?
Nein, von „Widerstand“ würde ich nicht
sprechen. Ich habe vielen Beteiligten unse-
re Position erläutert und treffe auf großes
Verständnis. Gerade bei Ländern, die gro-
ße Bahnen haben, wie Baden-Württem-
berg mit Iffezheim, wäre eine Ablehnung
nicht erklärbar.

Die Bahn in Iffezheim bei Baden-Baden,
wo die traditionsreiche Große Rennwo-
che stattfindet, wird vom Rennsport mit
550 000 Euro pro Jahr subventioniert. Un-
ter anderem dafür könnten Sie die Steuer-
rückerstattung gut gebrauchen?
Die Unterstützung von Baden-Baden, das
für uns mit seinen Meetings systemrele-
vant ist, haben wir auf zwei Jahre befristet.
Natürlich würde unsere wichtigste Bahn
unmittelbar profitieren, wenn in Zukunft
auch die Steuern ausländischer Buchma-
cher an sie rückvergütet würde. Wir benöti-
gen diese Mittel, um den Rennsport insge-
samt zu erhalten.
Derzeit landet das Steuergeld inden Haus-
halten der Länder, und das wieder herzu-
geben, fällt einigen offenbar schwer.
Die Einnahmen der Länder aus den Sport-
wetten sind seit 2012 von 150 auf mehr als
400 Millionen geradezu explodiert, mit
steigender Tendenz. Da werden sie die ei-
ne Million verschmerzen. Seit fast 100 Jah-
ren werden die Zucht und der Rennsport
aus der Steuerrückvergütung gefördert.
Wir finanzieren mit diesem Geld etwas
Sinnvolles: Wir erhalten die Vollblutzucht.

Warum mussdas denn eine staatliche Auf-
gabe sein? Es gibt ja heute keine Kavalle-
rie mehr, und auch für den Ackerbau wer-
den Pferde nicht mehr benötigt.
Galopp ist der älteste organisierte Sport in
Deutschland, ein Kulturgut seit 200 Jah-
ren. Schauen Sie sich die tollen Rennbah-
nen an, ob in Berlin-Hoppegarten, in Ba-
den-Baden, in Hamburg, Köln, Düsseldorf,
München und an vielen weiteren Orten:
Die sind unbedingt zu erhalten. Wenn man
sieht, wie der Galopp in Großbritannien ge-
fördert wird, welchen Stellenwert er in
Frankreich hat, müssen wir da auch kein
schlechtes Gewissen haben. Ganz überwie-
gend wird der Sport privat finanziert und
trägt sich selbst, das Geld fließt in Arbeits-
plätze auf den Bahnen und in den Gestü-
ten. Und die deutschen Pferde sind ein Ex-
portartikel. Wir erleben gerade einen riesi-
gen Erfolg von in Deutschland gezüchte-
ten Pferden, und es wäre ein Irrsinn, das al-
les zu gefährden. Ein Thema ist mir in dem
Zusammenhang aber auch noch wichtig ...
Welches?
Der Tierschutz. Das Wichtigste ist für uns
das Wohlergehen der Pferde. Deshalb
legen wir sehr großen Wert darauf, dass sie
ordentlich gehalten und von Fachtier-
ärzten begleitet werden.
Haben Sie da bei IhremAmtsantritt Defizi-
te festgestellt?
Das nicht, aber es gibt Vorurteile. Dabei
wissen die Verantwortlichen sehr genau,
dass die Pferde die Hauptpersonen unse-
res Sports und damit ihr größtes Kapital
sind. Sie lieben ihre Tiere. Und wir arbeiten
jetzt auch verstärkt daran, was nach der
Rennkarriere passiert.
Die dauert ja gerade bei Vollblütern nur
wenige Jahre.
Dann werden sie Deckhengst, Mutterstute


  • oder auch Freizeitpferd. Wir arbeiten an
    Modellprojekten für einen guten Lebens-
    abend, beispielsweise auf Reiterhöfen.
    Ursprünglich waren die Startbedingun-
    gen für den großen Zukunftsumbau des
    Rennsports ziemlich ideal: 2016 hat das
    Direktorium seine Anteile am Wettanbie-
    ter Racebets verkauft und 15 Millionen Eu-
    ro eingenommen. Ist davon noch was da?
    Natürlich. Aber zunächst mussten ja die be-
    dient werden, die den Kauf von Racebets
    einige Jahre davor ermöglicht hatten. Und
    dann sind manche Löcher gestopft wor-
    den, um Rennen und Renntage zu halten.
    Nun haben Sie Gutachten bezahlt, Sie stüt-
    zenBaden-Baden, sie zahlen Zuschüssezu
    Rennpreisen. Mancheim deutschen Renn-
    sport sagen längst: Es wird viel zu viel in
    den Erhalt des Status quo gesteckt und
    viel zu wenig in die Zukunft.
    Das werden wir ändern. Einerseits dürfen
    die Bahnen nicht kaputt gehen. Ausgaben,
    die das verhindern, sichern auch ein Stück
    Zukunft. Andererseits haben wir im Som-
    mer klar verabredet, dass alle verfügbaren
    Mittel ab jetzt wirklich nur noch in solche
    Projekte und Investitionen fließen, die den
    Rennsport fit machen für das nächste Jahr-
    zehnt. Da ist noch viel zu tun.


