Süddeutsche Zeitung - 13.11.2019

(Ron) #1
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Um das Leben geht es in diesem weltbe-
rühmten Roman, um die Liebe und um
das Sterben. Aber ist das nicht immer so,
wenn es um Menschen geht? „Alexis
Sorbas“ von Nikos Kazantzakis, entstan-
den 1946 und von Michael Cacoyannis
1964 unnachahmlich mit Antony Quinn,
dem griechischsten aller Mexiko-Ameri-
kaner, verfilmt, spielt diese drei großen
Menschheitsthemen so elegant durch,
als ob er nur ein leichtes Märchen erzäh-
le, von Narren mit hochfliegenden Plä-
nen, Sehnsüchten und der ruhenden
Gelassenheit im Angesicht unausweichli-
cher Niederlagen.
Kazantzakis erzählt die Geschichte einer
Freundschaft zwischen Figuren, die, so
unterschiedlich sie auf Anhieb auch
scheinen mögen, doch nur gemeinsam
gedacht werden können: Zusammen
sind sie eins, der junge, gelangweilte,
aber auch von Skrupeln geplagte Intel-
lektuelle, der eine Kohlemine auf Kreta
betreiben will und zu seinem Glück auf
den anderen trifft, den Lebenskünstler
Sorbas, der etwas Besseres als den Tod
überall finden kann. Nicht der Homo
Faber, die planvoll rational tätige Figur
des Minenbetreibers, ist frei, so lautet
hier die Botschaft, sondern der, der das
Beste aus seinem alles in allem unwägba-
ren Leben macht. Dem gegenüber ge-
stellt sind die piefige Moral, der Zwang,
der Aberglaube, der mangelnde Respekt
vor jedem Anderen, der doch auch nur
sein Schicksal zu ertragen hat. Man
kann in „Alexis Sorbas“ Spuren von
Camus’ Existenzialismus entdecken,
man kann aber, nein, muss darin vor
allem das Märchen lieben.
Von ganz anderen Märchen berichtet
Jack London in seinem nun auch schon
über hundert Jahre alten Roman „König
Alkohol“, der im Original „John Barley-
corn“ heißt. Barleycorn, diese Figur des
heiligen Trinkers, verkörpert beides, den
Irrwitz eines beseelten Scheiterns wie
die Erleuchtung eines inspirierten Drauf-
gängers, der die Regeln und Beschrän-
kungen des irdischen Lebens überwun-
den zu haben meint. Für London liegt
denn auch mehr als Wahrheit im Alko-
hol, Barleycorn regiert und macht sein
Leben. Doch Barleycorn ist der König
der Ambivalenz, er ist klug und bescheu-
ert, man liebt und hasst ihn zugleich, er
macht das Leben arm wie reich. Nichts
macht Londons Haltung zu diesem trüge-
rischen Regenten in seinem autobiografi-
schen Roman deutlicher als die Episode
zur Abstimmung über das Frauenwahl-
recht in Kalifornien. Der Betrunkene ist
„dafür“, weil Frauen ein Alkoholverbot
durchsetzen werden. „‚Die Frauen,
Schwestern und Mütter, nur sie sind es,
die die Nägel in den Sarg König Alkohols
schlagen werden. Nie bin ich weniger
sein Freund, als wenn wir beisammensit-
zen und anscheinend die besten Freun-
de sind. Er ist der König der Lügner.
Keiner sagt die Wahrheit so offen wie er.
Er schenkt klare Gesichte und trübe
Träume. Er ist der Feind des Lebens und
der Lehrer der Weisheit jenseits der
Weisheit des Lebens.‘ So redete ich wei-
ter. Wie gesagt, ich befand mich in etwas
gehobener Stimmung.“ sz