München– Wenn ein Marathonläufer in
diesen Tagen einen Marathon bestreitet,
hat der deutsche Ausdauerkönner Simon
Stützel neulich erzählt, bekommt er im An-
schluss oft zwei Fragen zu hören. Die erste
erforscht die Zeit, die zweite, welches
Schuhmodell zum Einsatz kam. Mit Wun-
derschuh, heißt es dann, oder ohne?
Der Marathon hat in den vergangenen
Jahren ja einen knackigen Konjunkturauf-
schwung erlebt, aber in den vergangenen
Monaten ist noch mal eine Welle an Zeiten
über die Szene hereingebrochen, die seit
Beginn der Aufzeichnungen als unerreicht
gelten dürfte. Der Kenianer Eliud Kipcho-
ge, zweifellos der beste Marathonläufer sei-
ner Generation, verbesserte den Weltre-
kord vor einem Jahr um mehr als eine Mi-
nute, auf 2:01:39 Stunden. Sein Lands-
mann Geoffrey Kamrowor steigerte Mitte
September die Halbmarathon-Weltbest-
marke auf 58:01 Minuten. Ihre Landsfrau
Brigid Kosgei zertrümmerte vor drei Wo-
chen sogar Paula Radcliffes 16 Jahre alten
Weltrekord (2:15:25) – in 2:14:04. Und auch
dahinter drangen viele Profis in neue Regi-
onen vor, wie eine Abenteuerexpedition in
unerforschtes Terrain. Kipchoge brachte


in Wien zuletzt gar die Zwei-Stunden-Mau-
er zum Einsturz, was aufgrund diverser Hil-
fen aber keinen Eingang in die Sportge-
schichtsbücher fand. Was alle Rekordbre-
cher einte, war das neue Schuhmodell

ihres Ausrüsters Nike. Das spende einen
derart riesigen Vorteil, fanden manche
Konkurrenten, dass sie den Leichtathletik-
Weltverband unlängst aufforderten, ein Er-
mittlungsverfahren einzuleiten.

Aber auch die Konkurrenz bastelt
längst fiebrig am Schuh, nicht nur im Stra-
ßenlauf. Der deutsche Triathlet Jan Frode-
no lief seinen Streckenrekord beim Hawaii-
Ironman zuletzt mit Hilfe eines Prototyps,
den sein Ausstatter Asics erst im nächsten
Jahr auf den Markt werfen will. Und wer
auch immer in den Tagen vor dem Mara-
thonklassiker in New York einvernommen
wurde, kam nicht an der Materialfrage vor-
bei. Mary Keitany, die Favoritin am Sonn-
tag bei den Frauen, sagte kühl, sie laufe in
„normalen“ Schuhen – dabei trainierte die
Kenianerin zuletzt ebenfalls in einem Pro-
totyp ihres Sponsors Adidas. Ihre Mitbe-
werberin Des Linden formulierte es so: „Es
sind aufregende Zeiten“, sagte die 36-Jähri-
ge, „aber sie sind auch sehr verwirrend.“
Das Geraune um die vermeintlichen
Wunderschuhe hob schon vor zwei Jahren
an, Kipchoge hatte damals in Monza noch
erfolglos die Zwei-Stunden-Barriere atta-
ckiert. Der Kenianer lief damals in einem
Vorgängermodell jener Ausbaustufe, die
er nun in Wien präsentierte: mit einer Soh-
le, die so dick wirkt, als sei der Läufer mit
Plateauabsätzen unterwegs, wobei der
Schuh nur 200 Gramm wiegen soll. Exper-

ten haben mittlerweile zwei Mechanismen
identifiziert: zum einen eine feste Zwi-
schensohle aus Kohlefaser im vorderen
Fußbereich, die verhindern soll, dass bei je-
dem Schritt Energie verdampft. Zum ande-
ren eine Art federndes Kunststoffkissen in
der Sohle, das Energie beim Aufkommen
speichert und beim Abrollen in die Bein-
muskulatur zurückfließen lässt.
Manche Athleten berichten, sie hätten
mit den neuen Modellen das Gefühl, als
würden sie bergablaufen; andere sprechen
von einem Katapulteffekt. Eine Studie im
JournalSports Medicinebefand vor einem
Jahr, dass Nikes neuer Schuh die Lauföko-
nomie um bis zu vier Prozent verbessere,
die Forscher hatten aber nur 24 „hochtrai-
nierte Läufer“ untersucht. DieNew York
Times wertete derweil Laufzeiten und
Schuhmodelle von 500 000 Marathon-
und Halbmarathonläufern aus, die ihre Da-
ten auf eine digitale Plattform hochgela-
den hatten. Auch sie kam zu dem Schluss,
dass man in Nikes Schuh bis zu vier Pro-
zent schneller läuft – das kann bei einem
Vier-Stunden-Marathon rund acht Minu-
ten ausmachen, im Profi-Segment bis zu
vier, es ist ein gewaltiger Wert. In der Mara-