Georges Bizets „Carmen“ ist als Oper beim
Publikum beliebt wie sonst nur noch Mo-
zarts „Zauberflöte“, beide Stücke stellen ih-
re Interpreten jedoch vor riesige Probleme.
Im Fall der „Carmen“ zählt dazu das spa-
nisch-folkloristische Ambiente, das bruch-
los bis zur klischeehaft heftigen Erotik
reicht, die sich, das nächste Spanienkli-
schee, mit dem Tod verbrüdert. Gern wird
die sexuell selbstbestimmte Titelheldin als
Männerfantasie par excellence qualifi-
ziert. Schon im Libretto wird Carmen nach-
gesagt, sie stelle ihre Freiheit über alles
und gehe immer nur Sechsmonatsaffären
ein. Dann sei der nächste dran.
Umso interessanter also, wenn die „Car-
men“ einmal von einer Opernregisseurin
inszeniert wird. Lydia Steier ist eine der we-
nigen und zudem sehr erfolgreichen Frau-
en in dieser noch immer fest in Männerhän-
den befindlichen Berufssparte. An der
Oper Köln, die derzeit wegen Sanierungsar-
beiten stadtfern im Staatenhaus der Messe
und somit auf der Köln gegenüberliegen-
den Rheinseite spielt, ist jetzt Steiers weib-
licher Blick auf die tödlich endende Causa
Carmen zu erleben.
Wüsste er nicht, ob da ein Mann oder ei-
ne Frau inszeniert hat, würde der unbefan-
gene Zuschauer wohl zuerst auf einen in

die Jahre gekommenen Adepten des abge-
lebten Regietheaters tippen. Steier hat sich
von Momme Hinrichs einen öden, zuneh-
mend mit Blut verschmierten Schlachthof
als Einheitsbühnenbild hinstellen lassen.
Die Frauen sind erst Metzgerinnen, dann
Tingeltangelprostituierte, Madonnen, Kar-
nevalsprinzessinnen. Für Geld sind sie alle
zu haben. Die Männer sind Soldaten, Krimi-
nelle, Machos, Halsabschneider, Killer. Al-
le sind sie sexsüchtig und umstandslos hin-
ter den Frauen her.
Um Liebe geht es schon bei Plotlieferant
Prosper Mérimée nicht, genauso wenig in
Bizets Oper. Stattdessen werden verschie-
denste Formen des Begehrens vorgeführt.
Das Begehren aber ist eine männliche Do-
mäne: das Triumphatorbegehren des Stier-
kämpfers, das Machobegehren des Leut-
nants, das Sabberbegehren des Alten. Car-
men aber, das wird in Steiers Version und
dank ihrer grandiosen Protagonistin Adria-
na Bastidas-Gamboa ganz klar, widersetzt
sich der Regel, dass nur die Männer die
Frauen so schamlos offen begehren dür-
fen. Carmens Verhalten ist ein eklatanter
Regelverstoß gegen den Geschlechter-
code. Sie hebelt aber auch einen der zentra-
len Sozialcodes aus, indem sie ihre eroti-
schen Gelüste über ihre beruflichen Pflich-

ten stellt. Zudem reagiert sie so gar nicht
auf die übliche Machoanmache, sie sucht
sich Ausnahmemänner. Der Torero, ihr
letzter Lover, macht sie als Kavalier an. Des-
sen Vorgänger, der keusch angepasst bra-
ve José, hat sie gar nicht erst angebaggert,
den musste sie unter Aufbietung aller
Tricks und Kräfte ins Bett zerren. Adriana
Bastidas-Gamboa dunkelt ihre dunkle
Stimme dabei noch zusätzlich ein, sie be-
treibt einen lasziven Striptease der Rhyth-
men, wird dominant in der Höhe, for-

dernd, ungeduldig, unwirsch. Und ge-
winnt den Widerstrebenden im letzten Mo-
ment. Es ist ein Sieg auf Zeit.
Diese Frau ist also ein Ärgernis. Nicht
nur zu Mérimées und Bizets Zeiten, sie ist
es auch heute. Aber muss sie deshalb ster-
ben? Bezeichnend, dass keiner der Machos
ihr den Tod bringt, sondern, so bei Méri-
mée und Bizet, der durch die Erotik aus der
Bahn geworfene José, weil der sich als einzi-
ger nicht dem Spiel des Begehrens und Ver-
lassens unterwirft, sondern gutbürgerlich
liebt und deshalb ewige Dauer für das
(möglichst) gegenseitige Gefühl will. Die

Zweifel daran, dass dieser José tatsächlich
Carmen aus enttäuschter Liebe ermorden
kann, sind alt und wohlbegründet. Calixto
Bieito hat in seiner klassischen, nach wie
vor an den verschiedensten Häusern nach-
gespielten Inszenierung, den Mord als Un-
fall gezeigt: Der tölpelhafte José stolpert
und ersticht Carmen aus Versehen. Lydia
Steier geht einen Schritt weiter und veran-
lasst Carmen zum Selbstmord. Erst
schlitzt sie sich den Mund auf, dann den
Bauch. Warum?
Dieser Freitod ist überraschend, nichts
scheint darauf hinzudeuten. Doch es gibt
zumindest Indizien, die den Selbstmord
plausibel machen. Diese Carmen ist, genau-
so wie José, eine Außenseiterin. Sie rebel-
liert gegen die gängigen Regeln. Sie wird
aber vom Establishment nicht ernst ge-
nommen und auch nicht als Gefahr begrif-
fen. Sie ist keine Frauenrechtlerin, kämpft
nicht einmal selbstbestimmt überlegt für
bessere Lebensbedingungen. Sie ist ein-
fach nur eine Unangepasste, ein verzoge-
nes Kind, eine Sklavin ihrer eigenen Lau-
nen und Lüste. Und sie weiß darum. Sie
empfindet sich als störendes Element, das
zum Schweigen gebracht werden muss.
Darauf deutet ihre immer wieder formu-
lierte Todessehnsucht hin.

Carmen wird zudem, so lassen sich die
zwischen den Akten in einer surrealen
Stierkampfarena spielenden Traumse-
quenzen deuten, von Albträumen gequält,
in der sie als Stier, als Opfer, fungiert. Das
Vorbild ist Picassos „Minotauromaquía“,
die eine ohnmächtige, nackte, auf ein
Pferd gefesselte Frau zeigt, die von einem
Minotaurus, einem Stiermann, attackiert
wird: die Feier des Liebestodes. Dieser blu-
tige Albtraum ist in Köln ein Wunsch-
traum, den ihr niemand erfüllen will. Car-
men darf bei Lydia Steier nicht das Opfer
sein, das sie gerne wäre. Niemand wird sie
zu Tode lieben. Selbst der Torero nicht, mit
dem sie sich zuletzt eingelassen hat.
Der hat schon zuvor die höfischen, so
ganz und gar nicht tödlichen Regeln seines
Begehrens formuliert. So ist der ungelenke
José der einzige, der Carmens Liebestodes-
sehnsucht erfüllen könnte. Doch selbst da-
zu ist der Mann zu ungelenk und versagt
Carmen ihren dunkelsten Wunsch. Also
muss sie zuletzt selber Hand an sich legen.
Claude Schnitzler dirigiert dazu mit leich-
ter Eleganz und einem Faible für Farben,
er meidet alle hochdramatischen Entladun-
gen und liefert damit die lockende äußere
Hülle für Carmens blutig erotische Ver-
zweiflung. reinhard j. brembeck