thon-Elite entscheiden oft schon Sekun-
den über Siege, Millionenverträge und
Startplätze bei großen Meisterschaften.
Der Äthiopier Herpassa Negasa wurde un-
längst bekannt, als er beim Dubai-Mara-
thon im Januar nicht in den Schuhen sei-
nes Ausrüsters Adidas lief, sondern die Tre-
ter der vermeintlich besseren Konkurrenz
mit dem Logo seines Sponsors überpinsel-
te. Negasa, angereist mit einer Bestzeit von
2:09:14 Stunden, beendete das Rennen in
2:03:40. Und mit 40 000 Dollar Preisgeld.

Es ist keine neue Debatte, in die der Ma-
rathon hineingeschlittert ist, aber eine
wuchtige ist es schon. Der Athlet müsse
noch immer selbst laufen, der Fortschritt
läge halt in der DNA des Sports – so gingen
zuletzt viele Argumente in der Szene. Kriti-
ker wie der südafrikanische Sportwissen-
schaftler Ross Tucker gaben wiederum zu
bedenken, dass die jüngste Rekordwelle
sich vom handelsüblichen Fortschritt ab-

hebt: Man erlebe massive Leistungssprün-
ge, von denselben Athleten, binnen weni-
ger Jahre. Das erinnere an die Weltrekord-
flut im Schwimmen, die einsetzte, als neu-
artige Anzüge auf den Markt kamen (und
2010 wieder verboten wurden). Die Leicht-
athletik ist da noch nicht so weit; man habe
eine Expertengruppe eingerichtet, teilte
die IAAF zuletzt mit. Wann erste Ergebnis-
se zu erwarten sind, ist offen. Das Regle-
ment ist in der Sache jedenfalls hinreißend
vage. Eine neue Technologie müsse für alle
Athleten zugänglich sein und dürfe „kei-
nen unfairen Vorteil bieten“. Aha.
Die Ausrüster freuen sich derweil über
die kostenlose Werbung. Und die Athleten?
Sind tief verunsichert. Das große Thema
ist gerade weniger ihr Sport, etwa der Ver-
such des deutschen Rekordhalters Arne Ga-
bius, in New York die Olympia-Qualifikati-
on für Tokio 2020 zu schaffen. „Es ist frus-
trierend, wenn man sieht, wie viele Athle-
ten aus den Rekordlisten fallen, weil sie frü-
her keinen Zugang zu den Schuhen hat-
ten“, sagte die Amerikanerin Des Linden
und fügte an: „Marathon sollte ein mensch-
licher Wettstreit sein. Gerade ist es eine
Materialschlacht.“ johannes knuth

„Man muss auch den Mut zu
Ungewöhnlichem haben.
Warum nicht mal ein Rennen
Pferd gegen Radrennfahrer?“

„Wir erleben einen riesigen
Erfolgvon in Deutschland
gezüchteten Pferden. Es wäre
ein Irrsinn, das zu gefährden.“

Brigid Kosgei.
FOTO: QUINN HARRIS / AFP

„Bei manchen Namen kriege auch ich Gänsehaut“: Michael Vesper, Präsident des Direktoriums für
Vollblutzucht und Rennen (unten li., neben Dschingis Secret), über Paris-Sieger Waldgeist (oben links).
FOTOS: GALOPPFOTO / IMAGO, SANDRA SCHERNING / SORGE / IMAGO

„Ich fühle mich im Stall


längst angekommen“


Michael Vesper war grüner Minister und Vorstandschef des DOSB –
jetzt ist er Repräsentant des Galopprennsports. Wie führt man ein Milieu,
das in der Kaiserzeit wurzelt, in die digitale Zukunft? Ein Gespräch über
Gänsehaut auf der Rennbahn – und ein teures Missverständnis im Gesetz

Streit um den Schuh


Welchen Anteil hat ein neuartiges Laufmodell an der Rekordflut im Marathon? Vor dem Herbstklassiker in New York steckt die Ausdauerszene tief in einer Materialdebatte


Das Reglement ist da sehr vage:
Eine neue Technologie darf
„keinen unfairen Vorteil“ bieten

DEFGH Nr. 253, Samstag/Sonntag, 2./3. November 2019 HF2 SPORT 39

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