von julian dörr

D


er rechtsextreme Terrorist, der in
der Synagoge in Halle ein Massaker
unter jüdischen Gläubigen anrich-
ten wollte, eine Passantin tötete und in ei-
nem Döner-Imbiss eine weitere Person,
streamte seine Tat live im Internet. Zu Be-
ginn des Videos nannte er sich allerdings
nicht nur Rassist und Antisemit, sondern
auch Antifeminist. Der Feminismus sei da-
bei Schuld an der sinkenden Geburtenrate
im Westen, die wiederum die Ursache für
eine „Massenimmigration“ sei.
Auch in dieser Hinsicht ist der Terrorist
von Halle kein Einzelfall. Anders Breivik,
der im Juli 2011 auf der norwegischen Insel
Utøya 69 Menschen tötete, schrieb damals
in seinem vor der Tat verfassten Manifest,
dass „Feministinnen“ für die „Zerstörung
der norwegischen Gesellschaft“ verant-
wortlich seien, weil sie, so Breivik, „politi-
sche Korrektheit und muslimische Immi-
gration befürworten“. Das „Schicksal der
europäischen Zivilisation“, schrieb Breivik
weiter, hänge davon ab, „wie standhaft eu-
ropäische Männer dem politisch korrekten
Feminismus widerstehen“.
Selbst wenn sich in den vergangenen
Jahren die Fälle häufen, ist die Allianz reak-
tionärer Ideologien mit explizitem Antife-
minismus aber kein neues Phänomen. Im
Gegenteil. Seine Wurzeln reichen zurück
bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts. Im
Jahr 1902 veröffentlichte die deutsche
Frauenrechtspionierin Hedwig Dohm eine
Aufsatzsammlung mit dem Titel „Die Anti-
feministen“, in dem der Begriff wohl zum
ersten Mal einer breiteren Öffentlichkeit
präsentiert wurde. Dohm schrieb: „Die
Frauenfrage in der Gegenwart ist eine aku-
te geworden. Auf der einen Seite werden
die Ansprüche immer radikaler, auf der an-

deren die Abwehr immer energischer.“
Auch damals schon war ein vermeintlicher
Geburtenrückgang als Emanzipationsfol-
ge (neben dem Wahlrecht für Frauen) die
größte Sorge der Antifeministen. Weshalb
sich 1912 der „Deutsche Bund zur Bekämp-
fung der Frauenemanzipation“ gründete.
Ein Zusammenschluss, in dem antifeminis-
tische Ideen auf Deutschnationalismus,
Rassismus und Antisemitismus trafen.
So wie es nicht den einen Feminismus
gibt, lässt sich natürlich auch der Antifemi-
nismus nicht einfach auf den einen Punkt
bringen. Die Sozialwissenschaftlerin Her-
rad Schenk fasst unter dem Begriff Antife-
minismus alle Einstellungen und Verhal-
tensweisen zusammen, die sich gegen die
Frauenbewegung, den Feminismus und de-
ren Errungenschaften richten. Antifemi-

nismus ist so gesehen eine anti-emanzipa-
torische Ideologie, die sich zum Ziel macht,
die gesellschaftliche Entwicklung im Hin-
blick auf die Gleichberechtigung der Ge-
schlechter, den Abbau von Diskriminierun-
gen und die Rechte von Minderheiten wie
der LGBTQI-Community zu stören oder so-
gar zurückzudrehen.
Eng verknüpft ist der Antifeminismus
mit grundsätzlicher Frauenfeindlichkeit.
Misogynie ist eine der Grundlagen des An-
tifeminismus. Frauenfeindlichkeit findet
sich auch immer noch im liberalen gesell-
schaftlichen Mainstream, an den reaktio-
nären Rändern ist er ungleich zentraler. Be-
sonders gut lässt sich das Zusammenspiel
von Antifeminismus und Misogynie in der
Szene der Pick-Up-Artists beobachten,

selbsternannte „Verführungskünstler“,
die versuchen, Frauen mit Hilfe psychologi-
scher Manipulation und sonstigen Tricks
und Lügen herumzukriegen. Zwar formu-
lieren Pick-Up-Artists ihren Antifeminis-
mus selten explizit, ihr Ansatz ist dennoch
antifeministisch: In ihrem Weltbild gibt es
eine „natürliche Ordnung“, eine biologi-
sche Hierarchie, die Frauen als „Beute“ be-
trachtet und Männern einen Anspruch dar-
auf zuspricht.
Anspruchsdenken dieser Art wurde in
jüngster Zeit von der sogenannten Incel-
Bewegung extrem zugespitzt. „Incel“ steht
für „Involuntary Celibate“, was übersetzt
so viel wie „unfreiwilliger Zölibatärer“
heißt, also einen Mann bezeichnet, der –
aus seiner Sich – unverschuldet ohne sexu-
elle Kontakte lebt. Die Incel-Bewegung ist
Teil der „Manosphere“. Manosphere ist der
Sammelbegriff für einen losen Zusammen-
schluss antifeministischer Blogs, Foren
und Webseiten. Zur Manosphere zählen ne-
ben Pick-Up-Artists und Incels auch ver-
schiedene Männerrechtsbewegungen.
Im Mai 2014 erschoss der damals 22-jäh-
rige Elliot Rodger sechs Menschen in Isla
Vista, in der Nähe des Campus der Univers-
ity of California in Santa Barbara in den
USA, bevor er sich selbst tötete. Vor seiner
Tat schrieb er in einem Forum: „Eines Ta-
ges werden die Incels ihre wahre Stärke be-
greifen und das unterdrückerische feminis-
tische System stürzen.“ In einem „Mani-
fest“ sprach er vom „Krieg gegen Frauen“,
die er dafür bestrafen müsse, dass sie ihm
„den Sex entzogen“ hätten, und malte sich
eine Gesellschaft aus, in der Frauen in Kon-
zentrationslager gesperrt würden.
Die Vorstellung vom Feminismus als ein-
heitliche und mächtige Organisation, die
die gesellschaftlichen Fäden zieht und
Männer zu Verlierern macht, ist eine klassi-

sche antifeministische Erzählung, die an-
schlussfähig ist an rechtsextreme, rassisti-
sche und antisemitische Gedankengebäu-
de. In der Incel-Bewegung zeigt sich das In-
einanderfließen der Ideologien besonders
deutlich an den Formulierungen. Sich
selbst bezeichnen Incels etwa als „beta ma-
les“, als Männer zweiter Klasse. Männer
und Frauen, die ein erfülltes Sexualleben
führen, sind „Chads“ und „Stacys“. Für
Schwarze oder Männer mit einem asiati-
schen Hintergrund, die den „beta males“
die Frauen „wegschnappen“, gibt es eigene
Begrifflichkeiten: Sie werden als „Tyro-
nes“ oder „Changs“ bezeichnet.

Der amerikanische Soziologe Michael
Kimmel spricht in seinem Buch über Männ-
lichkeit und Extremismus in diesem Zu-
sammenhang von „aggrieved entitle-
ment“, von gekränkter Anspruchshaltung.
Gemeint ist damit das Gefühl, einer Sache
beraubt worden zu sein, die einem ver-
meintlich zusteht, was Kimmels Ansicht
nach wiederum den Weg ebnet zu Gewalt-
bereitschaft und Extremismus. Tatsäch-
lich überschneide sich die Manosphere
rund um Incels und Pick-Up-Artists mit
der Alt-Right-Bewegung. Im deutschspra-
chigen Raum lassen sich Verbindungen
zwischen der Pick-Up-Artist-Szene und
der Identitären Bewegung beobachten.
Es geht aber noch sinistrer: Die neuen
Rechten instrumentalisieren feministi-
sche Narrative für ihre Forderungen zur Re-
form der Einwanderungspolitik. Rechte
„Frauenmärsche“ und Gruppen wie die
der Identitären Bewegung zugehörigen

„Identitäre Mädels und Frauen“ themati-
sieren zwar Gewalt gegen Frauen, es geht
ihnen dabei jedoch ausschließlich um die
Gewalt von nicht-weißen Männern an wei-
ßen Frauen. Ganz unverstellt zeigt sich der
Antifeminismus der Neuen Rechten bei
den von ihnen propagierten traditionellen
und biologisierten Geschlechterrollen.
Auch die in den Siebzigern entstandene
Männerrechtsbewegung kultiviert einen
Maskulinismus, der sich über die Ableh-
nung aller Forderungen des Feminismus
definiert. Auch hier steht das Narrativ vom
Mann als Opfer des Feminismus im Mittel-
punkt. Und auch hier dient längst das Inter-
net als zentraler Ort der Vernetzung und
Kommunikation.
Auf der Startseite einer der prominen-
testen Männerrechtsseiten im Netz ist ein
Autobahnschild zu sehen: geradeaus geht
es in den Feminismus, mit Warnschild und
Sackgassensymbol, Rechtsabbiegen führt
hingegen in die große Freiheit. Maskulins-
ten setzen sich für die Rechte von Vätern
ein (die in ihren Augen im Grunde gar kei-
ne Rechte besitzen), sie leugnen die Exis-
tenz eines Gender Pay Gaps, eines ge-
schlechtsabhängigen Lohngefälles, und
sie diffamieren andere Männer, die sich
für feministische Forderungen einsetzen,
als „lila Pudel“.
Hier offenbart sich eine der größten Ge-
fahren des Antifeminismus: Mit seiner Kri-
tik an sich wandelnden Geschlechterrol-
len, seinem Beharren auf patriarchalen
Strukturen sowie dem Mythos vom Mann
als Verlierer der Emanzipation der Frauen
hat der Antifeminismus Sympathisanten
auch in der konservativen, bürgerlichen
Mitte der Gesellschaft.
Dort macht er dann eben jene rechten
Gedanken möglich, mit denen er seit jeher
eng verbunden ist.

Diese Frau ist ein Ärgernis


Lydia Steier inszeniert in Köln Georgs Bizets Oper „Carmen“. Aber warum muss die erotische Titelheldin Selbstmord begehen?


SOULMATES


Sich selbst bezeichnen die
Incels als „beta males“, als
Männer zweiter Klasse

Die Welt ist ein Schlachthof und animalisch das Begehren zwischen den Geschlechtern: Adriana Bastidas-Gamboa (Mitte) ist als Carmen eine unangepasste Soldatin der Lüste. FOTO: HANS-JÖRG MICHEL / OPER KÖLN

Der Mythos vom Verlierer


Woher kommt die Allianz von reaktionären Ideologien und explizitem Antifeminismus? Ein Streifzug


durch ein paar sinistre Soziotope, von den Pick-Up-Artists bis zur Neuen Rechten


Leben, Liebe, Tod


Märchenhaftes in der SZ-Edition:
Kazantzakis und London

Der Kritiker Ted Gioia schreibt in Amerika
Buch für Buch an einer alternativen Musik-
geschichte. Neulich war er im Podcast des
Wirtschaftswissenschaftlers Tyler Cowen
zu Gast, der ihn fragte, ob Musik noch als
Trägermedium der Ideengeschichte dient:

„Musik war immer eine Art Cloud-Spei-
cher für Gesellschaften, die keine Halblei-
ter oder Raumschiffe haben. Wenn man in
einer traditionellen Gesellschaft den Histo-
riker sucht, ist es in der Regel ein Sänger.
Heutzutage verlassen wir uns darauf, dass
Cloud Storage der Bewahrer dieser Dinge
ist. Und ich denke, es gibt eine seltsame Ver-
änderung. Wir verlassen uns auf die Cloud,
um unsere Musik zu erhalten, aber auch,
um unsere Kultur zu bewahren. Das ist po-
tenziell gefährlich, denn es könnte dazu
kommen, dass sich unser musikalisches
Leben immer weiter von unserem tatsächli-
chen sozialen Leben in unserer größeren
Gemeinschaft entfernt. Zum Beispiel lese
ich fast jede Woche, dass ein Musiker ir-
gendwo auf der Welt Schwierigkeiten mit
Politikern bekommt. Putin versucht, eine
Gruppe zu verbieten. In Saudi-Arabien
wird jemand für ein Lied ins Gefängnis ge-
worfen. Weil die Mächtigen wissen, dass
Musik Ideen vermittelt. Und Kraft. Das ist
nicht nur passive Unterhaltung.“ sz

Normalerweise wird Carmen
vom tölpelhaften José getötet

Frauenfeindlichkeit ist
nur eine der Grundlagen
des Antifeminismus

(^12) FEUILLETON Mittwoch, 13. November 2019, Nr. 262 DEFGH
GEHÖRT, GELESEN,
ZITIERT

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